Rosenhain versammelt fünf wunderbare Geschichten, jede für sich ein kleines Kunstwerk in Komposition und Themenführung. Auf den ersten Blick sind es Liebesgeschichten, über die Blindheit unserer Gefühle den Partnern gegenüber. Darüber hinaus ist jede dieser wunderbaren Geschichten einem der Sinne gewidmet: In Rot geht es um das Schmecken, in Kapitelle um das Sehen, dann folgen das Riechen, Fühlen und Hören. Die sechste Erzählung beschreibt schließlich das Denken. Alle fünf vorherigen Geschichten fallen hier in eins, so wie idealiter unsere fünf Sinne im Denken gebündelt werden. Die Suche nach persönlicher Wahrheit, nach dem innersten Sinn, nach der Seele vielleicht, ist hier für den Leser der letzten Geschichte intensiv, geradezu körperlich spürbar.
Claire Beyer ist mit ihrem neuen Buch etwas Meisterhaftes gelungen, und der Leser geht mit geschärften Sinnen aus dieser berührenden Lektüre hervor. Die Menschen sitzen in einem zweifachen Käfig, so scheint es Claire Beyer sagen zu wollen, doch beim Lesen ihres neuen Buchs schieben sich auf wunderbare Weise die unsichtbaren Stäbe beiseite und irgendetwas berührt das Herz. Es ist die Schönheit der Sprache, die Raffinesse der Plots, vor allem aber die Liebe, die sich aus einem großen Mitgefühl für die Menschen nährt.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Claire Beyer ist mit ihrem neuen Buch etwas Meisterhaftes gelungen, und der Leser geht mit geschärften Sinnen aus dieser berührenden Lektüre hervor. Die Menschen sitzen in einem zweifachen Käfig, so scheint es Claire Beyer sagen zu wollen, doch beim Lesen ihres neuen Buchs schieben sich auf wunderbare Weise die unsichtbaren Stäbe beiseite und irgendetwas berührt das Herz. Es ist die Schönheit der Sprache, die Raffinesse der Plots, vor allem aber die Liebe, die sich aus einem großen Mitgefühl für die Menschen nährt.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.12.2003An ihrem Dufte sollst du sie erkennen
Sinnliche Legenden von lieblosen Menschen: Claire Beyers Erzählungsband "Rosenhain" / Von Hubert Spiegel
Sechs Geschichten von fünf Sinnen, so lautet der Untertitel dieses Buches. Müßten es nicht fünf Geschichten über fünf Sinne sein? Ist die Autorin womöglich schlicht übers Ziel hinausgeschossen und hat eine Erzählung mehr geschrieben, als sinnvoll und nötig gewesen wäre?
Nein, zu jedem Sinn eine Geschichte zu erfinden, so einfach hat es sich Claire Beyer nicht gemacht. Vermutlich, weil wir synästhetische Wesen sind, die stets mehr als einen ihrer Sinne gebrauchen. Die sechste dieser erstaunlichen Geschichten jedoch steht für einen Sinn, der keinen Namen hat. Es ist jener Sinn, der dem Asymmetrischen den gleichen Rang zuweist wie dem Symmetrischen, der die Schönheit des Häßlichen erkennt, der das Laute im Leisen hört und das Leise im Lauten, der das Grelle in der gedeckten Farbe aufblitzen sieht und der das Salzige im Süßen auf der Zunge schmeckt. Es ist der Sinn für die Gleichzeitigkeit des Gegensätzlichen und des Inkommensurablen. Und womöglich ist es auch der wichtigste Sinn all jener, von denen wir meinen, sie hätten ihre fünf Sinne nicht mehr beisammen.
Eine ehemalige Krankenschwester erzählt eine Geschichte aus ihrem Leben, die davon handelt, daß sie auf einer Insel einen Taucher trifft, der ihr eine Geschichte erzählt. Darin geht es um seine Begegnung mit einer Taucherin, der wiederum eine Geschichte erzählt wurde, die von einem jungen Mann berichtet, der unsterblich in ein schönes Mädchen verliebt war. Diese letzte Geschichte ist eine Legende, an die sich die alten Männer im Wirtshaus eines Balkandorfes gern erinnern: Der Verliebte ist ein Schweinehirt, seine Angebetete die hochmütige Tochter des reichsten Bauern der Gegend. Am Ende versinkt das Dorf in den Fluten eines reißenden Flusses, alle Einwohner entkommen, nur das ungleiche Paar wird im Tod in den Wogen vereint.
