Über die Einsamkeit des Körpers und unsere Sprache der Liebe
Unsere Sprache der Liebe ist eine kannibalische Sprache. Wir sagen: Ich habe Dich zum Fressen gern. Ich will Dich auffressen. In seinem zweiten Roman erzählt Senthuran Varatharajah zwei Geschichten, die zu einer werden. Die Geschichte eines Jahres, nach einer Trennung, und die Geschichte eines Tages: vom 9. März 2001, an dem A in seinem Haus in Rotenburg B, wie zuvor vereinbart, tötet, zerteilt und Teile von ihm isst. Mit lyrischer Intensität und philosophischer Strenge erzählt »Rot (Hunger)« davon, dass der Mensch, den wir lieben, immer zu weit entfernt ist. Und davon: dass er immer fehlt, auch wenn er vor uns steht. Das ist eine Liebesgeschichte. Mit diesem Satz beginnt der Roman.
Unsere Sprache der Liebe ist eine kannibalische Sprache. Wir sagen: Ich habe Dich zum Fressen gern. Ich will Dich auffressen. In seinem zweiten Roman erzählt Senthuran Varatharajah zwei Geschichten, die zu einer werden. Die Geschichte eines Jahres, nach einer Trennung, und die Geschichte eines Tages: vom 9. März 2001, an dem A in seinem Haus in Rotenburg B, wie zuvor vereinbart, tötet, zerteilt und Teile von ihm isst. Mit lyrischer Intensität und philosophischer Strenge erzählt »Rot (Hunger)« davon, dass der Mensch, den wir lieben, immer zu weit entfernt ist. Und davon: dass er immer fehlt, auch wenn er vor uns steht. Das ist eine Liebesgeschichte. Mit diesem Satz beginnt der Roman.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Furchtlos und mit großer Ernsthaftigkeit nähert sich Rezensent Christian Metz diesem provokanten Roman, in dem der Religionswissenschaftler Senthuran Varatharajah den Kannibalismus-Fall von Rotenburg aufgreift. Dass und wie sich Varatharajah dabei ans Äußerste wagt, findet Metz bewundernswert und vor allem brillant: Liebes- und Todeskampf verschlingen sich hier ebenso ineinander wie Leid und Schuld. Dabei entspreche der unglückseligen menschlichen Mechanik eine "hochpräzise Mechanik des Erzählens", erkennt Metz, der betont, mit welcher Akribie Varatharajah vorgeht und wie er die Drastik in Poesie wandelt. Und dass der Roman am Ende doch auch eine Liebesgeschichte erzählt, erstaunt den Rezensenten nicht wirklich, beglückt ihn aber.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Ein Meisterwerk. Denis Scheck Lesenswert Quartett 20220413
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.07.2022Wen man zum Fressen gern hat
Senthuran Varatharajahs provozierend brillanter Roman "Rot (Hunger)" über Liebe und Kannibalismus
Dieser Roman setzt aufs Äußerste. Wobei die Extreme sich in Senthuran Varatharajahs "Rot (Hunger)" ineinander verschlingen, als wären sie ihrerseits von unstillbarem Hunger geplagt. Oder sind sie statt im Todes- doch im Liebeskampf verschlungen? Am provokantesten an diesem Roman ist sicherlich, von der Anthropophagie zu erzählen: Eins werden durch Einverleibung des anderen - das gehört gleichermaßen zu den Sehnsuchtsfiguren der Liebe wie zu den grausamsten Angstphantasien. Ihre Faszination strahlen sie seit den antiken Erzählungen vom Verspeisen der eigenen Kinder aus (von Kronos bis Thyestes). Sie schlug sich aber zum Beispiel auch in den Vorstellungswelten brasilianischer Kolonialisten nieder.
Varatharajahs Roman betont mit seinem Untertitel die Liebesseite: "Dies ist eine Liebesgeschichte". Warum extra betont werden muss, dass es sich darum handelt? Weil der theoretisch versierte Religionswissenschaftler Senthuran Varatharajah nichts davon hält, die Anthropophagie nur als Metapher zu verstehen. Hier wird tatsächlich mit Haut und Haar verzehrt: "A legt das Messer neben sein Gesicht. / A wartet. / A betet / A setzt noch einmal die Klinge oben / an Bs Hals an über seinem / Kehlkopf wie - eine Geste." Und dann der Schnitt. Zu nah dran? Zu viel Information? Zu große Datendichte? Zu hohe Auflösung? Das ist das zweite Extrem dieses Romans. Er wagt sich vor in das Feld erzählerischer Drastik. Für den Drastiker gilt angesichts der Grausamkeit: "Sieh hin / Sieh genauer hin." Um echoartig zu wiederholen: "Sieh hin / Sieh genau hin." Noch dorthin schauen, wo andere Erzählungen längst abgebrochen haben, den Vorhang des Schweigens herunterreißen, hinter dem sich das Explizite verbirgt.
