Wie die Hungerepidemien der 1930er-Jahre die Ukraine veränderten: Anne Applebaums monumentales Zeugnis des Holodomors verleiht Millionen ukrainischen Opfern eine Stimme Der gegenwärtige Krieg in der Ukraine ist ohne diese historische Last nicht zu verstehen - der erzwungene Hungertod von mehr als drei Millionen Ukrainern 1932 und 1933, Holodomor genannt, war eine der größten Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Und sie hat Folgen bis heute - Stalins "Krieg gegen die Ukraine" hat sich tief im kollektiven Bewusstsein der osteuropäischen Völker verankert. Pulitzer-Preisträgerin Anne Applebaum vereint in ihrer Darstellung auf eindrückliche Weise die Perspektive der Täter und jene der Opfer: Sie zeigt Stalins Terrorregime gegen die Ukraine, die Umstände der Vernichtungspolitik - und verleiht zugleich den hungernden Ukrainern eine Stimme. Ein gewaltiges Buch, erschütternd und erhellend zugleich. Ausstattung: mit Abb.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.05.2019Wer nicht hungert, ist verdächtig
Die Menschheit hat Schulden auf ihre Utopien gemacht. Der Sozialismus ist eine davon. Aus Anlass von Anne Applebaums Buch "Roter Hunger".
Von Jürgen Kaube
Noch immer gilt der Sozialismus vielen als eine Utopie. Als Denkmöglichkeit, als etwas am Horizont, auf das es hinzuarbeiten gilt, als Inbegriff einer gerechten Wirtschafts-, ja Gesellschaftsordnung. Vom Faschismus würde niemand mit Verstand und Geschichtskenntnis so etwas sagen, auch wenn sich immer mehr Wirrköpfe melden, die Mussolini hochleben lassen, Reichsbürger spielen oder weiße Rasse. Schon die Analogie zwischen Faschismus und Sozialismus jedenfalls würden sich viele Linke verbitten.
Ein Buchtitel "Mit Sozialisten reden" wäre darum unfreiwillig komisch, denn der Sozialismus ist eine gut eingeführte Redensart. In Russland werden Lenin wie Stalin ("Sozialismus in einem Land") von führenden Politikern als große Männer verehrt. Das Erstaunen darüber hält sich in Grenzen, man findet vielmehr historische und völkerpsychologische Entschuldigungen. Vergleichbare Gesten zugunsten nationalsozialistischer Verbrecher würden hingegen zu Recht Empörung auslösen. Zumindest Lenin und die russische Revolution können auch außerhalb Russlands auf Wertschätzung ihres angeblichen Beitrags zum Menschheitsfortschritt rechnen. Der Sozialismus, so heißt es, war eine respektable Idee, die leider in und an der Wirklichkeit gescheitert ist. Man schreibt ihm humane Absichten gut. Er gilt als diskutable Phantasie.
Die amerikanische Historikerin Anne Applebaum hat jetzt ein Buch über die Wirklichkeit des Sozialismus, der Kollektivierung und des Hasses auf das Privateigentum vorgelegt. In "Roter Hunger. Stalins Krieg gegen die Ukraine" schildert sie dabei nicht nur eine Episode aus der Geschichte der Sowjetunion. Zwischen 1917 und 1933 entfaltete sich vielmehr im Gebiet zwischen Winnyzja und Charkiw, Kiew und Donezk die Logik der sozialistischen Kollektivierung in ihrer grausamen Konsequenz.
Sie hatte eine doppelte Grundlage: Die Verachtung der Bolschewiki für die Ukraine, die als rückständige Region ohne Anspruch auf nationale Selbstbestimmung galt, deren einzige Aufgabe es sei, Russland zu ernähren. Und das Urteil von Karl Marx, Bauern seien gar keine "Klasse". Sie "können sich nicht vertreten, sie müssen vertreten werden." Lenin verschärfte das noch. Viele Bauern dächten wie Kapitalisten, weil sie ja Eigentum hätten, weswegen noch der kleinste Landbesitzer zu konterrevolutionären Gesinnungen neige. Der Name, dem man diesem Feind des Sozialismus gab, war "Kulak".
Damit, dass der Sozialismus nicht nur den Nationalstaat, sondern auch das Landeigentum und die selbständigen Bauern zum Verschwinden bringen würde, wurde blutig Ernst gemacht. Wer Ukrainisch sprach, war nach der zweiten Besetzung des Landes durch die Bolschewiki mit dem Tode bedroht. Und wer Bauer war, wurde drangsaliert. Denn die Arbeiter, Soldaten und Funktionäre von Moskau bis Petersburg mussten versorgt werden. Andernfalls wäre die Unterstützung für die Revolution geschwunden. Doch natürlich setzten Kollektivierung und Zwangsbewirtschaftung nicht gerade Anreize für eine erhöhte Produktion. Also trat der Sozialismus schnell in eine Schleife von Repression, Nahrungsmittelverknappung und weiterer Repression ein, in der sich die Mittel der Unterdrückung ständig verschärften, weil ihre Folge ein wirtschaftliches Desaster war: Enteignung von Land, Beschlagnahme von Getreide, Plünderung, Terror und Massentötung von Leuten, die nicht mitmachen wollten oder konnten.
Schon während der "Entkosakisierung" 1919 wurden 12 000 Menschen hingerichtet, aber das war nur ein Vorspiel. Der Kreis der Volksfeinde wurde immer größer. War der Begriff "Kulak" zunächst für wohlhabende Bauern reserviert, war am Ende jede Familie, die erfolgreich anbaute oder überhaupt etwas besaß, beispielsweise eine einzige Kuh, ja, die sich auch nur ernähren wollte, eine von staatsfeindlichen Kulaken. Deren Ausrottung belief sich am Ende allein in der Ukraine auf fast vier Millionen Tote: durch Entzug von Nahrungsmitteln und durch direkten Terror.