Die Geschichte in der Geschichte - das ist das Konstruktionsprinzip dieses Erzählungsbandes, der erst in seinem letzten Drittel seine Struktur ganz preisgibt: Es ist ein Zyklus, in dem alle Figuren mit großer Kunstfertigkeit miteinander verbunden sind. Vermag schon jede einzelne dieser sechs Geschichten zu überzeugen und mitunter sogar zu fesseln, so erschließt sich die ganze Raffinesse Claire Beyers erst, wenn man den ganzen Band in den Blick nimmt.
Wenn Nada, die ehemalige Krankenschwester, sich mit einigen Sätzen an ihren geschiedenen Ehemann erinnert, zu dem jeder Kontakt abgebrochen ist, sehen wir einen verschrobenen reichen Erben vor uns, einen Zwangsneurotiker und sanften Diktator, der seine Zeit damit verbringt, den Ameisen im Haus nachzustellen. Ein skurriles Detail in einer Geschichte, in der es um ganz andere Figuren geht, mehr nicht, so möchte man meinen.
Um so größer ist die Überraschung, wenn der Ameisenjäger in der übernächsten Geschichte als Erzähler wiederkehrt und dabei enthüllt wird, daß er bereits in der dritten Geschichte des Bandes eine wichtige und ausgesprochen unheimliche Rolle gespielt hat. Hier, in der Titelgeschichte "Rosenhain", stellt der introvertierte reiche Erbe ein seltsames Experiment an: Er kidnappt eine Urlauberin, die seinen Garten und dessen zahlreiche Rosenstöcke bewundert hatte. Als sie sich über die Blüten beugt, um deren Duft zu genießen, schlägt er zu und bringt sein Opfer in eine Zelle im Haus. Wie im Märchen muß die Gefangene eine Aufgabe erfüllen, wenn sie ihre Freiheit wiedererlangen will: Sie soll lernen, die Rosen, die ihr Peiniger ihr bringt, mit geschlossenen Augen an ihrem Duft zu erkennen. Ein zäher Kampf beginnt, an dessen Ende sie sich fügen muß und sich an der unlösbaren Aufgaben versucht.
Über die Ergebnisse ihrer Bemühungen muß sie einer Tabelle Buch führen: "Ich hatte täglich eine von ihm festgesetzte Anzahl durchzuführen, und anfangs tat ich dies auch. Ich roch nicht nur an den Rosen, sondern zerrieb die Blütenblätter, zog sie in die Länge, zerknüllte sie, legte sie ins Wasser, aß sogar welche. Ich roch am Blütenansatz, am Stiel, den Blättern, an den Schnittenden, den Dornen. Umsonst. Täglich neue Rosen, die vom Vortag nahm er stets wider mit." Das grausame Experiment endet mit dem Sommer: Bevor die letzten Rose verblüht sind, wird die Probe abgelegt. Ihr Ergebnis soll hier nicht verraten werden. Nur soviel sei enthüllt: Als sich der seltsame Forscher später an sein Experiment erinnert, erwähnt er seine unfreiwillige Probandin mit keiner Silbe.
Claire Beyer zeigt in ihrem ersten Erzählungsband, wie dicht Sinnlichkeit und Grausamkeit beieinanderliegen, wie aus jedem einzelnen Sinn Obsessionen erwachsen können und wie sinnlos jenes Ereignis sein kann, das all unsere Sinne auf einmal gefangennimmt wie kein zweites. Die Liebe ist in diesen Erzählungen eine grausame Angelegenheit: "Und nun begann ein Spiel mit einem Fremden - oder war es eine Schlacht? Meist begreife ich erst, wenn die Wege sich trennen, worum es sich gehandelt hat", so heißt es einmal, und auch, wenn es bei dieser Begegnung weder zu Küssen noch zu Bissen kommen wird, ist es, als liefe für eine Sekunde Kleists Penthesilea durchs Bild.
Mehrfach taucht der Begriff der Legende auf, der ähnlich wie der Novelle oft eine unerhörte Begebenheit zugrunde liegt. Claire Beyer zeigt ihre Figuren gern in extremen Situationen und in Momenten, in denen ein ganzes Leben umschlagen könnte. Nüchtern wird Bilanz gezogen: das Leben - ein Rätsel, die Liebe - ein ferner Traum. Sinnliche Legenden von lieblosen Menschen, so könnte man den "Rosenhain"-Zyklus in Anlehnung an Wolfgang Hildesheimers "Lieblose Legenden" nennen.
