Die Heldinnen in diesem Buch sind verlorene Gestalten in einer Welt, die ihnen entgleitet: moderne Fetisch- und Geistergläubige auf der Suche nach einer - nach irgendeiner - Ordnung. In ihrer grenzenlosen Freiheit geben sie sich cool, beredt und umtriebig, während sie hektisch aus einer verfahrenen Lage in die andere fliehen, und sie träumen dabei von jenem sagenhaften menschlichen Reich in ihrem Inneren, in dem versunken ihre Seele schlummert: Atlantis.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.08.2000Verwickelt ins bandagierte Leben
Deborah Eisenberg erzählt wahrscheinliche Geschichten
Durch Deborah Eisenberg ist die amerikanische Gegenwartsprosa um eine neue, klare Stimme reicher geworden. Eine ihrer erstaunlichen Antiheldinnen heißt Francie. Und es wird uns recht glaubhaft versichert, daß ihr niemand je etwas sagte, "das ihr auch nur fünf Minuten durchs Leben geholfen hätte". Daran ändern auch die Sentenzen nichts, mit denen die Wand hinter dem Schreibtisch der Privatschuldirektorin gepflastert ist. "Glück und Humor beherrschen die Welt", liest die Stipendiatin geistesabwesend, während sie ihren Hinauswurf erwartet und statt dessen vom Tod ihrer Mutter erfährt, einem Tod, der, wie Mrs. Peck erklärt, bei "Patienten, die das Idealgewicht sehr weit überschreiten", nicht eben selten sei. Der Galgenhumor, mit dem Francie notiert, daß Mrs. Peck ein "vernichtendes Willkommenslächeln" und ein Kostüm von "kühner Unschmeichelhaftigkeit" trägt, bewahrt sie zwar vor der Einschüchterung, doch reine Selbstbeherrschung ist noch nicht das Glück.
Eisenbergs Protagonistinnen verlassen sich lieber nicht auf höhere Mächte und himmlische Gunst, sondern nehmen nach der Devise "Jetzt ist jetzt" ihr Schicksal selbst in die Hand. Vom Glück, auf das sie nicht zählen, werden sie denn auch eher stiefmütterlich behandelt, doch dafür widerfährt ihnen etwas Besseres: Sie lernen sich selber kennen. Die Erzählungen in "Rosie besorgt sich eine Seele" handeln von weiblichen Underdogs, die sich in Welten, die ihnen eine Nummer zu groß sind, zurechtfinden müssen. Was die Geschichten so anziehend macht, ist nicht nur die unscheinbare Tapferkeit der meist noch jungen Frauen, sondern auch ihre gesteigerte Sensibilität für eine dubiose Umwelt und der lakonische Witz, mit dem sie die Standesunterschiede kompensieren.
Eisenbergs Buch handelt von der amerikanischen Zweiklassengesellschaft und von den Odysseen intelligenter, mittelloser Einzelgänger, die ihren Ort zwischen den Fronten suchen. Die Titelgeschichte ist in dieser Hinsicht vielleicht am vollkommensten gelungen. Rosie hat sich in einer Tour de force vom Heroin losgesagt und sammelt nun die Scherben der zerplatzten Glasglocke zusammen. Ein früherer Schulfreund stellt sie als Assistentin beim kunstvollen Ausmalen luxuriöser Privathäuser an. Die Girlanden, die die Wände schmücken, verhöhnen ihre Nüchternheit nicht weniger als der Hausherr, der einen Flirt mit ihr beginnt und eitle Vorstellungen vom süßen Bohemeleben auf Rosie projiziert. Ihre traurige Klarheit kann ihn nicht lange fesseln, und so wird sie mit den Malerleitern wieder abgeräumt.
Die Brutalität menschlicher Beziehungen entspringt bei Eisenberg keinem bösen Willen, sondern der mangelnden Phantasie, die sich in einen anderen hineinversetzen würde. Die letzte und erzählerisch am wenigsten sublimierte Erzählung, "Keine Lust", handelt von einer Biologielehrerin namens Kate, die ein renommistischer Antiquitätenhändler auf eine Tour an die italienische Küste mitnimmt. Sie wohnen in einem Grandhotel, und er schleppt sie von Kirche zu Kirche, um sein Bildungswissen vorzuführen. Vor dem Abendessen packt Kate ein teures Kleid aus, das sie noch nie getragen hat: "Sie griff zum Bügel. Jetzt oder nie. Sie ließ das Kleid über ihren Kopf gleiten und atmete ein; der Reißverschluß kletterte hoch, schnürte sie ein. Sie drehte sich herausfordernd zum Spiegel um: jetzt oder nie. Also dann - nie, sagte der Spiegel kühl. Oder jedenfalls nicht jetzt." Nach dem Dinner, bei dem sie als graue Maus erscheint, zieht man sich bald auf die Zimmer zurück. Während Kate im Bett ihre gescheiterte Ehe rekapituliert, träumt ihr Begleiter von einer träg-sinnlichen Lolita, die er in der Bar getroffen hat.