Dass die Nahrungsknappheit auf falsche Anreize, den Weltkrieg, den Bürgerkrieg und Missernten zurückging, focht die Sozialisten nicht an. Für sie gab es überhaupt nur Politik, alles war eine Frage des Willens und der Bereitschaft, Entscheidungen zugunsten des von ihnen definierten Gemeinwohls durchzusetzen. Wo noch heute "Demokratisierung" mit "Politisierung" gleichgesetzt wird und beides umstandslos als Wohlfahrtsprojekt gilt, bietet die Geschichte der Sowjetunion viel Stoff zum Nachdenken. Die Bolschewiki setzten beispielsweise "politische" Preise durch, also hohe Preise für Industriegüter und niedrige für Getreide. Das beförderte die Schattenwirtschaft und zog weiteren Hass auf diejenigen nach sich, die dort handelten oder die Nahrungsmittel gar nicht verkauften. Oder sie versuchten, die Bauern in riesigen Agrarbetrieben, angeblich in Gemeinschaftsbesitz, zu proletarisieren und zu entnationalisieren. Aber die Manager der Kollektivierung, von Moskau entsandte junge Sozialisten, hatten meist nicht die geringste Ahnung von der Landwirtschaft. Es setzte Landflucht ein, die dann ihrerseits gewaltsam unterbunden wurde. Zehn Jahre nach der Revolution war der Lebensstandard noch geringer als unter dem Zaren, und es ging immer weiter bergab.
Das wiederum durfte nicht am Sozialismus liegen, vor allem aber nicht an seinen Führern in Moskau. Es musste einerseits an den Bauern liegen, an den Priestern, am Ukrainertum. Der Widerstand gegen den ökonomischen Wahnsinn und Versuche zu überleben - die Bauern schlachteten zum Beispiel das Vieh lieber, als es beschlagnahmen zu lassen - wurden kriminalisiert. Andererseits wurde die Schuld den Funktionären vor Ort zugeschoben, die als Saboteure der weisen Planwirtschaft bezeichnet wurden. Ergo totgeschlagen. Am Ende reichte allein die Kenntnis der Hungersnot aus, hingerichtet zu werden. Als 1937 eine Volkszählung ergab, dass acht Millionen Menschen fehlten, Opfer des Hungers und entsprechend weniger geborene Kinder, wurden die obersten Volkszähler reihenweise erschossen.
Anne Applebaum beschreibt diese Verbrechen der russischen Revolution, ihrer Kollektivierungsideologie und ihrer politischen Mörder als sich abwärtsbewegende Eskalation hin zu wirtschaftlichen, politischen und moralischen Abgründen. Das Getreide, das die Bauern abliefern sollten, existierte am Ende nur noch in der Phantasie Stalins. Während Millionen Hungers starben, exportierte die Sowjetunion, was man ihnen weggenommen hatte, um an Devisen heranzukommen. Mit den Produkten der glorreichen Industrialisierung gelang das nämlich nicht. Am Ende entzogen die Parteifunktionäre den Bauern sogar das Saatgut und tobten, wenn gar nichts mehr aus ihnen herauszuholen war. Für Mundraub wurde die Todesstrafe eingeführt; schon sechs Monate nach Erlass des entsprechenden Gesetzes waren 4500 Personen deshalb hingerichtet worden. Wurde eine Familie beim Essen angetroffen, konnte das also zu Erschießungen führen. Wer nicht hungerte, so schreibt Applebaum, war verdächtig. Die Denunziation blühte, weil man mitunter denen, die Schuldige lieferten, Brot versprochen hatte. Zuletzt herrschte freilich nur noch Apathie: "Die Leute sind abgestumpft, sie reagieren überhaupt nicht mehr. Nicht auf das Sterben, nicht auf den Kannibalismus, auf gar nichts", hielt ein Parteifunktionär 1933 fest.
Dass sich auch westliche Journalisten, Intellektuelle und Politiker an der Vertuschung dieser Hölle beteiligten, gehört mit zu ihrer Geschichte. Als George Bernard Shaw 1931 seinen 75. Geburtstag in Moskau mit einem vegetarischen Festmahl feiern ließ, dankte er seinen Gastgebern und wendete sich gegen antisowjetische Propaganda. Freunde hätten ihn für seine Reise nach Russland mit Konservendosen ausgestattet. "Sie meinten, Russland würde hungern. Aber ich warf alles in Polen aus dem Zugfenster, bevor ich die sowjetische Grenze erreichte." Ein Journalist notierte, man habe gespürt, wie sich den Zuhörern bei diesen Worten kollektiv der Magen zusammenzog.
Am besten aber brachte die Einstellung vieler Fernanhänger des Sozialismus der von Applebaum zitierte russische Schriftsteller Andrej Platonow zum Ausdruck. In seinem Stück "14 Rote Hütten" drängt ein ausländischer Intellektueller bei seinem Besuch in der Sowjetunion: "Wo ist hier der Sozialismus? Zeigen Sie ihn sofort, mich ärgert der Kapitalismus!" Wen der Kapitalismus ärgert, wofür es viele Gründe gibt, sollte sich mit der Geschichte seines Gegenteils und dessen Hinterlassenschaft befassen. Und zwar nicht nur mit seiner Ideengeschichte, sondern auch mit den Orten, an denen seine Phrasen Wirklichkeit wurden.
Anne Applebaum stellt ihr Buch "Roter Hunger. Stalins Krieg gegen die Ukraine" (Siedler Verlag, Berlin 2019) heute, am 13. Mai, in Berlin um 18 Uhr in der Quadriga am Werderschen Markt vor.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Menschheit hat Schulden auf ihre Utopien gemacht. Der Sozialismus ist eine davon. Aus Anlass von Anne Applebaums Buch "Roter Hunger".
Von Jürgen Kaube
Noch immer gilt der Sozialismus vielen als eine Utopie. Als Denkmöglichkeit, als etwas am Horizont, auf das es hinzuarbeiten gilt, als Inbegriff einer gerechten Wirtschafts-, ja Gesellschaftsordnung. Vom Faschismus würde niemand mit Verstand und Geschichtskenntnis so etwas sagen, auch wenn sich immer mehr Wirrköpfe melden, die Mussolini hochleben lassen, Reichsbürger spielen oder weiße Rasse. Schon die Analogie zwischen Faschismus und Sozialismus jedenfalls würden sich viele Linke verbitten.
Ein Buchtitel "Mit Sozialisten reden" wäre darum unfreiwillig komisch, denn der Sozialismus ist eine gut eingeführte Redensart. In Russland werden Lenin wie Stalin ("Sozialismus in einem Land") von führenden Politikern als große Männer verehrt. Das Erstaunen darüber hält sich in Grenzen, man findet vielmehr historische und völkerpsychologische Entschuldigungen. Vergleichbare Gesten zugunsten nationalsozialistischer Verbrecher würden hingegen zu Recht Empörung auslösen. Zumindest Lenin und die russische Revolution können auch außerhalb Russlands auf Wertschätzung ihres angeblichen Beitrags zum Menschheitsfortschritt rechnen. Der Sozialismus, so heißt es, war eine respektable Idee, die leider in und an der Wirklichkeit gescheitert ist. Man schreibt ihm humane Absichten gut. Er gilt als diskutable Phantasie.