Als Claire Beyer, 1947 geboren, vor drei Jahren debütierte, war die Bankkauffrau unter vielen jungen Talenten eine Spätberufene, deren erster Roman "Rauken" der damaligen Girlie-Konjunktur zum Trotz die verdiente Aufmerksamkeit erhielt (F.A.Z. vom 30. November 2000). Mit "Rosenhain" hat sie die damals in sie gesetzten Erwartungen mehr als erfüllt: Unter den Autoren, die in den letzten Jahren die literarische Bühne betreten haben, gehört Claire Beyer zu den stärksten und eigenwilligsten.
Claire Beyer: "Rosenhain. Sechs Geschichten von fünf Sinnen". Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2003. 206 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sinnliche Legenden von lieblosen Menschen: Claire Beyers Erzählungsband "Rosenhain" / Von Hubert Spiegel
Sechs Geschichten von fünf Sinnen, so lautet der Untertitel dieses Buches. Müßten es nicht fünf Geschichten über fünf Sinne sein? Ist die Autorin womöglich schlicht übers Ziel hinausgeschossen und hat eine Erzählung mehr geschrieben, als sinnvoll und nötig gewesen wäre?
Nein, zu jedem Sinn eine Geschichte zu erfinden, so einfach hat es sich Claire Beyer nicht gemacht. Vermutlich, weil wir synästhetische Wesen sind, die stets mehr als einen ihrer Sinne gebrauchen. Die sechste dieser erstaunlichen Geschichten jedoch steht für einen Sinn, der keinen Namen hat. Es ist jener Sinn, der dem Asymmetrischen den gleichen Rang zuweist wie dem Symmetrischen, der die Schönheit des Häßlichen erkennt, der das Laute im Leisen hört und das Leise im Lauten, der das Grelle in der gedeckten Farbe aufblitzen sieht und der das Salzige im Süßen auf der Zunge schmeckt. Es ist der Sinn für die Gleichzeitigkeit des Gegensätzlichen und des Inkommensurablen. Und womöglich ist es auch der wichtigste Sinn all jener, von denen wir meinen, sie hätten ihre fünf Sinne nicht mehr beisammen.
Eine ehemalige Krankenschwester erzählt eine Geschichte aus ihrem Leben, die davon handelt, daß sie auf einer Insel einen Taucher trifft, der ihr eine Geschichte erzählt. Darin geht es um seine Begegnung mit einer Taucherin, der wiederum eine Geschichte erzählt wurde, die von einem jungen Mann berichtet, der unsterblich in ein schönes Mädchen verliebt war. Diese letzte Geschichte ist eine Legende, an die sich die alten Männer im Wirtshaus eines Balkandorfes gern erinnern: Der Verliebte ist ein Schweinehirt, seine Angebetete die hochmütige Tochter des reichsten Bauern der Gegend. Am Ende versinkt das Dorf in den Fluten eines reißenden Flusses, alle Einwohner entkommen, nur das ungleiche Paar wird im Tod in den Wogen vereint.
Die Geschichte in der Geschichte - das ist das Konstruktionsprinzip dieses Erzählungsbandes, der erst in seinem letzten Drittel seine Struktur ganz preisgibt: Es ist ein Zyklus, in dem alle Figuren mit großer Kunstfertigkeit miteinander verbunden sind. Vermag schon jede einzelne dieser sechs Geschichten zu überzeugen und mitunter sogar zu fesseln, so erschließt sich die ganze Raffinesse Claire Beyers erst, wenn man den ganzen Band in den Blick nimmt.
Wenn Nada, die ehemalige Krankenschwester, sich mit einigen Sätzen an ihren geschiedenen Ehemann erinnert, zu dem jeder Kontakt abgebrochen ist, sehen wir einen verschrobenen reichen Erben vor uns, einen Zwangsneurotiker und sanften Diktator, der seine Zeit damit verbringt, den Ameisen im Haus nachzustellen. Ein skurriles Detail in einer Geschichte, in der es um ganz andere Figuren geht, mehr nicht, so möchte man meinen.