Doch es geht noch extremer: Wie bei der Beschwörungsformel des genauen Hinsehens, so handelt es sich auch bei zahlreichen weiteren eingespielten Sätzen um (bearbeitete) Zitate aus dem originalen Schriftverkehr zwischen Armin Meiwes und Bernd Jürgen Brandes. Ersteren ernannte die Boulevard-Presse ehedem zum "Kannibalen von Rotenburg". Der Dokumentarismus lädt die Lektüre des Romans mit zusätzlicher Intensität auf.
So blutig, so bestialisch, so rotten die Ereignisse auch gewirkt haben mögen; Varatharajah erzählt diese Geschichte des Verschlingens mit einem tiefen Verständnis für das, was Simone Weil einmal "menschliche Mechanik" genannt hat: Wer leidet, sucht sein Leiden mitzuteilen. Und hier kommen zwei an sich und der Welt Leidende zusammen, die plötzlich die Chance sehen, sich gemeinsam in ihrem Leid (mit)zuteilen und davon zu befreien. In Gang setzt sich mit dem Aufeinandertreffen - so unentrinnbar wie die Schwerkraft - eine Mechanik, dem Leiden zu entkommen, sich in ihm aufzuheben. Eine außerordentliche, religiösem Denken vertraute Vorstellung, die zugleich ein Gegengewicht einschließt: Die Art, wie sich hier zwei Extreme verschränken, weist die Kühle eines mechanischen Ablaufs auf.
In dieser Maschinerie lässt Varatharajah erzählerisch die Zuweisungen von Täter- und Opferrollen verschwimmen. Ist derjenige, der mit der Schuld des Verzehrens weiterlebt, der alleinige Täter? Oder ist er das Opfer desjenigen, der sich seinen sehnlichsten Wunsch erfüllte, von einem anderen einverleibt zu werden? Mit B.s Worten "Fahr mich zurück. Ich will, dass du mich zurückführst" endet der erste Teil des Romans. Mit der Umkehr vom Bahnhof, das Ticket nach Berlin ist schon gekauft, und den Worten "du kanns/t es machen" und "ich bitte dich darum" setzt der zweite Teil ein.
Die fatale, mitunter kaum zu ertragende "menschliche Mechanik" geht bei Varatharajah mit einer hochpräzisen Mechanik des Erzählens einher. In diesem Roman herrscht größtmögliche und zudem symmetrische Ordnung. Aus zwei Hälften (A und B) besteht die Erzählung, in jeweils vierzehn Kapitel unterteilt, jedes exakt vier Druckseiten lang. Keine Zeile zu viel, keine zu wenig. Fein ausbalancierte, kühle erzählerische Akribie, wie sie einst Goethe in "Die Wahlverwandtschaften" zum Maßstab seines Liebesexperiments machte. Nur dass man bei Varatharajah mit abermaligem Erschrecken erkennen muss, dass es sich bei der Präzision eben auch um das kalte Handwerk des Sezierens handelt.
Tatsächlich heißt "Rot" im Russischen "Mund". Jüngst hat die Dichterin Uljana Wolf im Zuge ihrer Übersetzungen von Eugene Ostashevskys Lyrik mithilfe der Vieldeutigkeit des Wortes "Rot" einen poetischen Zwischenraum eröffnet. Es wirkt befremdlich, wie fern und doch zugleich nah das Poetische Varatharajahs Sprachexperiment steht: Der extreme Detaillismus lässt die Sprache von der Drastik in die Poesie wechseln und umgekehrt. Als wären beide nur um eine Haaresbreite voneinander entfernt. Als könnte die eine Sprachform sich die andere einverleiben.
