Wer ist nur diese Rosalie Blum? Diese Frage treibt Vincent, den schüchternen Friseur und Modellbauer, seit Tagen um. So beginnt er, der geheimnisvollen Unbekannten unbemerkt auf ihren Wegen durch die Stadt und sogar bis zu ihrem Haus zu folgen. Währenddessen bemerkt er jedoch nicht, dass er selbst unter ständiger Beobachtung steht. Die junge französische Autorin Camille Jourdy überzeugt in ihrem charmanten und clever konstruierten Buch vor allem durch ihre schrulligen Figuren, deren Leben durch die von Vincent in Gang gesetzten Ereignisse gehörig aus den Fugen gerät. Ihre stimmigen Aquarellbilder verleihen der Geschichte eine beschwingte Leichtigkeit.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.2012Schenkt uns ein Verbrechen!
Camille Jourdys Graphic Novel erzählt von drei Außenseitern in der französischen Provinz
Der Blick bleibt auf der Straße oder in der S-Bahn an einem Gesicht hängen, ohne dass man sagen könnte, warum man sich ausgerechnet bei diesem fragt, was für ein Leben sich dahinter verbirgt. Mit den Augen tastet man Statur und Kleidung nach Indizien ab, die ein Bild zeichnen könnten von diesem unbekannten Leben, und wenn das Gesicht irgendwann zu entschwinden droht, weil man aus der S-Bahn aussteigen muss oder der Beobachtete von der Straße in ein Geschäft abbiegt, ist man einen Wimpernschlag lang versucht, ihm zu folgen. Das tut man natürlich nicht. Wo kämen wir hin, wenn jeder jedem folgte? Nicht vorstellen möchte man sich die Verlegenheit, die entstünde, wenn der Verfolgte sich umdreht und sein Verfolgtwerden bemerkt. Also belässt man den Gedanken im Konjunktiv. Außer man heißt Vincent Machot, ist 33 Jahre alt und führt in einem Örtchen in der französischen Provinz einen Friseursalon.
Vincent ist eine von drei Hauptfiguren in der nun auf Deutsch vorliegenden Graphic Novel "Rosalie Blum" von Camille Jourdy, in der alle Leute sich wunderbarerweise benehmen, als hofften sie darauf, in einen Kriminalroman von Simenon geraten zu sein. Jourdys Figuren sind keine Helden, das ist das Bezaubernde an ihnen, und bis eben war ihr Leben noch eintönig und trist. Dann aber sieht Vincent in einem Laden die Verkäuferin Rosalie Blum, Mitte vierzig, dicke Brillengläser, Kettenraucherin, und ohne dass er sagen könnte, unter welchen Umständen er ihr schon einmal begegnet ist, kommt sie ihm auf unheimliche Art bekannt vor. Vincent will das Rätsel lösen und folgt ihr, jeden Tag: Er schleicht um ihr Haus, folgt ihren Spaziergängen, sitzt hinter ihr im Kino und in ihrer Lieblingsbar und glaubt, sie bemerke ihn nicht.
Doch Rosalie Blum hat längst ihre Nichte Aude auf den Verfolger angesetzt, um herausfinden, was den seltsamen jungen Mann antreibt. Aus dem Verfolger wird ein Verfolgter, und bald herrscht Gleichstand, was man über die Gewohnheiten und Marotten des anderen weiß. Vincent interessiert bald nicht mehr, wo und wann er Rosalie Blum zum ersten Mal begegnet ist. Er möchte herausfinden, welches Schicksal sich hinter ihrer Einsamkeit verbirgt.