Um so größer ist die Überraschung, wenn der Ameisenjäger in der übernächsten Geschichte als Erzähler wiederkehrt und dabei enthüllt wird, daß er bereits in der dritten Geschichte des Bandes eine wichtige und ausgesprochen unheimliche Rolle gespielt hat. Hier, in der Titelgeschichte "Rosenhain", stellt der introvertierte reiche Erbe ein seltsames Experiment an: Er kidnappt eine Urlauberin, die seinen Garten und dessen zahlreiche Rosenstöcke bewundert hatte. Als sie sich über die Blüten beugt, um deren Duft zu genießen, schlägt er zu und bringt sein Opfer in eine Zelle im Haus. Wie im Märchen muß die Gefangene eine Aufgabe erfüllen, wenn sie ihre Freiheit wiedererlangen will: Sie soll lernen, die Rosen, die ihr Peiniger ihr bringt, mit geschlossenen Augen an ihrem Duft zu erkennen. Ein zäher Kampf beginnt, an dessen Ende sie sich fügen muß und sich an der unlösbaren Aufgaben versucht.
Über die Ergebnisse ihrer Bemühungen muß sie einer Tabelle Buch führen: "Ich hatte täglich eine von ihm festgesetzte Anzahl durchzuführen, und anfangs tat ich dies auch. Ich roch nicht nur an den Rosen, sondern zerrieb die Blütenblätter, zog sie in die Länge, zerknüllte sie, legte sie ins Wasser, aß sogar welche. Ich roch am Blütenansatz, am Stiel, den Blättern, an den Schnittenden, den Dornen. Umsonst. Täglich neue Rosen, die vom Vortag nahm er stets wider mit." Das grausame Experiment endet mit dem Sommer: Bevor die letzten Rose verblüht sind, wird die Probe abgelegt. Ihr Ergebnis soll hier nicht verraten werden. Nur soviel sei enthüllt: Als sich der seltsame Forscher später an sein Experiment erinnert, erwähnt er seine unfreiwillige Probandin mit keiner Silbe.
Claire Beyer zeigt in ihrem ersten Erzählungsband, wie dicht Sinnlichkeit und Grausamkeit beieinanderliegen, wie aus jedem einzelnen Sinn Obsessionen erwachsen können und wie sinnlos jenes Ereignis sein kann, das all unsere Sinne auf einmal gefangennimmt wie kein zweites. Die Liebe ist in diesen Erzählungen eine grausame Angelegenheit: "Und nun begann ein Spiel mit einem Fremden - oder war es eine Schlacht? Meist begreife ich erst, wenn die Wege sich trennen, worum es sich gehandelt hat", so heißt es einmal, und auch, wenn es bei dieser Begegnung weder zu Küssen noch zu Bissen kommen wird, ist es, als liefe für eine Sekunde Kleists Penthesilea durchs Bild.
Mehrfach taucht der Begriff der Legende auf, der ähnlich wie der Novelle oft eine unerhörte Begebenheit zugrunde liegt. Claire Beyer zeigt ihre Figuren gern in extremen Situationen und in Momenten, in denen ein ganzes Leben umschlagen könnte. Nüchtern wird Bilanz gezogen: das Leben - ein Rätsel, die Liebe - ein ferner Traum. Sinnliche Legenden von lieblosen Menschen, so könnte man den "Rosenhain"-Zyklus in Anlehnung an Wolfgang Hildesheimers "Lieblose Legenden" nennen.
Als Claire Beyer, 1947 geboren, vor drei Jahren debütierte, war die Bankkauffrau unter vielen jungen Talenten eine Spätberufene, deren erster Roman "Rauken" der damaligen Girlie-Konjunktur zum Trotz die verdiente Aufmerksamkeit erhielt (F.A.Z. vom 30. November 2000). Mit "Rosenhain" hat sie die damals in sie gesetzten Erwartungen mehr als erfüllt: Unter den Autoren, die in den letzten Jahren die literarische Bühne betreten haben, gehört Claire Beyer zu den stärksten und eigenwilligsten.
Claire Beyer: "Rosenhain. Sechs Geschichten von fünf Sinnen". Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2003. 206 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.01.2004Tauchen im Sinnenmeer
Claire Beyers Geschichten loten Liebesuntiefen aus
Alle kennen das Gedankenspiel: Auf welchen der Sinne verzichtete man, stünde die Wahl an, am ehesten? Gäbe man die Augen hin? Die Ohren? Lebte es sich noch lebenswert, röche oder schmeckte nichts mehr? Wollte man vielleicht lieber ohne Tastsinn existieren? Am Ende aller klugen Erwägungen beglückwünschen sich die Diskutierenden, dass sie noch alle fünf Sinne beisammen haben, und gehen heiter auseinander.