Präzise Satzperioden erklingen: "Lass mich der Schatten Deiner Hand sein. Öffne meine Lippen." Aber Varatharajah ertrinkt nicht etwa in der eigenen Sprachglückseligkeit. Vielmehr stellt er die Schönheit in harten Kontrast zu Trivialitäten wie dem mechanischen Vergehen der Zeit. Auf die poetische Sentenz folgt die schlichte Angabe "Es ist Mittwoch". Um direkt wieder das Register zu wechseln: "Das Licht halbiert meinen linken Unterschenkel. Ich vergesse immer in denselben Wörtern. Einmal war ich ein Kind und betete auf einem gebrochenen Knie weil Gottes Hunger mich kannte."
Solche Fügungen wären wie das Zerreißen einzelner Wörter am Seitenrand vielleicht nur extrem gut gearbeiteter Manierismus, wenn Varatharajah nicht noch ein Kunststück gelingen würde: Mit derselben Genauigkeit und drastischen Gnadenlosigkeit entfaltet er noch eine Liebesgeschichte. Sie erzählt von einem weit reisenden Schriftsteller - auf dessen Identifikation mit dem Autor des Romans legt es der Text mit einigem Aufwand an -, der schreibt und liest und letztlich vergeblich liebt. Höchstauflösung herrscht auch hier. Und die ständige Gefahr der Beziehung, in Gewalt zu kippen. Gerade weil das Paar sich schließlich getrennt hat, tritt der wiederkehrende Gedanke, sich den anderen einzuverleiben, in abermaliger Dringlichkeit auf.
Oder hat sich die geliebte Person längst in einen selbst einverleibt, weil sich die eigenen Gedanken einfach nicht mehr von ihr lösen können. Trotz aller räumlichen Distanz im Banne des anderen bleiben? Ja, dieser Roman ermächtigt sich des Denkens und Fühlens seiner Leser, als müsste er einfach nur beherzt zugreifen. Er ist aber zugleich bereit, die Wunden, die er schlägt, sorgsam zu behandeln. Als Leser sollte man sich dieses literarische Extrem in keinem Fall entgehen lassen. CHRISTIAN METZ
Senthuran Varatharajah: "Rot (Hunger)". Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2022. 120 S., geb., 23,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Senthuran Varatharajahs provozierend brillanter Roman "Rot (Hunger)" über Liebe und Kannibalismus
Dieser Roman setzt aufs Äußerste. Wobei die Extreme sich in Senthuran Varatharajahs "Rot (Hunger)" ineinander verschlingen, als wären sie ihrerseits von unstillbarem Hunger geplagt. Oder sind sie statt im Todes- doch im Liebeskampf verschlungen? Am provokantesten an diesem Roman ist sicherlich, von der Anthropophagie zu erzählen: Eins werden durch Einverleibung des anderen - das gehört gleichermaßen zu den Sehnsuchtsfiguren der Liebe wie zu den grausamsten Angstphantasien. Ihre Faszination strahlen sie seit den antiken Erzählungen vom Verspeisen der eigenen Kinder aus (von Kronos bis Thyestes). Sie schlug sich aber zum Beispiel auch in den Vorstellungswelten brasilianischer Kolonialisten nieder.
Varatharajahs Roman betont mit seinem Untertitel die Liebesseite: "Dies ist eine Liebesgeschichte". Warum extra betont werden muss, dass es sich darum handelt? Weil der theoretisch versierte Religionswissenschaftler Senthuran Varatharajah nichts davon hält, die Anthropophagie nur als Metapher zu verstehen. Hier wird tatsächlich mit Haut und Haar verzehrt: "A legt das Messer neben sein Gesicht. / A wartet. / A betet / A setzt noch einmal die Klinge oben / an Bs Hals an über seinem / Kehlkopf wie - eine Geste." Und dann der Schnitt. Zu nah dran? Zu viel Information? Zu große Datendichte? Zu hohe Auflösung? Das ist das zweite Extrem dieses Romans. Er wagt sich vor in das Feld erzählerischer Drastik. Für den Drastiker gilt angesichts der Grausamkeit: "Sieh hin / Sieh genauer hin." Um echoartig zu wiederholen: "Sieh hin / Sieh genau hin." Noch dorthin schauen, wo andere Erzählungen längst abgebrochen haben, den Vorhang des Schweigens herunterreißen, hinter dem sich das Explizite verbirgt.