Rosalie Blum ist eine Meisterin der stimmungsvollen Tristesse, und die Gesten, mit der die Zeichnerin Camille Jourdy diesen Seelenzustand immer wieder in Szene setzt, erinnern an Filme der französischen Nouvelle Vague: Allein und in sich gekehrt sieht man Rosalie Blum mehrmals an einem Tisch in einer Bar sitzen, das Kinn in die Hand gestützt, zwischen ihren Fingern eine fast heruntergebrannte Zigarette. Ein halb ausgetrunkenes Glas Rotwein oder ein Whisky stehen vor ihr, in dem sich ihr Blick verliert, und wenn Rosalie Blum dann aufsteht, ist sie nicht mehr ganz sicher auf den Beinen, doch es ist ihr längst egal, ob das irgendjemandem auffällt.
Sie hat einen Punkt in ihrem Leben erreicht, an dem der Alkohol droht mehr zu werden als nur eine angenehme Begleiterscheinung. Diese Stimmung mit Mitteln des Films zu erzeugen, ist eine Meisterleistung. Sie mit Tusche, Aquarell und Pinseln zu erzeugen, ist ein kleines Wunder. Camille Jourdy, die es vollbracht hat, sitzt in einem Café in Berlin-Kreuzberg, und wie man die zierliche Französin da so sitzen sieht, mit ihren langen braunen Haaren und dem fein geschnittenen Gesicht, fühlt man sich sofort an Aude erinnert, Rosalie Blums charmante Nichte und gescheiterte Studentin, die ihre Tage vor dem Fernseher in ihrer zugemüllten WG verbringt, bis der Beschattungsauftrag ihrer Tante sie aus der Lethargie reißt. Auf die äußerliche Ähnlichkeit angesprochen, antwortet Jourdy, dass sie das nicht zum ersten Mal höre, und ja, ein wenig Aude stecke wohl tatsächlich in ihr, doch nicht nur, was Statur und Frisur angeht: "Wissen Sie, ich komme aus einer Familie, in der das Nichtstun fast eine Kunstform ist. Und diese Art, wie Aude sich als Rebellin gibt, in Wirklichkeit aber eine kleine Spießerin ist, das kenne ich manchmal auch von mir."
Vier Jahre lang arbeitete die 33-Jährige an "Rosalie Blum". Der Comic, der in Frankreich als Trilogie erschienen ist und den Reprodukt nun als Gesamtausgabe aufgelegt hat, ging aus ihrer Diplomarbeit an der École des Arts Décoratifs in Straßburg hervor. 2010 wurde er auf dem Comicfestival in Angoulême ausgezeichnet. Heute lebt und arbeitet Jourdy in Lyon, für "Rosalie Blum" stand aber ihr Heimatstädtchen Dole im Jura Modell. Jourdy sagt, sie habe immer ein kleines Skizzenheftchen bei sich, um Ideen festzuhalten. Das können Gesichter sein, auch Orte oder Gegenstände, die ihr außergewöhnlich erscheinen. Und daher ist die Welt von "Rosalie Blum" ein Mosaik von Menschen, Dingen und Orten aus dem Leben der Zeichnerin, die sie für ihre Geschichte zu einem neuen Bild zusammengesetzt hat. Die Zuckerdose von Rosalie Blum etwa sieht aus wie jene von Jourdys Großmutter, und das chaotische Zimmer von Aude ist ihrem eigenen aus Studentenzeiten nachempfunden. Einen Friseursalon, der beinahe exakt so aussieht wie jener von Vincent, betreibt im wirklichen Leben der Vater eines Ex-Freundes in Dole. Ein anderer Ex-Freund ist unter den Gästen der Kostümparty zu sehen, zu der Aude und Rosalie Blum den ahnungslosen Vincent locken. Auf ihr werden die einzelnen Erzählstränge und Personen zusammengeführt.
Wer von "Rosalie Blum" erwartet, was man gemeinhin von Graphic Novels erwartet, nämlich eine Geschichte mit politischem oder gesellschaftskritischem Anspruch, den wird die Lektüre nicht glücklich machen. Allen anderen steht die Erfahrung bevor, was eine Graphic Novel auch sein kann, wenn man sie nur lässt: ein Roman in Bildern.