Die amerikanische Historikerin Anne Applebaum hat jetzt ein Buch über die Wirklichkeit des Sozialismus, der Kollektivierung und des Hasses auf das Privateigentum vorgelegt. In "Roter Hunger. Stalins Krieg gegen die Ukraine" schildert sie dabei nicht nur eine Episode aus der Geschichte der Sowjetunion. Zwischen 1917 und 1933 entfaltete sich vielmehr im Gebiet zwischen Winnyzja und Charkiw, Kiew und Donezk die Logik der sozialistischen Kollektivierung in ihrer grausamen Konsequenz.
Sie hatte eine doppelte Grundlage: Die Verachtung der Bolschewiki für die Ukraine, die als rückständige Region ohne Anspruch auf nationale Selbstbestimmung galt, deren einzige Aufgabe es sei, Russland zu ernähren. Und das Urteil von Karl Marx, Bauern seien gar keine "Klasse". Sie "können sich nicht vertreten, sie müssen vertreten werden." Lenin verschärfte das noch. Viele Bauern dächten wie Kapitalisten, weil sie ja Eigentum hätten, weswegen noch der kleinste Landbesitzer zu konterrevolutionären Gesinnungen neige. Der Name, dem man diesem Feind des Sozialismus gab, war "Kulak".
Damit, dass der Sozialismus nicht nur den Nationalstaat, sondern auch das Landeigentum und die selbständigen Bauern zum Verschwinden bringen würde, wurde blutig Ernst gemacht. Wer Ukrainisch sprach, war nach der zweiten Besetzung des Landes durch die Bolschewiki mit dem Tode bedroht. Und wer Bauer war, wurde drangsaliert. Denn die Arbeiter, Soldaten und Funktionäre von Moskau bis Petersburg mussten versorgt werden. Andernfalls wäre die Unterstützung für die Revolution geschwunden. Doch natürlich setzten Kollektivierung und Zwangsbewirtschaftung nicht gerade Anreize für eine erhöhte Produktion. Also trat der Sozialismus schnell in eine Schleife von Repression, Nahrungsmittelverknappung und weiterer Repression ein, in der sich die Mittel der Unterdrückung ständig verschärften, weil ihre Folge ein wirtschaftliches Desaster war: Enteignung von Land, Beschlagnahme von Getreide, Plünderung, Terror und Massentötung von Leuten, die nicht mitmachen wollten oder konnten.
Schon während der "Entkosakisierung" 1919 wurden 12 000 Menschen hingerichtet, aber das war nur ein Vorspiel. Der Kreis der Volksfeinde wurde immer größer. War der Begriff "Kulak" zunächst für wohlhabende Bauern reserviert, war am Ende jede Familie, die erfolgreich anbaute oder überhaupt etwas besaß, beispielsweise eine einzige Kuh, ja, die sich auch nur ernähren wollte, eine von staatsfeindlichen Kulaken. Deren Ausrottung belief sich am Ende allein in der Ukraine auf fast vier Millionen Tote: durch Entzug von Nahrungsmitteln und durch direkten Terror.
Dass die Nahrungsknappheit auf falsche Anreize, den Weltkrieg, den Bürgerkrieg und Missernten zurückging, focht die Sozialisten nicht an. Für sie gab es überhaupt nur Politik, alles war eine Frage des Willens und der Bereitschaft, Entscheidungen zugunsten des von ihnen definierten Gemeinwohls durchzusetzen. Wo noch heute "Demokratisierung" mit "Politisierung" gleichgesetzt wird und beides umstandslos als Wohlfahrtsprojekt gilt, bietet die Geschichte der Sowjetunion viel Stoff zum Nachdenken. Die Bolschewiki setzten beispielsweise "politische" Preise durch, also hohe Preise für Industriegüter und niedrige für Getreide. Das beförderte die Schattenwirtschaft und zog weiteren Hass auf diejenigen nach sich, die dort handelten oder die Nahrungsmittel gar nicht verkauften. Oder sie versuchten, die Bauern in riesigen Agrarbetrieben, angeblich in Gemeinschaftsbesitz, zu proletarisieren und zu entnationalisieren. Aber die Manager der Kollektivierung, von Moskau entsandte junge Sozialisten, hatten meist nicht die geringste Ahnung von der Landwirtschaft. Es setzte Landflucht ein, die dann ihrerseits gewaltsam unterbunden wurde. Zehn Jahre nach der Revolution war der Lebensstandard noch geringer als unter dem Zaren, und es ging immer weiter bergab.
Das wiederum durfte nicht am Sozialismus liegen, vor allem aber nicht an seinen Führern in Moskau. Es musste einerseits an den Bauern liegen, an den Priestern, am Ukrainertum. Der Widerstand gegen den ökonomischen Wahnsinn und Versuche zu überleben - die Bauern schlachteten zum Beispiel das Vieh lieber, als es beschlagnahmen zu lassen - wurden kriminalisiert. Andererseits wurde die Schuld den Funktionären vor Ort zugeschoben, die als Saboteure der weisen Planwirtschaft bezeichnet wurden. Ergo totgeschlagen. Am Ende reichte allein die Kenntnis der Hungersnot aus, hingerichtet zu werden. Als 1937 eine Volkszählung ergab, dass acht Millionen Menschen fehlten, Opfer des Hungers und entsprechend weniger geborene Kinder, wurden die obersten Volkszähler reihenweise erschossen.
Anne Applebaum beschreibt diese Verbrechen der russischen Revolution, ihrer Kollektivierungsideologie und ihrer politischen Mörder als sich abwärtsbewegende Eskalation hin zu wirtschaftlichen, politischen und moralischen Abgründen. Das Getreide, das die Bauern abliefern sollten, existierte am Ende nur noch in der Phantasie Stalins. Während Millionen Hungers starben, exportierte die Sowjetunion, was man ihnen weggenommen hatte, um an Devisen heranzukommen. Mit den Produkten der glorreichen Industrialisierung gelang das nämlich nicht. Am Ende entzogen die Parteifunktionäre den Bauern sogar das Saatgut und tobten, wenn gar nichts mehr aus ihnen herauszuholen war. Für Mundraub wurde die Todesstrafe eingeführt; schon sechs Monate nach Erlass des entsprechenden Gesetzes waren 4500 Personen deshalb hingerichtet worden. Wurde eine Familie beim Essen angetroffen, konnte das also zu Erschießungen führen. Wer nicht hungerte, so schreibt Applebaum, war verdächtig. Die Denunziation blühte, weil man mitunter denen, die Schuldige lieferten, Brot versprochen hatte. Zuletzt herrschte freilich nur noch Apathie: "Die Leute sind abgestumpft, sie reagieren überhaupt nicht mehr. Nicht auf das Sterben, nicht auf den Kannibalismus, auf gar nichts", hielt ein Parteifunktionär 1933 fest.