Doch es geht noch extremer: Wie bei der Beschwörungsformel des genauen Hinsehens, so handelt es sich auch bei zahlreichen weiteren eingespielten Sätzen um (bearbeitete) Zitate aus dem originalen Schriftverkehr zwischen Armin Meiwes und Bernd Jürgen Brandes. Ersteren ernannte die Boulevard-Presse ehedem zum "Kannibalen von Rotenburg". Der Dokumentarismus lädt die Lektüre des Romans mit zusätzlicher Intensität auf.
So blutig, so bestialisch, so rotten die Ereignisse auch gewirkt haben mögen; Varatharajah erzählt diese Geschichte des Verschlingens mit einem tiefen Verständnis für das, was Simone Weil einmal "menschliche Mechanik" genannt hat: Wer leidet, sucht sein Leiden mitzuteilen. Und hier kommen zwei an sich und der Welt Leidende zusammen, die plötzlich die Chance sehen, sich gemeinsam in ihrem Leid (mit)zuteilen und davon zu befreien. In Gang setzt sich mit dem Aufeinandertreffen - so unentrinnbar wie die Schwerkraft - eine Mechanik, dem Leiden zu entkommen, sich in ihm aufzuheben. Eine außerordentliche, religiösem Denken vertraute Vorstellung, die zugleich ein Gegengewicht einschließt: Die Art, wie sich hier zwei Extreme verschränken, weist die Kühle eines mechanischen Ablaufs auf.
In dieser Maschinerie lässt Varatharajah erzählerisch die Zuweisungen von Täter- und Opferrollen verschwimmen. Ist derjenige, der mit der Schuld des Verzehrens weiterlebt, der alleinige Täter? Oder ist er das Opfer desjenigen, der sich seinen sehnlichsten Wunsch erfüllte, von einem anderen einverleibt zu werden? Mit B.s Worten "Fahr mich zurück. Ich will, dass du mich zurückführst" endet der erste Teil des Romans. Mit der Umkehr vom Bahnhof, das Ticket nach Berlin ist schon gekauft, und den Worten "du kanns/t es machen" und "ich bitte dich darum" setzt der zweite Teil ein.
Die fatale, mitunter kaum zu ertragende "menschliche Mechanik" geht bei Varatharajah mit einer hochpräzisen Mechanik des Erzählens einher. In diesem Roman herrscht größtmögliche und zudem symmetrische Ordnung. Aus zwei Hälften (A und B) besteht die Erzählung, in jeweils vierzehn Kapitel unterteilt, jedes exakt vier Druckseiten lang. Keine Zeile zu viel, keine zu wenig. Fein ausbalancierte, kühle erzählerische Akribie, wie sie einst Goethe in "Die Wahlverwandtschaften" zum Maßstab seines Liebesexperiments machte. Nur dass man bei Varatharajah mit abermaligem Erschrecken erkennen muss, dass es sich bei der Präzision eben auch um das kalte Handwerk des Sezierens handelt.
Tatsächlich heißt "Rot" im Russischen "Mund". Jüngst hat die Dichterin Uljana Wolf im Zuge ihrer Übersetzungen von Eugene Ostashevskys Lyrik mithilfe der Vieldeutigkeit des Wortes "Rot" einen poetischen Zwischenraum eröffnet. Es wirkt befremdlich, wie fern und doch zugleich nah das Poetische Varatharajahs Sprachexperiment steht: Der extreme Detaillismus lässt die Sprache von der Drastik in die Poesie wechseln und umgekehrt. Als wären beide nur um eine Haaresbreite voneinander entfernt. Als könnte die eine Sprachform sich die andere einverleiben.
Präzise Satzperioden erklingen: "Lass mich der Schatten Deiner Hand sein. Öffne meine Lippen." Aber Varatharajah ertrinkt nicht etwa in der eigenen Sprachglückseligkeit. Vielmehr stellt er die Schönheit in harten Kontrast zu Trivialitäten wie dem mechanischen Vergehen der Zeit. Auf die poetische Sentenz folgt die schlichte Angabe "Es ist Mittwoch". Um direkt wieder das Register zu wechseln: "Das Licht halbiert meinen linken Unterschenkel. Ich vergesse immer in denselben Wörtern. Einmal war ich ein Kind und betete auf einem gebrochenen Knie weil Gottes Hunger mich kannte."