KAREN KRÜGER
Camille Jourdy: "Rosalie Blum". Übersetzt von Claudia Sandberg. Verlag Reprodukt, 364 Seiten, 29,90 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Camille Jourdys Graphic Novel erzählt von drei Außenseitern in der französischen Provinz
Der Blick bleibt auf der Straße oder in der S-Bahn an einem Gesicht hängen, ohne dass man sagen könnte, warum man sich ausgerechnet bei diesem fragt, was für ein Leben sich dahinter verbirgt. Mit den Augen tastet man Statur und Kleidung nach Indizien ab, die ein Bild zeichnen könnten von diesem unbekannten Leben, und wenn das Gesicht irgendwann zu entschwinden droht, weil man aus der S-Bahn aussteigen muss oder der Beobachtete von der Straße in ein Geschäft abbiegt, ist man einen Wimpernschlag lang versucht, ihm zu folgen. Das tut man natürlich nicht. Wo kämen wir hin, wenn jeder jedem folgte? Nicht vorstellen möchte man sich die Verlegenheit, die entstünde, wenn der Verfolgte sich umdreht und sein Verfolgtwerden bemerkt. Also belässt man den Gedanken im Konjunktiv. Außer man heißt Vincent Machot, ist 33 Jahre alt und führt in einem Örtchen in der französischen Provinz einen Friseursalon.
Vincent ist eine von drei Hauptfiguren in der nun auf Deutsch vorliegenden Graphic Novel "Rosalie Blum" von Camille Jourdy, in der alle Leute sich wunderbarerweise benehmen, als hofften sie darauf, in einen Kriminalroman von Simenon geraten zu sein. Jourdys Figuren sind keine Helden, das ist das Bezaubernde an ihnen, und bis eben war ihr Leben noch eintönig und trist. Dann aber sieht Vincent in einem Laden die Verkäuferin Rosalie Blum, Mitte vierzig, dicke Brillengläser, Kettenraucherin, und ohne dass er sagen könnte, unter welchen Umständen er ihr schon einmal begegnet ist, kommt sie ihm auf unheimliche Art bekannt vor. Vincent will das Rätsel lösen und folgt ihr, jeden Tag: Er schleicht um ihr Haus, folgt ihren Spaziergängen, sitzt hinter ihr im Kino und in ihrer Lieblingsbar und glaubt, sie bemerke ihn nicht.
Doch Rosalie Blum hat längst ihre Nichte Aude auf den Verfolger angesetzt, um herausfinden, was den seltsamen jungen Mann antreibt. Aus dem Verfolger wird ein Verfolgter, und bald herrscht Gleichstand, was man über die Gewohnheiten und Marotten des anderen weiß. Vincent interessiert bald nicht mehr, wo und wann er Rosalie Blum zum ersten Mal begegnet ist. Er möchte herausfinden, welches Schicksal sich hinter ihrer Einsamkeit verbirgt.
Rosalie Blum ist eine Meisterin der stimmungsvollen Tristesse, und die Gesten, mit der die Zeichnerin Camille Jourdy diesen Seelenzustand immer wieder in Szene setzt, erinnern an Filme der französischen Nouvelle Vague: Allein und in sich gekehrt sieht man Rosalie Blum mehrmals an einem Tisch in einer Bar sitzen, das Kinn in die Hand gestützt, zwischen ihren Fingern eine fast heruntergebrannte Zigarette. Ein halb ausgetrunkenes Glas Rotwein oder ein Whisky stehen vor ihr, in dem sich ihr Blick verliert, und wenn Rosalie Blum dann aufsteht, ist sie nicht mehr ganz sicher auf den Beinen, doch es ist ihr längst egal, ob das irgendjemandem auffällt.