Heiter liest sich auch die letzte Passage der letzten Geschichte in Claire Beyers Erzählungsband „Rosenhain”. Durch die intensive Stimulierung aller Sinne gelingt es da Marion Hansen, den in sich selbst verlorenen „Denker” aus einem unerklärlichen Koma zu erlösen. Gleichzeitig befreit sie einen weiteren Insassen jener Irrenanstalt von einem frühkindlichen Trauma, indem sie ihn in ihre therapeutischen Anstrengungen einbindet. In dieser sechsten Geschichte von den fünf Sinnen führt Beyer alle vorigen Erzählungen zusammen, deren Figuren aufeinander treffen, von früheren Begegnungen erzählen, durch ihre Sicht das bereits Geschilderte relativieren. Bilder, Gedanken, Handlungen, Erlebnisse und Gefühle kehren hier in neuem Zusammenhang wieder. Alle fünf Sinne, denen vorher jeweils eine Erzählung gewidmet war, werden hier wichtig, dazu der sechste Sinn: das liebende, suchende, empathische Denken.
Die offensichtliche Freude am Konstruieren und das gekonnte Komponieren lassen bei Claire Beyer über allerlei handwerkliche Fehler hinwegsehen. So differiert der Erzählton der einzelnen Figuren zu wenig voneinander, zu oft wählt Beyer abgegriffene Bilder, und zu häufig reichert sie die Gedanken der Protagonisten mit Informationen an, die offensichtlich nur für den Leser bestimmt sind. Doch das Altmodische, Novellen- und Märchenhafte der Erzählungen gehört wie die Verweiskunst zu den Qualitäten des Buches. Die Gegenwart wird dadurch, ohne insgesamt weniger realistisch geschildert zu werden, von älteren, größeren Räumen unterzogen und eine mythischer Echokammer entsteht. Zufälle oder kuriose Parallelen bekommen dadurch eine übersinnliche Dimension, die wenig mit Esoterik, um so mehr aber mit Ästhetik und Tradition zu tun hat.
Beyer setzt ihre Figuren immer Ausnahmesituationen aus, in denen durchweg einer anfänglichen Taubheit eine Sensibilisierung der Sinne folgt. In Norwegen, der Provence, auf einer südlichen Insel, in Italien und in einer Irrenanstalt spielen die Erzählungen. Bedrohliches durchzieht die Geschichten, mal offensichtlich, wenn Jakob Mittler unter Haustrümmern eine ganze Nacht lang verzweifelt auf Rettung wartet, mal angedeutet, wenn Nada S. sich eine tödliche Taucher- und Liebeslegende anhört, die sie zurück ins Leben stößt.
Sehr bewusst und sorgfältig geht Beyer mit dem Schrecken um. Da blitzt romantische Erzählstrategie auf, wenn Schauerroman-Elemente (Eulen, dunkle, einsame Kirchen, fluchbeladene Häuser), seltsam lebendige Engelsgemälde, geheimnisvolle Inschriften, Liebesproben, unerfüllte Sehnsucht und immer wieder Rosen, reiche Dekors, erlesene Düfte und Erinnerungsschübe das sonst so Realistische und Lakonische auflockern. Dazu weiß Beyer Rätsel so etablieren, dass sie ihren Reiz bewahren, auch wenn sie nur zum Teil gelöst werden.
Was bei flüchtigem Lesen wie eine Sammlung trauriger, doch harmloser Liebesgeschichten über die Sinne wirken könnte, erweist sich bei genauerem Hinsehen als intelligentes Gründeln im Sinnenmeer.
ROLF-BERNHARD ESSIG
CLAIRE BEYER: Rosenhain. Sechs Geschichten von fünf Sinnen. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2003. 206 Seiten, 19,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Claire Beyers Geschichten loten Liebesuntiefen aus
Alle kennen das Gedankenspiel: Auf welchen der Sinne verzichtete man, stünde die Wahl an, am ehesten? Gäbe man die Augen hin? Die Ohren? Lebte es sich noch lebenswert, röche oder schmeckte nichts mehr? Wollte man vielleicht lieber ohne Tastsinn existieren? Am Ende aller klugen Erwägungen beglückwünschen sich die Diskutierenden, dass sie noch alle fünf Sinne beisammen haben, und gehen heiter auseinander.