Solche Fügungen wären wie das Zerreißen einzelner Wörter am Seitenrand vielleicht nur extrem gut gearbeiteter Manierismus, wenn Varatharajah nicht noch ein Kunststück gelingen würde: Mit derselben Genauigkeit und drastischen Gnadenlosigkeit entfaltet er noch eine Liebesgeschichte. Sie erzählt von einem weit reisenden Schriftsteller - auf dessen Identifikation mit dem Autor des Romans legt es der Text mit einigem Aufwand an -, der schreibt und liest und letztlich vergeblich liebt. Höchstauflösung herrscht auch hier. Und die ständige Gefahr der Beziehung, in Gewalt zu kippen. Gerade weil das Paar sich schließlich getrennt hat, tritt der wiederkehrende Gedanke, sich den anderen einzuverleiben, in abermaliger Dringlichkeit auf.
Oder hat sich die geliebte Person längst in einen selbst einverleibt, weil sich die eigenen Gedanken einfach nicht mehr von ihr lösen können. Trotz aller räumlichen Distanz im Banne des anderen bleiben? Ja, dieser Roman ermächtigt sich des Denkens und Fühlens seiner Leser, als müsste er einfach nur beherzt zugreifen. Er ist aber zugleich bereit, die Wunden, die er schlägt, sorgsam zu behandeln. Als Leser sollte man sich dieses literarische Extrem in keinem Fall entgehen lassen. CHRISTIAN METZ
Senthuran Varatharajah: "Rot (Hunger)". Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2022. 120 S., geb., 23,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wen man zum Fressen gern hat
Senthuran Varatharajahs provozierend brillanter Roman "Rot (Hunger)" über Liebe und Kannibalismus
Dieser Roman setzt aufs Äußerste. Wobei die Extreme sich in Senthuran Varatharajahs "Rot (Hunger)" ineinander verschlingen, als wären sie ihrerseits von unstillbarem Hunger geplagt. Oder sind sie statt im Todes- doch im Liebeskampf verschlungen? Am provokantesten an diesem Roman ist sicherlich, von der Anthropophagie zu erzählen: Eins werden durch Einverleibung des anderen - das gehört gleichermaßen zu den Sehnsuchtsfiguren der Liebe wie zu den grausamsten Angstphantasien. Ihre Faszination strahlen sie seit den antiken Erzählungen vom Verspeisen der eigenen Kinder aus (von Kronos bis Thyestes). Sie schlug sich aber zum Beispiel auch in den Vorstellungswelten brasilianischer Kolonialisten nieder.
Varatharajahs Roman betont mit seinem Untertitel die Liebesseite: "Dies ist eine Liebesgeschichte". Warum extra betont werden muss, dass es sich darum handelt? Weil der theoretisch versierte Religionswissenschaftler Senthuran Varatharajah nichts davon hält, die Anthropophagie nur als Metapher zu verstehen. Hier wird tatsächlich mit Haut und Haar verzehrt: "A legt das Messer neben sein Gesicht. / A wartet. / A betet / A setzt noch einmal die Klinge oben / an Bs Hals an über seinem / Kehlkopf wie - eine Geste." Und dann der Schnitt. Zu nah dran? Zu viel Information? Zu große Datendichte? Zu hohe Auflösung? Das ist das zweite Extrem dieses Romans. Er wagt sich vor in das Feld erzählerischer Drastik. Für den Drastiker gilt angesichts der Grausamkeit: "Sieh hin / Sieh genauer hin." Um echoartig zu wiederholen: "Sieh hin / Sieh genau hin." Noch dorthin schauen, wo andere Erzählungen längst abgebrochen haben, den Vorhang des Schweigens herunterreißen, hinter dem sich das Explizite verbirgt.
Doch es geht noch extremer: Wie bei der Beschwörungsformel des genauen Hinsehens, so handelt es sich auch bei zahlreichen weiteren eingespielten Sätzen um (bearbeitete) Zitate aus dem originalen Schriftverkehr zwischen Armin Meiwes und Bernd Jürgen Brandes. Ersteren ernannte die Boulevard-Presse ehedem zum "Kannibalen von Rotenburg". Der Dokumentarismus lädt die Lektüre des Romans mit zusätzlicher Intensität auf.