Dass sich auch westliche Journalisten, Intellektuelle und Politiker an der Vertuschung dieser Hölle beteiligten, gehört mit zu ihrer Geschichte. Als George Bernard Shaw 1931 seinen 75. Geburtstag in Moskau mit einem vegetarischen Festmahl feiern ließ, dankte er seinen Gastgebern und wendete sich gegen antisowjetische Propaganda. Freunde hätten ihn für seine Reise nach Russland mit Konservendosen ausgestattet. "Sie meinten, Russland würde hungern. Aber ich warf alles in Polen aus dem Zugfenster, bevor ich die sowjetische Grenze erreichte." Ein Journalist notierte, man habe gespürt, wie sich den Zuhörern bei diesen Worten kollektiv der Magen zusammenzog.
Am besten aber brachte die Einstellung vieler Fernanhänger des Sozialismus der von Applebaum zitierte russische Schriftsteller Andrej Platonow zum Ausdruck. In seinem Stück "14 Rote Hütten" drängt ein ausländischer Intellektueller bei seinem Besuch in der Sowjetunion: "Wo ist hier der Sozialismus? Zeigen Sie ihn sofort, mich ärgert der Kapitalismus!" Wen der Kapitalismus ärgert, wofür es viele Gründe gibt, sollte sich mit der Geschichte seines Gegenteils und dessen Hinterlassenschaft befassen. Und zwar nicht nur mit seiner Ideengeschichte, sondern auch mit den Orten, an denen seine Phrasen Wirklichkeit wurden.
Anne Applebaum stellt ihr Buch "Roter Hunger. Stalins Krieg gegen die Ukraine" (Siedler Verlag, Berlin 2019) heute, am 13. Mai, in Berlin um 18 Uhr in der Quadriga am Werderschen Markt vor.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Die Münchner Osteuropa-Historikerin Franziska Davies erkennt große Verdienste in Anne Applebaums Geschichte der ukrainischen Hungersnot, aber sie erhebt auch gravierende Einwände gegen manche Interpretationen. Beeindruckt ist Davies von der erzählerischen Kraft, mit der Applebaum die Ereignisse darstellt, die gewaltsame Kollektivierung der Landwirtschaft, die Deportation der Kulaken, der Zerschlagung des Widerstands und schließlich Stalins Generalangriff auf die ukrainische Kultur. Nicht einverstanden ist Davies jedoch mit Applebaums Deutung des Holodomors als geplanten Genozid oder als gezielte Vernichtung der ukrainischen Nation. Unbehagen bereitet ihr auch die geglättete Darstellung des Zweiten Weltkriegs. Da nähere sich Applebaum zu sehr einer nationalen Geschichtsschreibung, in der aus analytischen Begriffen politische werden.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.01.2020Ukrainische
Opfergeschichte
Anne Applebaum beschreibt die große Hungersnot zu
Beginn der Sowjetzeit – und blendet viele Fakten aus
VON FRANZISKA DAVIES
Zu den umstrittensten historischen Ereignissen zwischen Russland und der Ukraine gehört nicht erst seit dem russischen Angriff auf die Ukraine im Jahr 2014 die Hungersnot in der Sowjetukraine von 1932 bis 1933. Im Wesentlichen verursacht durch Josef Stalins Politik der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft und erbarmungslose Getreiderequirierungen, wurde und wird diese Hungersnot in der ukrainischen Emigration und in der heutigen Ukraine als Holodomor, als „Tod durch Hunger“, bezeichnet. Etwa vier Millionen Menschen verloren ihr Leben.
Besonders Viktor Juschtschenko, Präsident der Ukraine von 2005 bis 2010, trieb ein geschichtspolitisches Programm voran, das die Hungersnot als vielleicht den zentralen Erinnerungsort der Nation zu etablieren versuchte. 2006 erklärte das Parlament die Hungersnot zum Genozid am ukrainischen Volk, Denkmäler und Museen wurden errichtet, am prominentesten das Museum für den Holodomor-Genozid in Kiew.
Insofern hat sich Anne Applebaum, amerikanisch-polnische Publizistin und Historikerin, in ihrem neuesten Buch „Roter Hunger“ ein politisch umkämpftes Thema vorgenommen. Sie aber formuliert den Anspruch, vor allem erzählen zu wollen „was eigentlich geschah“, zum einen in Bezug auf die Hungersnot selbst, zum anderen in Bezug auf ihre Erinnerungsgeschichte. Tatsächlich legt sie aber sehr wohl eine ganz bestimmte Deutung der Hungersnot vor, indem sie diese als Teil einer ukrainischen Nationalgeschichte erzählt. Folgerichtig für diesen Ansatz beginnt sie ihre Darstellung mit dem aufkommenden Streben ukrainischer Eliten nach nationaler Abgrenzung von Polen und Russland im 19. Jahrhundert und schließlich auch nach eigener Staatlichkeit.
In der Tat wurde das Gebiet der heutigen Ukraine zu dieser Zeit vom Habsburger und vom Russischen Reich dominiert und erst mit dem Zerfall der beiden Reiche im Zuge des Ersten Weltkriegs unternahmen Ukrainer in der heutigen West- und in der Zentralukraine Versuche, einen eigenen Staat zu gründen. Dies wurde sowohl vom wiedergegründeten Polen als auch von den Bolschewiki Sowjetrusslands erfolgreich bekämpft, sodass die Ukrainer in der Zwischenkriegszeit abermals von unterschiedlichen Staaten regiert wurden. Allerdings gestanden die Bolschewiki bei der Gründung der Union Sozialistischer Sowjetrepubliken im Jahr 1922 den Ukrainern eine eigene Sowjetrepublik zu und erkannten so die Existenz einer ukrainischen Nationalität explizit an. Dies stand im Gegensatz zur Politik des Zarenreiches, dessen Innenminister 1863 erklärt hatte, dass es „keinerlei besondere kleinrussische (d. h. ukrainische) Sprache gab, gibt und geben darf.“
Applebaum betont aber vor allem die Kontinuitäten zwischen den Eliten des Zarenreichs und der neuen Sowjetelite: Beide teilten einen abfälligen Blick auf die Ukraine, der sich im Falle der Bolschewiki durch die Widerstände in der Ukraine gegen die neue sowjetische Macht während des Russischen Bürgerkriegs nochmals verschärfte. Schon 1921 gab es eine erste schwere Hungersnot in der Ukraine, aber auch in anderen Regionen des sich formierenden Sowjetreichs. Ausgelöst wurden diese durch jene Strategien, die zu Beginn der 1930er-Jahre zu einer noch größeren Katastrophe führen sollten. Die Bolschewiki trugen den Klassenkampf ins Dorf, spielten wohlhabendere Bauernfamilien gegen die ärmeren aus, terrorisierten die Bevölkerung und requirierten trotz schlechter Ernten das Getreide der Bauern.