Heiter liest sich auch die letzte Passage der letzten Geschichte in Claire Beyers Erzählungsband „Rosenhain”. Durch die intensive Stimulierung aller Sinne gelingt es da Marion Hansen, den in sich selbst verlorenen „Denker” aus einem unerklärlichen Koma zu erlösen. Gleichzeitig befreit sie einen weiteren Insassen jener Irrenanstalt von einem frühkindlichen Trauma, indem sie ihn in ihre therapeutischen Anstrengungen einbindet. In dieser sechsten Geschichte von den fünf Sinnen führt Beyer alle vorigen Erzählungen zusammen, deren Figuren aufeinander treffen, von früheren Begegnungen erzählen, durch ihre Sicht das bereits Geschilderte relativieren. Bilder, Gedanken, Handlungen, Erlebnisse und Gefühle kehren hier in neuem Zusammenhang wieder. Alle fünf Sinne, denen vorher jeweils eine Erzählung gewidmet war, werden hier wichtig, dazu der sechste Sinn: das liebende, suchende, empathische Denken.
Die offensichtliche Freude am Konstruieren und das gekonnte Komponieren lassen bei Claire Beyer über allerlei handwerkliche Fehler hinwegsehen. So differiert der Erzählton der einzelnen Figuren zu wenig voneinander, zu oft wählt Beyer abgegriffene Bilder, und zu häufig reichert sie die Gedanken der Protagonisten mit Informationen an, die offensichtlich nur für den Leser bestimmt sind. Doch das Altmodische, Novellen- und Märchenhafte der Erzählungen gehört wie die Verweiskunst zu den Qualitäten des Buches. Die Gegenwart wird dadurch, ohne insgesamt weniger realistisch geschildert zu werden, von älteren, größeren Räumen unterzogen und eine mythischer Echokammer entsteht. Zufälle oder kuriose Parallelen bekommen dadurch eine übersinnliche Dimension, die wenig mit Esoterik, um so mehr aber mit Ästhetik und Tradition zu tun hat.
Beyer setzt ihre Figuren immer Ausnahmesituationen aus, in denen durchweg einer anfänglichen Taubheit eine Sensibilisierung der Sinne folgt. In Norwegen, der Provence, auf einer südlichen Insel, in Italien und in einer Irrenanstalt spielen die Erzählungen. Bedrohliches durchzieht die Geschichten, mal offensichtlich, wenn Jakob Mittler unter Haustrümmern eine ganze Nacht lang verzweifelt auf Rettung wartet, mal angedeutet, wenn Nada S. sich eine tödliche Taucher- und Liebeslegende anhört, die sie zurück ins Leben stößt.
Sehr bewusst und sorgfältig geht Beyer mit dem Schrecken um. Da blitzt romantische Erzählstrategie auf, wenn Schauerroman-Elemente (Eulen, dunkle, einsame Kirchen, fluchbeladene Häuser), seltsam lebendige Engelsgemälde, geheimnisvolle Inschriften, Liebesproben, unerfüllte Sehnsucht und immer wieder Rosen, reiche Dekors, erlesene Düfte und Erinnerungsschübe das sonst so Realistische und Lakonische auflockern. Dazu weiß Beyer Rätsel so etablieren, dass sie ihren Reiz bewahren, auch wenn sie nur zum Teil gelöst werden.
Was bei flüchtigem Lesen wie eine Sammlung trauriger, doch harmloser Liebesgeschichten über die Sinne wirken könnte, erweist sich bei genauerem Hinsehen als intelligentes Gründeln im Sinnenmeer.
ROLF-BERNHARD ESSIG
CLAIRE BEYER: Rosenhain. Sechs Geschichten von fünf Sinnen. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2003. 206 Seiten, 19,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Mit ihrem Erzählungsband hat Claire Beyer dem Rezensenten Hubert Spiegel bewiesen, dass sie zu den stärksten und eigenwilligsten Autoren gehört, die in den letzten Jahren die literarische Bühne betreten haben. Nach ihrem Debütroman "Rauken" vor drei Jahren hat Beyer mit diesem Buch Spiegels Erwartungen mehr als erfüllt. In ihren "sechs Geschichten über fünf Sinne" zeigt sie dem Rezensenten, wie nah Sinnlichkeit und Grausamkeit sich sind, wie jeder Sinn eine Obsession fördern kann. Besonders die Liebe erscheint Spiegel in diesen Erzählungen als grausame Angelegenheit. Er bewundert die Kunstfertigkeit, mit der alle Figuren der Geschichten miteinander verbunden sind. Vermochte schon jede einzelne Geschichte ihn zu überzeugen, so erschließt sich ihm die vollkommene Raffinesse dieser Autorin erst, als er den "ganzen Band in den Blick" nahm.
© Perlentaucher Medien GmbH
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