So blutig, so bestialisch, so rotten die Ereignisse auch gewirkt haben mögen; Varatharajah erzählt diese Geschichte des Verschlingens mit einem tiefen Verständnis für das, was Simone Weil einmal "menschliche Mechanik" genannt hat: Wer leidet, sucht sein Leiden mitzuteilen. Und hier kommen zwei an sich und der Welt Leidende zusammen, die plötzlich die Chance sehen, sich gemeinsam in ihrem Leid (mit)zuteilen und davon zu befreien. In Gang setzt sich mit dem Aufeinandertreffen - so unentrinnbar wie die Schwerkraft - eine Mechanik, dem Leiden zu entkommen, sich in ihm aufzuheben. Eine außerordentliche, religiösem Denken vertraute Vorstellung, die zugleich ein Gegengewicht einschließt: Die Art, wie sich hier zwei Extreme verschränken, weist die Kühle eines mechanischen Ablaufs auf.
In dieser Maschinerie lässt Varatharajah erzählerisch die Zuweisungen von Täter- und Opferrollen verschwimmen. Ist derjenige, der mit der Schuld des Verzehrens weiterlebt, der alleinige Täter? Oder ist er das Opfer desjenigen, der sich seinen sehnlichsten Wunsch erfüllte, von einem anderen einverleibt zu werden? Mit B.s Worten "Fahr mich zurück. Ich will, dass du mich zurückführst" endet der erste Teil des Romans. Mit der Umkehr vom Bahnhof, das Ticket nach Berlin ist schon gekauft, und den Worten "du kanns/t es machen" und "ich bitte dich darum" setzt der zweite Teil ein.
Die fatale, mitunter kaum zu ertragende "menschliche Mechanik" geht bei Varatharajah mit einer hochpräzisen Mechanik des Erzählens einher. In diesem Roman herrscht größtmögliche und zudem symmetrische Ordnung. Aus zwei Hälften (A und B) besteht die Erzählung, in jeweils vierzehn Kapitel unterteilt, jedes exakt vier Druckseiten lang. Keine Zeile zu viel, keine zu wenig. Fein ausbalancierte, kühle erzählerische Akribie, wie sie einst Goethe in "Die Wahlverwandtschaften" zum Maßstab seines Liebesexperiments machte. Nur dass man bei Varatharajah mit abermaligem Erschrecken erkennen muss, dass es sich bei der Präzision eben auch um das kalte Handwerk des Sezierens handelt.
Tatsächlich heißt "Rot" im Russischen "Mund". Jüngst hat die Dichterin Uljana Wolf im Zuge ihrer Übersetzungen von Eugene Ostashevskys Lyrik mithilfe der Vieldeutigkeit des Wortes "Rot" einen poetischen Zwischenraum eröffnet. Es wirkt befremdlich, wie fern und doch zugleich nah das Poetische Varatharajahs Sprachexperiment steht: Der extreme Detaillismus lässt die Sprache von der Drastik in die Poesie wechseln und umgekehrt. Als wären beide nur um eine Haaresbreite voneinander entfernt. Als könnte die eine Sprachform sich die andere einverleiben.
Präzise Satzperioden erklingen: "Lass mich der Schatten Deiner Hand sein. Öffne meine Lippen." Aber Varatharajah ertrinkt nicht etwa in der eigenen Sprachglückseligkeit. Vielmehr stellt er die Schönheit in harten Kontrast zu Trivialitäten wie dem mechanischen Vergehen der Zeit. Auf die poetische Sentenz folgt die schlichte Angabe "Es ist Mittwoch". Um direkt wieder das Register zu wechseln: "Das Licht halbiert meinen linken Unterschenkel. Ich vergesse immer in denselben Wörtern. Einmal war ich ein Kind und betete auf einem gebrochenen Knie weil Gottes Hunger mich kannte."
Solche Fügungen wären wie das Zerreißen einzelner Wörter am Seitenrand vielleicht nur extrem gut gearbeiteter Manierismus, wenn Varatharajah nicht noch ein Kunststück gelingen würde: Mit derselben Genauigkeit und drastischen Gnadenlosigkeit entfaltet er noch eine Liebesgeschichte. Sie erzählt von einem weit reisenden Schriftsteller - auf dessen Identifikation mit dem Autor des Romans legt es der Text mit einigem Aufwand an -, der schreibt und liest und letztlich vergeblich liebt. Höchstauflösung herrscht auch hier. Und die ständige Gefahr der Beziehung, in Gewalt zu kippen. Gerade weil das Paar sich schließlich getrennt hat, tritt der wiederkehrende Gedanke, sich den anderen einzuverleiben, in abermaliger Dringlichkeit auf.