Die Bitterkeit solcher Szenen ist völlig unabgefedert und eines Raymond Carver würdig. Die letzte Erzählung legt bloß, was die ersten durch poetische Schwerelosigkeit in Schach zu halten vermögen: die Unerträglichkeit des illusionslosen Blicks. Während Kate sich mit dem "Also dann - nie" zufriedengibt, laufen Francie und Rosie gegen die Wände an, die ihnen die Grenzen ihrer, wenn nicht heilen, so doch bandagierten Welt vorspiegeln wollen.
Der Schlüsseltext des Buches könnte "Abseits von Atlantis" sein. Er ist in Form eines Briefes gehalten, den eine Frau nach der Beerdigung ihrer Mutter an deren früheren Geliebten schreibt. Der Brief versucht nicht nur Ungesagtes zurechtzurücken, er wird auch zum Schauplatz der Trauer. Die Mutter ist eine Holocaust-Überlebende gewesen, die über ihre Herkunft schwieg und der Tochter damit nicht nur an der Stelle, wo bei anderen die Familiengeschichte einrückt, ein Loch vermachte, sondern ihr auch das Fragen abgewöhnte. Die Tochter hat sich ins Phantasieren geflüchtet. Die Märchen dienten ihr als Therapie und beschwerten sie mit einer Lebenslüge. Deborah Eisenbergs Erzählungen breiten das Dilemma der Briefschreiberin aus. Ist es angesichts überwältigender Leiden legitim, sie fesselnd und mit einer trotz aller Widrigkeiten stark vibrierenden Hoffnungsmuskulatur zu erzählen, wie es der Autorin in drei der fünf "wahrscheinlichen Geschichten" so überzeugend gelingt, oder verlangt die Moral, das menschliche Unglück in seiner ganzen Inkonsequenz auszubreiten? Das Urteil wird dem Leser überlassen. Er steht vor dem Spiegel, erkennt sich wieder und wendet sich mit einem "Jetzt" jedenfalls nicht den maßgeschneiderten Illusionen zu.
INGEBORG HARMS
Deborah Eisenberg: "Rosie besorgt sich eine Seele. Wahrscheinliche Geschichten". Aus dem Amerikanischen übersetzt von Sabine Hedinger, Antje Landshoff und Nikolaus Hansen. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2000. 253 S., geb., 39,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Deborah Eisenberg erzählt wahrscheinliche Geschichten
Durch Deborah Eisenberg ist die amerikanische Gegenwartsprosa um eine neue, klare Stimme reicher geworden. Eine ihrer erstaunlichen Antiheldinnen heißt Francie. Und es wird uns recht glaubhaft versichert, daß ihr niemand je etwas sagte, "das ihr auch nur fünf Minuten durchs Leben geholfen hätte". Daran ändern auch die Sentenzen nichts, mit denen die Wand hinter dem Schreibtisch der Privatschuldirektorin gepflastert ist. "Glück und Humor beherrschen die Welt", liest die Stipendiatin geistesabwesend, während sie ihren Hinauswurf erwartet und statt dessen vom Tod ihrer Mutter erfährt, einem Tod, der, wie Mrs. Peck erklärt, bei "Patienten, die das Idealgewicht sehr weit überschreiten", nicht eben selten sei. Der Galgenhumor, mit dem Francie notiert, daß Mrs. Peck ein "vernichtendes Willkommenslächeln" und ein Kostüm von "kühner Unschmeichelhaftigkeit" trägt, bewahrt sie zwar vor der Einschüchterung, doch reine Selbstbeherrschung ist noch nicht das Glück.
Eisenbergs Protagonistinnen verlassen sich lieber nicht auf höhere Mächte und himmlische Gunst, sondern nehmen nach der Devise "Jetzt ist jetzt" ihr Schicksal selbst in die Hand. Vom Glück, auf das sie nicht zählen, werden sie denn auch eher stiefmütterlich behandelt, doch dafür widerfährt ihnen etwas Besseres: Sie lernen sich selber kennen. Die Erzählungen in "Rosie besorgt sich eine Seele" handeln von weiblichen Underdogs, die sich in Welten, die ihnen eine Nummer zu groß sind, zurechtfinden müssen. Was die Geschichten so anziehend macht, ist nicht nur die unscheinbare Tapferkeit der meist noch jungen Frauen, sondern auch ihre gesteigerte Sensibilität für eine dubiose Umwelt und der lakonische Witz, mit dem sie die Standesunterschiede kompensieren.
Eisenbergs Buch handelt von der amerikanischen Zweiklassengesellschaft und von den Odysseen intelligenter, mittelloser Einzelgänger, die ihren Ort zwischen den Fronten suchen. Die Titelgeschichte ist in dieser Hinsicht vielleicht am vollkommensten gelungen. Rosie hat sich in einer Tour de force vom Heroin losgesagt und sammelt nun die Scherben der zerplatzten Glasglocke zusammen. Ein früherer Schulfreund stellt sie als Assistentin beim kunstvollen Ausmalen luxuriöser Privathäuser an. Die Girlanden, die die Wände schmücken, verhöhnen ihre Nüchternheit nicht weniger als der Hausherr, der einen Flirt mit ihr beginnt und eitle Vorstellungen vom süßen Bohemeleben auf Rosie projiziert. Ihre traurige Klarheit kann ihn nicht lange fesseln, und so wird sie mit den Malerleitern wieder abgeräumt.