Die Hungersnot der 1930er-Jahre sollte aber die Erfahrungen der 1920er-Jahre noch weit übertreffen. Als sich Josef Stalin als Führer der Sowjetunion durchsetzte, begann bald sein „Krieg gegen die Ukraine“ – so die These Applebaums. Die gewaltsame Kollektivierung der Landwirtschaft und die Deportation angeblich reicher Bauern, die sogenannten Kulaken (russisch) beziehungsweise Kurkuli (ukrainisch), und erneute Requirierungskampagnen von Lebensmitteln stießen in der ländlichen Bevölkerung der Sowjetukraine sowie in Teilen des ukrainischen Parteiapparats auf Widerstand. Dies habe Stalins Angst befeuert, die Ukraine für das sowjetische Projekt zu „verlieren“. Er befahl, den ukrainischen Parteiapparat von vermeintlich unzuverlässigen Personen zu säubern und startete außerdem einen Generalangriff gegen Intellektuelle, die ukrainische Sprache und Kultur. Verhaftungen, Massenentlassungen und Todesurteile konnten alle treffen, die aus Sicht Moskaus „Nationalisten“ waren. Auf dem Land erreichte die Hungersnot 1933 ihren Höhepunkt, zum Widerstand waren die Ukrainer und Ukrainerinnen physisch nun nicht mehr in der Lage.
In diesem Jahr wurden die drastischen Maßnahmen langsam zurückgefahren, aber für die Menschen in der Ukraine ging der staatliche Terror bald weiter. Wie in anderen Regionen kostete Stalins „Großer Terror“ auch in der Ukraine Zehntausende Menschen das Leben. Auf die sowjetischen Verbrechen folgten mit dem deutschen Angriff im Juni 1941 jene der NS-Besatzung, die die Ukraine zu einem der Hauptschauplätze des Holocaust machte.
All diese Ereignisse beschreibt Applebaum eindrücklich und diese erzählerische Kraft ist die größte Stärke ihres Buches. Sie lässt die Opfer der Hungersnot zu Wort kommen und rekonstruiert, wie diese den Hunger erlebten, wie er manche zum Kannibalismus trieb, nicht selten innerhalb der eigenen Familie, und gibt ihnen so eine Stimme. Das allein ist ein großes Verdienst. Applebaums Darstellung ist aber gleichzeitig in vielfacher Hinsicht problematisch. In ihrer Lesart war der Holodomor der Versuch Stalins, die Ukraine als Nation zu vernichten. Die ukrainische Nation aber erwies sich als widerständig und überlebte. Während in der Sowjetunion die Erinnerung an die Hungersnot unterdrückt wurde und vor allem linke westliche Intellektuelle sie entweder herunterspielten oder negierten, überlebte sie im Westen vor allem durch die ukrainische Emigration.
Mit der Entstehung einer unabhängigen Ukraine im Jahr 1991 konnte der Hungersnot schließlich auch offiziell gedacht werden. Mit dieser Interpretation folgt Applebaum einer nationalen Opfer- und Widerstandsgeschichte, die sich in Teilen der Ukraine großer Beliebtheit erfreut. Aber es gibt gute Gründe, warum die Geschichtswissenschaft seit Jahrzehnten vermeintlich lineare nationale Geschichten hinterfragt. Diese funktionieren in der Regel nur, wenn bestimmte Aspekte ausgeblendet werden. So auch in diesem Fall. Es beginnt mit der Frage, ob die Hungersnot tatsächlich Ergebnis eines Kriegs gegen die Ukraine war, der genozidale Züge trug, wie Applebaum zumindest nahelegt. Dabei verweist sie selbst darauf, dass es zu Beginn der Dreißigerjahre auch in der russischen Wolgaregion und der kasachischen Steppe zu verheerenden Hungersnöten kam. Hintergrund war wie in der Ukraine Stalins Ziel, die Sowjetunion in kürzester Zeit zu industrialisieren und die Kollektivierung der Landwirtschaft mit brutalen und teilweise mörderischen Mitteln voranzutreiben und die Nomaden zur Sesshaftigkeit zu zwingen. Zwar war Stalins Politik in der Ukraine zweifelsohne auch gegen die Ukraine als Nation gerichtet, aber ist dieser Befund ausreichend, um die Hungersnot als Genozid einzustufen und sie so zumindest implizit in die Nähe der industriellen Vernichtung der Juden durch Deutschland im Zweiten Weltkrieg zu rücken?
Was ist der geschichtswissenschaftliche analytische Wert eines Begriffs, der zum einen noch eine juristische Dimension hat, zum anderen aber auch zu einem politischen Kampfbegriff geworden ist? So war es sicher kein Zufall, dass russische Eliten der heutigen Ukraine etwa als Reaktion auf deren Sprachpolitik Genozid an der russischsprachigen Bevölkerung vorwerfen – selbstverständlich ein völlig abstruser Vorwurf.