Oder hat sich die geliebte Person längst in einen selbst einverleibt, weil sich die eigenen Gedanken einfach nicht mehr von ihr lösen können. Trotz aller räumlichen Distanz im Banne des anderen bleiben? Ja, dieser Roman ermächtigt sich des Denkens und Fühlens seiner Leser, als müsste er einfach nur beherzt zugreifen. Er ist aber zugleich bereit, die Wunden, die er schlägt, sorgsam zu behandeln. Als Leser sollte man sich dieses literarische Extrem in keinem Fall entgehen lassen. CHRISTIAN METZ
Senthuran Varatharajah: "Rot (Hunger)". Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2022. 120 S., geb., 23,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Senthuran Varatharajahs provozierend brillanter Roman "Rot (Hunger)" über Liebe und Kannibalismus
Dieser Roman setzt aufs Äußerste. Wobei die Extreme sich in Senthuran Varatharajahs "Rot (Hunger)" ineinander verschlingen, als wären sie ihrerseits von unstillbarem Hunger geplagt. Oder sind sie statt im Todes- doch im Liebeskampf verschlungen? Am provokantesten an diesem Roman ist sicherlich, von der Anthropophagie zu erzählen: Eins werden durch Einverleibung des anderen - das gehört gleichermaßen zu den Sehnsuchtsfiguren der Liebe wie zu den grausamsten Angstphantasien. Ihre Faszination strahlen sie seit den antiken Erzählungen vom Verspeisen der eigenen Kinder aus (von Kronos bis Thyestes). Sie schlug sich aber zum Beispiel auch in den Vorstellungswelten brasilianischer Kolonialisten nieder.
Varatharajahs Roman betont mit seinem Untertitel die Liebesseite: "Dies ist eine Liebesgeschichte". Warum extra betont werden muss, dass es sich darum handelt? Weil der theoretisch versierte Religionswissenschaftler Senthuran Varatharajah nichts davon hält, die Anthropophagie nur als Metapher zu verstehen. Hier wird tatsächlich mit Haut und Haar verzehrt: "A legt das Messer neben sein Gesicht. / A wartet. / A betet / A setzt noch einmal die Klinge oben / an Bs Hals an über seinem / Kehlkopf wie - eine Geste." Und dann der Schnitt. Zu nah dran? Zu viel Information? Zu große Datendichte? Zu hohe Auflösung? Das ist das zweite Extrem dieses Romans. Er wagt sich vor in das Feld erzählerischer Drastik. Für den Drastiker gilt angesichts der Grausamkeit: "Sieh hin / Sieh genauer hin." Um echoartig zu wiederholen: "Sieh hin / Sieh genau hin." Noch dorthin schauen, wo andere Erzählungen längst abgebrochen haben, den Vorhang des Schweigens herunterreißen, hinter dem sich das Explizite verbirgt.
Doch es geht noch extremer: Wie bei der Beschwörungsformel des genauen Hinsehens, so handelt es sich auch bei zahlreichen weiteren eingespielten Sätzen um (bearbeitete) Zitate aus dem originalen Schriftverkehr zwischen Armin Meiwes und Bernd Jürgen Brandes. Ersteren ernannte die Boulevard-Presse ehedem zum "Kannibalen von Rotenburg". Der Dokumentarismus lädt die Lektüre des Romans mit zusätzlicher Intensität auf.
So blutig, so bestialisch, so rotten die Ereignisse auch gewirkt haben mögen; Varatharajah erzählt diese Geschichte des Verschlingens mit einem tiefen Verständnis für das, was Simone Weil einmal "menschliche Mechanik" genannt hat: Wer leidet, sucht sein Leiden mitzuteilen. Und hier kommen zwei an sich und der Welt Leidende zusammen, die plötzlich die Chance sehen, sich gemeinsam in ihrem Leid (mit)zuteilen und davon zu befreien. In Gang setzt sich mit dem Aufeinandertreffen - so unentrinnbar wie die Schwerkraft - eine Mechanik, dem Leiden zu entkommen, sich in ihm aufzuheben. Eine außerordentliche, religiösem Denken vertraute Vorstellung, die zugleich ein Gegengewicht einschließt: Die Art, wie sich hier zwei Extreme verschränken, weist die Kühle eines mechanischen Ablaufs auf.