Die Brutalität menschlicher Beziehungen entspringt bei Eisenberg keinem bösen Willen, sondern der mangelnden Phantasie, die sich in einen anderen hineinversetzen würde. Die letzte und erzählerisch am wenigsten sublimierte Erzählung, "Keine Lust", handelt von einer Biologielehrerin namens Kate, die ein renommistischer Antiquitätenhändler auf eine Tour an die italienische Küste mitnimmt. Sie wohnen in einem Grandhotel, und er schleppt sie von Kirche zu Kirche, um sein Bildungswissen vorzuführen. Vor dem Abendessen packt Kate ein teures Kleid aus, das sie noch nie getragen hat: "Sie griff zum Bügel. Jetzt oder nie. Sie ließ das Kleid über ihren Kopf gleiten und atmete ein; der Reißverschluß kletterte hoch, schnürte sie ein. Sie drehte sich herausfordernd zum Spiegel um: jetzt oder nie. Also dann - nie, sagte der Spiegel kühl. Oder jedenfalls nicht jetzt." Nach dem Dinner, bei dem sie als graue Maus erscheint, zieht man sich bald auf die Zimmer zurück. Während Kate im Bett ihre gescheiterte Ehe rekapituliert, träumt ihr Begleiter von einer träg-sinnlichen Lolita, die er in der Bar getroffen hat.
Die Bitterkeit solcher Szenen ist völlig unabgefedert und eines Raymond Carver würdig. Die letzte Erzählung legt bloß, was die ersten durch poetische Schwerelosigkeit in Schach zu halten vermögen: die Unerträglichkeit des illusionslosen Blicks. Während Kate sich mit dem "Also dann - nie" zufriedengibt, laufen Francie und Rosie gegen die Wände an, die ihnen die Grenzen ihrer, wenn nicht heilen, so doch bandagierten Welt vorspiegeln wollen.
Der Schlüsseltext des Buches könnte "Abseits von Atlantis" sein. Er ist in Form eines Briefes gehalten, den eine Frau nach der Beerdigung ihrer Mutter an deren früheren Geliebten schreibt. Der Brief versucht nicht nur Ungesagtes zurechtzurücken, er wird auch zum Schauplatz der Trauer. Die Mutter ist eine Holocaust-Überlebende gewesen, die über ihre Herkunft schwieg und der Tochter damit nicht nur an der Stelle, wo bei anderen die Familiengeschichte einrückt, ein Loch vermachte, sondern ihr auch das Fragen abgewöhnte. Die Tochter hat sich ins Phantasieren geflüchtet. Die Märchen dienten ihr als Therapie und beschwerten sie mit einer Lebenslüge. Deborah Eisenbergs Erzählungen breiten das Dilemma der Briefschreiberin aus. Ist es angesichts überwältigender Leiden legitim, sie fesselnd und mit einer trotz aller Widrigkeiten stark vibrierenden Hoffnungsmuskulatur zu erzählen, wie es der Autorin in drei der fünf "wahrscheinlichen Geschichten" so überzeugend gelingt, oder verlangt die Moral, das menschliche Unglück in seiner ganzen Inkonsequenz auszubreiten? Das Urteil wird dem Leser überlassen. Er steht vor dem Spiegel, erkennt sich wieder und wendet sich mit einem "Jetzt" jedenfalls nicht den maßgeschneiderten Illusionen zu.
INGEBORG HARMS
Deborah Eisenberg: "Rosie besorgt sich eine Seele. Wahrscheinliche Geschichten". Aus dem Amerikanischen übersetzt von Sabine Hedinger, Antje Landshoff und Nikolaus Hansen. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2000. 253 S., geb., 39,80 DM.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Angela Schader erklärt zunächst, dass die bisher erschienenen Erzählungen der Autorin eine Zusammenstellung aus verschiedenen Originalbänden ist, und dass sich in dem vorliegenden Band nun die restlichen Texte aus "All Around Atlantis" befinden. Die Geschichten scheinen nur schwer auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen zu sein, allerdings betont die Rezensentin ihren - im Vergleich zu Eisenbergs anderen Erzählungen - intimen Charakter. Schader geht auf verschiedene Erzählungen im Einzelnen ein und stellt dabei fest, dass sich viele Figuren in einer Art von seelischem und körperlichem "Transit" befinden. So etwa das Mädchen Francie, dass nach dem plötzlichen Tod der Mutter mit einer Orientierungslosigkeit zu kämpfen hat. Schader zeigt sich beeindruckt von der "literarischen Intelligenz" der Autorin, die keine Antworten gibt, sondern vielmehr eine meditative Welt ganz "subtiler" Art beschreibt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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