Noch fragwürdiger ist Applebaums knappe Darstellung des Zweiten Weltkriegs. Schlicht falsch ist ihre These, dass die Ukrainer als Slawen zwar von den Nazis höher eingestuft wurden als die Juden, aber ebenso „letztlich zur Vernichtung bestimmt“ gewesen seien. Hier verkennt Applebaum die Unterschiede zwischen Juden und Slawen in der NS-Ideologie. Juden waren anders als Slawen die Gruppe, für die aus Sicht der Nationalsozialisten am Ende nur die totale physische Vernichtung stehen konnte. Damit ist nicht gesagt, dass Ukrainer nicht in hohem Maße zu Opfern der deutschen Besatzer wurden, denen sie in der Tat als „Untermenschen“ galten. Einige dieser Verbrechen werden von Applebaum benannt: Die Deutschen behandelten die mehr als drei Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen, unter ihnen viele Ukrainer, so grausam, dass sie massenhaft starben. Etwa 1,5 Millionen Ukrainer wurden zur Zwangsarbeit nach Deutschland deportiert und die NS-Besatzung verfolgte eine Hungerpolitik gegenüber der Lokalbevölkerung. Freilich waren davon nicht nur Ukrainer betroffen – die Belagerung Leningrads war der Versuch, eine ganze Stadtbevölkerung durch Hunger zu vernichten. Nicht erwähnt werden von Applebaum die Massenpogrome, die zu einem erheblichen Teil Ukrainer kurz nach dem deutschen Einmarsch in der heutigen Westukraine im Jahr 1941 an ihren jüdischen Nachbarn verübten, denen sie Kollaboration mit der gerade abgezogenen Sowjetherrschaft vorwarfen. Zwar fachten die Deutschen diese bereitwillig an, aber ein zentraler Grund für die Gewalttaten war der ukrainische Antisemitismus, der wie in den meisten europäischen Nationalismen auch, schon vor dem Zweiten Weltkrieg kultiviert wurde.
Unerwähnt bleibt bei Applebaum ebenso die Kollaboration ukrainischer Faschisten mit den Deutschen sowie die Ermordung von annähernd Hunderttausend Polen in Wolhynien in der heutigen Nordwestukraine durch die sogenannte Ukrainische Aufstandsarmee (UPA) zwischen 1943 und 1945. Hierbei handelte sich um die ethnische Säuberung eines Territoriums, das ukrainische Nationalisten für ihre Vision eines homogenen Staats beanspruchten. Ukrainische Täter zu benennen ist keine Relativierung des Leidens ukrainischer Opfer, sondern gehört in jede Darstellung, die wissenschaftlichen Kriterien folgt, und nicht politischen.
Ausgesprochen selektiv und dadurch teilweise irreführend ist schließlich das Bild, das Appelbaum von der Erinnerung an die Hungersnot zeichnet. Denn auch in der ukrainischen Emigration im Westen lebte jener Strang des ukrainischen Nationalismus fort, der die Ermordung von Juden und Polen während des Zweiten Weltkriegs weiterhin guthieß und die Erinnerung an die Hungersnot auf problematische Weise mitprägte. Auf das alte Feindbild des „Judeo-Bolschewismus“ zurückgreifend, wurden Juden für die Hungersnot verantwortlich gemacht. Solche antisemitischen Untertöne haben sich teilweise bis heute in den Debatten über die Hungersnot gehalten und nicht selten geht eine Heroisierung ukrainischer Nationalisten mit der Einstufung der Hungersnot als Genozid am ukrainischen Volk einher.
Ukrainischer Antisemitismus und xenophober Nationalismus kommen bei Applebaum aber fast ausschließlich als Bestandteil sowjetischer beziehungsweise russischer Desinformationskampagnen gegen die Ukraine vor. Bis heute sieht sie eine lange Tradition russische Tradition am Werk, die Ukraine als Nation zu diskreditieren. Und dies ist ja keineswegs falsch. In der Tat konnten und können große Teile der russischen Gesellschaft die Unabhängigkeit der Ukraine nur schwer akzeptieren, und seit dem Majdan von 2013 verschärfte sich die Dämonisierung der Ukraine noch einmal erheblich. Die aggressive russische Desinformationskampagne gegen die Ukraine darf aber nicht dazu verleiten, die Geschichte des ukrainischen Nationalismus zu verkürzen.
Applebaum erweist denjenigen Ukrainern einen Bärendienst, die sich gegen die Politisierung von Geschichte sowie die Heroisierung ukrainischer Faschisten wehren, für eine demokratische und inklusive Ukraine kämpfen und dabei zugleich den Millionen ukrainischen Opfern der Hungersnot von 1932 bis 33 angemessen gedenken möchten.
Franziska Davies arbeitet als Osteuropahistorikerin an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählt die Geschichte Russlands im 19. und 20. Jahrhundert.
Etwa vier Millionen Menschen
starben in den Jahren 1932/33
aufgrund von Stalins Politik
Besonders fragwürdig
fällt die Darstellung des
Zweiten Weltkriegs aus
Antisemitische Untertöne
halten sich bis heute
in der innerukrainischen Debatte
Anne Applebaum:
Roter Hunger.
Stalins Krieg gegen
die Ukraine.
Aus dem Englischen von Martin Richter.
Siedler-Verlag,
München 2019.
544 Seiten, 36 Euro.
Jedes Jahr versammeln sich zahlreiche Menschen an der 2006 eröffneten „Gedenkstätte in Erinnerung an den Holodomor“ in Kiew, hier ein Foto von 2015.
Foto: SERGEI SUPINSKY/AFP
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Opfergeschichte
Anne Applebaum beschreibt die große Hungersnot zu
Beginn der Sowjetzeit – und blendet viele Fakten aus
VON FRANZISKA DAVIES
Zu den umstrittensten historischen Ereignissen zwischen Russland und der Ukraine gehört nicht erst seit dem russischen Angriff auf die Ukraine im Jahr 2014 die Hungersnot in der Sowjetukraine von 1932 bis 1933. Im Wesentlichen verursacht durch Josef Stalins Politik der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft und erbarmungslose Getreiderequirierungen, wurde und wird diese Hungersnot in der ukrainischen Emigration und in der heutigen Ukraine als Holodomor, als „Tod durch Hunger“, bezeichnet. Etwa vier Millionen Menschen verloren ihr Leben.
Besonders Viktor Juschtschenko, Präsident der Ukraine von 2005 bis 2010, trieb ein geschichtspolitisches Programm voran, das die Hungersnot als vielleicht den zentralen Erinnerungsort der Nation zu etablieren versuchte. 2006 erklärte das Parlament die Hungersnot zum Genozid am ukrainischen Volk, Denkmäler und Museen wurden errichtet, am prominentesten das Museum für den Holodomor-Genozid in Kiew.
Insofern hat sich Anne Applebaum, amerikanisch-polnische Publizistin und Historikerin, in ihrem neuesten Buch „Roter Hunger“ ein politisch umkämpftes Thema vorgenommen. Sie aber formuliert den Anspruch, vor allem erzählen zu wollen „was eigentlich geschah“, zum einen in Bezug auf die Hungersnot selbst, zum anderen in Bezug auf ihre Erinnerungsgeschichte. Tatsächlich legt sie aber sehr wohl eine ganz bestimmte Deutung der Hungersnot vor, indem sie diese als Teil einer ukrainischen Nationalgeschichte erzählt. Folgerichtig für diesen Ansatz beginnt sie ihre Darstellung mit dem aufkommenden Streben ukrainischer Eliten nach nationaler Abgrenzung von Polen und Russland im 19. Jahrhundert und schließlich auch nach eigener Staatlichkeit.