In dieser Maschinerie lässt Varatharajah erzählerisch die Zuweisungen von Täter- und Opferrollen verschwimmen. Ist derjenige, der mit der Schuld des Verzehrens weiterlebt, der alleinige Täter? Oder ist er das Opfer desjenigen, der sich seinen sehnlichsten Wunsch erfüllte, von einem anderen einverleibt zu werden? Mit B.s Worten "Fahr mich zurück. Ich will, dass du mich zurückführst" endet der erste Teil des Romans. Mit der Umkehr vom Bahnhof, das Ticket nach Berlin ist schon gekauft, und den Worten "du kanns/t es machen" und "ich bitte dich darum" setzt der zweite Teil ein.
Die fatale, mitunter kaum zu ertragende "menschliche Mechanik" geht bei Varatharajah mit einer hochpräzisen Mechanik des Erzählens einher. In diesem Roman herrscht größtmögliche und zudem symmetrische Ordnung. Aus zwei Hälften (A und B) besteht die Erzählung, in jeweils vierzehn Kapitel unterteilt, jedes exakt vier Druckseiten lang. Keine Zeile zu viel, keine zu wenig. Fein ausbalancierte, kühle erzählerische Akribie, wie sie einst Goethe in "Die Wahlverwandtschaften" zum Maßstab seines Liebesexperiments machte. Nur dass man bei Varatharajah mit abermaligem Erschrecken erkennen muss, dass es sich bei der Präzision eben auch um das kalte Handwerk des Sezierens handelt.
Tatsächlich heißt "Rot" im Russischen "Mund". Jüngst hat die Dichterin Uljana Wolf im Zuge ihrer Übersetzungen von Eugene Ostashevskys Lyrik mithilfe der Vieldeutigkeit des Wortes "Rot" einen poetischen Zwischenraum eröffnet. Es wirkt befremdlich, wie fern und doch zugleich nah das Poetische Varatharajahs Sprachexperiment steht: Der extreme Detaillismus lässt die Sprache von der Drastik in die Poesie wechseln und umgekehrt. Als wären beide nur um eine Haaresbreite voneinander entfernt. Als könnte die eine Sprachform sich die andere einverleiben.
Präzise Satzperioden erklingen: "Lass mich der Schatten Deiner Hand sein. Öffne meine Lippen." Aber Varatharajah ertrinkt nicht etwa in der eigenen Sprachglückseligkeit. Vielmehr stellt er die Schönheit in harten Kontrast zu Trivialitäten wie dem mechanischen Vergehen der Zeit. Auf die poetische Sentenz folgt die schlichte Angabe "Es ist Mittwoch". Um direkt wieder das Register zu wechseln: "Das Licht halbiert meinen linken Unterschenkel. Ich vergesse immer in denselben Wörtern. Einmal war ich ein Kind und betete auf einem gebrochenen Knie weil Gottes Hunger mich kannte."
Solche Fügungen wären wie das Zerreißen einzelner Wörter am Seitenrand vielleicht nur extrem gut gearbeiteter Manierismus, wenn Varatharajah nicht noch ein Kunststück gelingen würde: Mit derselben Genauigkeit und drastischen Gnadenlosigkeit entfaltet er noch eine Liebesgeschichte. Sie erzählt von einem weit reisenden Schriftsteller - auf dessen Identifikation mit dem Autor des Romans legt es der Text mit einigem Aufwand an -, der schreibt und liest und letztlich vergeblich liebt. Höchstauflösung herrscht auch hier. Und die ständige Gefahr der Beziehung, in Gewalt zu kippen. Gerade weil das Paar sich schließlich getrennt hat, tritt der wiederkehrende Gedanke, sich den anderen einzuverleiben, in abermaliger Dringlichkeit auf.
Oder hat sich die geliebte Person längst in einen selbst einverleibt, weil sich die eigenen Gedanken einfach nicht mehr von ihr lösen können. Trotz aller räumlichen Distanz im Banne des anderen bleiben? Ja, dieser Roman ermächtigt sich des Denkens und Fühlens seiner Leser, als müsste er einfach nur beherzt zugreifen. Er ist aber zugleich bereit, die Wunden, die er schlägt, sorgsam zu behandeln. Als Leser sollte man sich dieses literarische Extrem in keinem Fall entgehen lassen. CHRISTIAN METZ
Senthuran Varatharajah: "Rot (Hunger)". Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2022. 120 S., geb., 23,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main