Sie hat einen Punkt in ihrem Leben erreicht, an dem der Alkohol droht mehr zu werden als nur eine angenehme Begleiterscheinung. Diese Stimmung mit Mitteln des Films zu erzeugen, ist eine Meisterleistung. Sie mit Tusche, Aquarell und Pinseln zu erzeugen, ist ein kleines Wunder. Camille Jourdy, die es vollbracht hat, sitzt in einem Café in Berlin-Kreuzberg, und wie man die zierliche Französin da so sitzen sieht, mit ihren langen braunen Haaren und dem fein geschnittenen Gesicht, fühlt man sich sofort an Aude erinnert, Rosalie Blums charmante Nichte und gescheiterte Studentin, die ihre Tage vor dem Fernseher in ihrer zugemüllten WG verbringt, bis der Beschattungsauftrag ihrer Tante sie aus der Lethargie reißt. Auf die äußerliche Ähnlichkeit angesprochen, antwortet Jourdy, dass sie das nicht zum ersten Mal höre, und ja, ein wenig Aude stecke wohl tatsächlich in ihr, doch nicht nur, was Statur und Frisur angeht: "Wissen Sie, ich komme aus einer Familie, in der das Nichtstun fast eine Kunstform ist. Und diese Art, wie Aude sich als Rebellin gibt, in Wirklichkeit aber eine kleine Spießerin ist, das kenne ich manchmal auch von mir."
Vier Jahre lang arbeitete die 33-Jährige an "Rosalie Blum". Der Comic, der in Frankreich als Trilogie erschienen ist und den Reprodukt nun als Gesamtausgabe aufgelegt hat, ging aus ihrer Diplomarbeit an der École des Arts Décoratifs in Straßburg hervor. 2010 wurde er auf dem Comicfestival in Angoulême ausgezeichnet. Heute lebt und arbeitet Jourdy in Lyon, für "Rosalie Blum" stand aber ihr Heimatstädtchen Dole im Jura Modell. Jourdy sagt, sie habe immer ein kleines Skizzenheftchen bei sich, um Ideen festzuhalten. Das können Gesichter sein, auch Orte oder Gegenstände, die ihr außergewöhnlich erscheinen. Und daher ist die Welt von "Rosalie Blum" ein Mosaik von Menschen, Dingen und Orten aus dem Leben der Zeichnerin, die sie für ihre Geschichte zu einem neuen Bild zusammengesetzt hat. Die Zuckerdose von Rosalie Blum etwa sieht aus wie jene von Jourdys Großmutter, und das chaotische Zimmer von Aude ist ihrem eigenen aus Studentenzeiten nachempfunden. Einen Friseursalon, der beinahe exakt so aussieht wie jener von Vincent, betreibt im wirklichen Leben der Vater eines Ex-Freundes in Dole. Ein anderer Ex-Freund ist unter den Gästen der Kostümparty zu sehen, zu der Aude und Rosalie Blum den ahnungslosen Vincent locken. Auf ihr werden die einzelnen Erzählstränge und Personen zusammengeführt.
Wer von "Rosalie Blum" erwartet, was man gemeinhin von Graphic Novels erwartet, nämlich eine Geschichte mit politischem oder gesellschaftskritischem Anspruch, den wird die Lektüre nicht glücklich machen. Allen anderen steht die Erfahrung bevor, was eine Graphic Novel auch sein kann, wenn man sie nur lässt: ein Roman in Bildern.
KAREN KRÜGER
Camille Jourdy: "Rosalie Blum". Übersetzt von Claudia Sandberg. Verlag Reprodukt, 364 Seiten, 29,90 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Anja Perkuhn scheint sich gut unterhalten zu haben mit Camille Jourdys Comic-Debüt über zwei einsame, etwas schrullige Menschen, die einander umkreisen. Jourdys feine Zeichnungen bilden für sie sowohl die Einsamkeit der Figuren als auch die dahinter lauernden Abgründe ganz gut ab, auch, wenn die Autorin mitunter seitenlang keinen Text liefert und alles über Mimik und Gestik transportiert. Laut Perkuhn hat die Sprache bei diesen melancholischen Bildern manchmal tatsächlich nichts hinzuzufügen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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