In der Tat wurde das Gebiet der heutigen Ukraine zu dieser Zeit vom Habsburger und vom Russischen Reich dominiert und erst mit dem Zerfall der beiden Reiche im Zuge des Ersten Weltkriegs unternahmen Ukrainer in der heutigen West- und in der Zentralukraine Versuche, einen eigenen Staat zu gründen. Dies wurde sowohl vom wiedergegründeten Polen als auch von den Bolschewiki Sowjetrusslands erfolgreich bekämpft, sodass die Ukrainer in der Zwischenkriegszeit abermals von unterschiedlichen Staaten regiert wurden. Allerdings gestanden die Bolschewiki bei der Gründung der Union Sozialistischer Sowjetrepubliken im Jahr 1922 den Ukrainern eine eigene Sowjetrepublik zu und erkannten so die Existenz einer ukrainischen Nationalität explizit an. Dies stand im Gegensatz zur Politik des Zarenreiches, dessen Innenminister 1863 erklärt hatte, dass es „keinerlei besondere kleinrussische (d. h. ukrainische) Sprache gab, gibt und geben darf.“
Applebaum betont aber vor allem die Kontinuitäten zwischen den Eliten des Zarenreichs und der neuen Sowjetelite: Beide teilten einen abfälligen Blick auf die Ukraine, der sich im Falle der Bolschewiki durch die Widerstände in der Ukraine gegen die neue sowjetische Macht während des Russischen Bürgerkriegs nochmals verschärfte. Schon 1921 gab es eine erste schwere Hungersnot in der Ukraine, aber auch in anderen Regionen des sich formierenden Sowjetreichs. Ausgelöst wurden diese durch jene Strategien, die zu Beginn der 1930er-Jahre zu einer noch größeren Katastrophe führen sollten. Die Bolschewiki trugen den Klassenkampf ins Dorf, spielten wohlhabendere Bauernfamilien gegen die ärmeren aus, terrorisierten die Bevölkerung und requirierten trotz schlechter Ernten das Getreide der Bauern.
Die Hungersnot der 1930er-Jahre sollte aber die Erfahrungen der 1920er-Jahre noch weit übertreffen. Als sich Josef Stalin als Führer der Sowjetunion durchsetzte, begann bald sein „Krieg gegen die Ukraine“ – so die These Applebaums. Die gewaltsame Kollektivierung der Landwirtschaft und die Deportation angeblich reicher Bauern, die sogenannten Kulaken (russisch) beziehungsweise Kurkuli (ukrainisch), und erneute Requirierungskampagnen von Lebensmitteln stießen in der ländlichen Bevölkerung der Sowjetukraine sowie in Teilen des ukrainischen Parteiapparats auf Widerstand. Dies habe Stalins Angst befeuert, die Ukraine für das sowjetische Projekt zu „verlieren“. Er befahl, den ukrainischen Parteiapparat von vermeintlich unzuverlässigen Personen zu säubern und startete außerdem einen Generalangriff gegen Intellektuelle, die ukrainische Sprache und Kultur. Verhaftungen, Massenentlassungen und Todesurteile konnten alle treffen, die aus Sicht Moskaus „Nationalisten“ waren. Auf dem Land erreichte die Hungersnot 1933 ihren Höhepunkt, zum Widerstand waren die Ukrainer und Ukrainerinnen physisch nun nicht mehr in der Lage.
In diesem Jahr wurden die drastischen Maßnahmen langsam zurückgefahren, aber für die Menschen in der Ukraine ging der staatliche Terror bald weiter. Wie in anderen Regionen kostete Stalins „Großer Terror“ auch in der Ukraine Zehntausende Menschen das Leben. Auf die sowjetischen Verbrechen folgten mit dem deutschen Angriff im Juni 1941 jene der NS-Besatzung, die die Ukraine zu einem der Hauptschauplätze des Holocaust machte.
All diese Ereignisse beschreibt Applebaum eindrücklich und diese erzählerische Kraft ist die größte Stärke ihres Buches. Sie lässt die Opfer der Hungersnot zu Wort kommen und rekonstruiert, wie diese den Hunger erlebten, wie er manche zum Kannibalismus trieb, nicht selten innerhalb der eigenen Familie, und gibt ihnen so eine Stimme. Das allein ist ein großes Verdienst. Applebaums Darstellung ist aber gleichzeitig in vielfacher Hinsicht problematisch. In ihrer Lesart war der Holodomor der Versuch Stalins, die Ukraine als Nation zu vernichten. Die ukrainische Nation aber erwies sich als widerständig und überlebte. Während in der Sowjetunion die Erinnerung an die Hungersnot unterdrückt wurde und vor allem linke westliche Intellektuelle sie entweder herunterspielten oder negierten, überlebte sie im Westen vor allem durch die ukrainische Emigration.
Mit der Entstehung einer unabhängigen Ukraine im Jahr 1991 konnte der Hungersnot schließlich auch offiziell gedacht werden. Mit dieser Interpretation folgt Applebaum einer nationalen Opfer- und Widerstandsgeschichte, die sich in Teilen der Ukraine großer Beliebtheit erfreut. Aber es gibt gute Gründe, warum die Geschichtswissenschaft seit Jahrzehnten vermeintlich lineare nationale Geschichten hinterfragt. Diese funktionieren in der Regel nur, wenn bestimmte Aspekte ausgeblendet werden. So auch in diesem Fall. Es beginnt mit der Frage, ob die Hungersnot tatsächlich Ergebnis eines Kriegs gegen die Ukraine war, der genozidale Züge trug, wie Applebaum zumindest nahelegt. Dabei verweist sie selbst darauf, dass es zu Beginn der Dreißigerjahre auch in der russischen Wolgaregion und der kasachischen Steppe zu verheerenden Hungersnöten kam. Hintergrund war wie in der Ukraine Stalins Ziel, die Sowjetunion in kürzester Zeit zu industrialisieren und die Kollektivierung der Landwirtschaft mit brutalen und teilweise mörderischen Mitteln voranzutreiben und die Nomaden zur Sesshaftigkeit zu zwingen. Zwar war Stalins Politik in der Ukraine zweifelsohne auch gegen die Ukraine als Nation gerichtet, aber ist dieser Befund ausreichend, um die Hungersnot als Genozid einzustufen und sie so zumindest implizit in die Nähe der industriellen Vernichtung der Juden durch Deutschland im Zweiten Weltkrieg zu rücken?
Was ist der geschichtswissenschaftliche analytische Wert eines Begriffs, der zum einen noch eine juristische Dimension hat, zum anderen aber auch zu einem politischen Kampfbegriff geworden ist? So war es sicher kein Zufall, dass russische Eliten der heutigen Ukraine etwa als Reaktion auf deren Sprachpolitik Genozid an der russischsprachigen Bevölkerung vorwerfen – selbstverständlich ein völlig abstruser Vorwurf.
Noch fragwürdiger ist Applebaums knappe Darstellung des Zweiten Weltkriegs. Schlicht falsch ist ihre These, dass die Ukrainer als Slawen zwar von den Nazis höher eingestuft wurden als die Juden, aber ebenso „letztlich zur Vernichtung bestimmt“ gewesen seien. Hier verkennt Applebaum die Unterschiede zwischen Juden und Slawen in der NS-Ideologie. Juden waren anders als Slawen die Gruppe, für die aus Sicht der Nationalsozialisten am Ende nur die totale physische Vernichtung stehen konnte. Damit ist nicht gesagt, dass Ukrainer nicht in hohem Maße zu Opfern der deutschen Besatzer wurden, denen sie in der Tat als „Untermenschen“ galten. Einige dieser Verbrechen werden von Applebaum benannt: Die Deutschen behandelten die mehr als drei Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen, unter ihnen viele Ukrainer, so grausam, dass sie massenhaft starben. Etwa 1,5 Millionen Ukrainer wurden zur Zwangsarbeit nach Deutschland deportiert und die NS-Besatzung verfolgte eine Hungerpolitik gegenüber der Lokalbevölkerung. Freilich waren davon nicht nur Ukrainer betroffen – die Belagerung Leningrads war der Versuch, eine ganze Stadtbevölkerung durch Hunger zu vernichten. Nicht erwähnt werden von Applebaum die Massenpogrome, die zu einem erheblichen Teil Ukrainer kurz nach dem deutschen Einmarsch in der heutigen Westukraine im Jahr 1941 an ihren jüdischen Nachbarn verübten, denen sie Kollaboration mit der gerade abgezogenen Sowjetherrschaft vorwarfen. Zwar fachten die Deutschen diese bereitwillig an, aber ein zentraler Grund für die Gewalttaten war der ukrainische Antisemitismus, der wie in den meisten europäischen Nationalismen auch, schon vor dem Zweiten Weltkrieg kultiviert wurde.
Unerwähnt bleibt bei Applebaum ebenso die Kollaboration ukrainischer Faschisten mit den Deutschen sowie die Ermordung von annähernd Hunderttausend Polen in Wolhynien in der heutigen Nordwestukraine durch die sogenannte Ukrainische Aufstandsarmee (UPA) zwischen 1943 und 1945. Hierbei handelte sich um die ethnische Säuberung eines Territoriums, das ukrainische Nationalisten für ihre Vision eines homogenen Staats beanspruchten. Ukrainische Täter zu benennen ist keine Relativierung des Leidens ukrainischer Opfer, sondern gehört in jede Darstellung, die wissenschaftlichen Kriterien folgt, und nicht politischen.
Ausgesprochen selektiv und dadurch teilweise irreführend ist schließlich das Bild, das Appelbaum von der Erinnerung an die Hungersnot zeichnet. Denn auch in der ukrainischen Emigration im Westen lebte jener Strang des ukrainischen Nationalismus fort, der die Ermordung von Juden und Polen während des Zweiten Weltkriegs weiterhin guthieß und die Erinnerung an die Hungersnot auf problematische Weise mitprägte. Auf das alte Feindbild des „Judeo-Bolschewismus“ zurückgreifend, wurden Juden für die Hungersnot verantwortlich gemacht. Solche antisemitischen Untertöne haben sich teilweise bis heute in den Debatten über die Hungersnot gehalten und nicht selten geht eine Heroisierung ukrainischer Nationalisten mit der Einstufung der Hungersnot als Genozid am ukrainischen Volk einher.
Ukrainischer Antisemitismus und xenophober Nationalismus kommen bei Applebaum aber fast ausschließlich als Bestandteil sowjetischer beziehungsweise russischer Desinformationskampagnen gegen die Ukraine vor. Bis heute sieht sie eine lange Tradition russische Tradition am Werk, die Ukraine als Nation zu diskreditieren. Und dies ist ja keineswegs falsch. In der Tat konnten und können große Teile der russischen Gesellschaft die Unabhängigkeit der Ukraine nur schwer akzeptieren, und seit dem Majdan von 2013 verschärfte sich die Dämonisierung der Ukraine noch einmal erheblich. Die aggressive russische Desinformationskampagne gegen die Ukraine darf aber nicht dazu verleiten, die Geschichte des ukrainischen Nationalismus zu verkürzen.
Applebaum erweist denjenigen Ukrainern einen Bärendienst, die sich gegen die Politisierung von Geschichte sowie die Heroisierung ukrainischer Faschisten wehren, für eine demokratische und inklusive Ukraine kämpfen und dabei zugleich den Millionen ukrainischen Opfern der Hungersnot von 1932 bis 33 angemessen gedenken möchten.
Franziska Davies arbeitet als Osteuropahistorikerin an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählt die Geschichte Russlands im 19. und 20. Jahrhundert.
Etwa vier Millionen Menschen
starben in den Jahren 1932/33
aufgrund von Stalins Politik
Besonders fragwürdig
fällt die Darstellung des
Zweiten Weltkriegs aus
Antisemitische Untertöne
halten sich bis heute
in der innerukrainischen Debatte
Anne Applebaum:
Roter Hunger.
Stalins Krieg gegen
die Ukraine.
Aus dem Englischen von Martin Richter.
Siedler-Verlag,
München 2019.
544 Seiten, 36 Euro.
Jedes Jahr versammeln sich zahlreiche Menschen an der 2006 eröffneten „Gedenkstätte in Erinnerung an den Holodomor“ in Kiew, hier ein Foto von 2015.
Foto: SERGEI SUPINSKY/AFP
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»Anne Applebaums Buch wird gewiss zum Standardwerk über eines der größten Verbrechen der Menschheit.« Timothy Snyder