Eine faszinierende Familiengeschichte, die über Kontinente hinweg, vom kolonialen Amerika über das Europa der zwanziger und dreißiger Jahre und in die USA von den 1950ern bis herauf in die Gegenwart reicht, das ist Benfeys Erinnerungsbuch. Sein Vater Otto Theodor stammte aus der Verlegerdynastie Ullstein, seine Mutter aus einer amerikanischen Maurer- und Tabakpflanzerfamilie; sein Großonkel, der Bauhaus-Künstler Josef Albers, unterrichtete am Black Mountain College Größen der Moderne wie Robert Rauschenberg. Benfey beherrscht die Kunst, Orte und Personen plastisch werden zu lassen. Der rote Faden, der sie verbindet, bleibt aber immer die Geschichte der Familie, die uns auf die Spuren der titelgebenden Materialien führt: Sand, Stein und Ton.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.10.2014Auf der Suche nach dem richtigen Ton
Ein Material verbindet die Generationen über Kontinente und Zeiten hinweg: Christopher Benfey erzählt die verschlungene Geschichte seiner Familie.
Von Rose-Maria Gropp
Es gibt diese Bücher, die unter einem recht bescheidenen Titel daherkommen, und dann erschließt sich eine ganze Welt, mit der man nicht gerechnet hätte. "Roter Sand, schwarzer Stein, weißer Ton" von Christopher Benfey ist so ein Buch. Sein Autor ist Professor für Englisch am Mount Holyoke College in South Hadley, Massachusetts, einem College übrigens ausschließlich für Frauen. Für "The New York Review of Books", "The New York Times Book Review" und "The New Republic" verfasst er Kritiken; er hat über Emily Dickinson geschrieben und über Degas in New Orleans, außerdem Gedichte veröffentlicht. Kurz - er ist ein umfassend gebildeter Mann, zudem mit Phantasie begabt, wenn es darum geht, verschüttete Historie lebendig werden zu lassen.
Der Untertitel des Buchs, das in einem durchaus ambitionierten literarischen Ton gehalten ist, verheißt "Eine Familiengeschichte". Nun sind Familiengeschichten zum beliebten Genre avanciert, obwohl sie bloß dann interessant sind, wenn ihnen eine exemplarische Bedeutung zukommt: wenn sie über reine Privatheit hinausweisen, nicht nur genealogische (Selbst-)Bespiegelung betreiben, sondern unerwartete Brücken schlagen. Die amerikanische Originalausgabe beschreibt dieses Unterfangen besser als "Reflections on Art, Family, and Survival". Überleben ist das Tertium für die verschlungenen Pfade der Menschen und der künstlerischen Objekte. Bei Christopher Benfey bedeutet Familie über Zeiten und Räume hinweg verknüpfte Bande, Schicksale im Bann persönlicher und historischer Ereignisse und Katastrophen. Das Material, das alle Haupt- und Nebenwege über Kontinente hinweg verbindet, ist der Ton, jener Stoff, aus dem Ziegel und Krüge gebrannt werden.
Für Leser unserer Breiten sind vor allem die Passagen interessant, in denen es um Benfeys Vorfahren väterlicherseits im alten Europa geht. Sein Vater Ted heißt eigentlich Otto Theodor Benfey, ändert aber seinen Vornamen, als er 1936 mit zehn Jahren weg von seinen Eltern, weg aus Berlin-Charlottenburg, zu ausgewanderten Verwandten nach London geschickt wird. Die Nationalsozialisten sind am Ruder, die Benfeys sind assimilierte Juden. Etwas opak bleibt, ob die Verwandtschaft mit dem 1809 geborenen Göttinger Sanskrit-Forscher Theodor Benfey eine direkte ist oder eher eine gewählte; jedenfalls zieht der Autor diese Linie genussvoll aus. Der Vater kehrt nicht nach Deutschland zurück, er promoviert in London, geht nach Amerika und unterrichtet als Chemieprofessor am Quäker-College der Kleinstadt Richmond in Indiana; dort wächst Christopher mit seinen Brüdern auf.
Die andere väterliche Seite hat Wurzeln in der Verlagsdynastie Ullstein. Christopher Benfeys Urgroßmutter ist Toni Ullstein-Fleischmann, seine Großmutter ist deren Tochter Lotte, die seinen Großvater Eduard heiratet, der Reichswirtschaftsgerichtsrat in Berlin war, bis ihn die Nationalsozialisten um sein Amt bringen. Lottes Schwester ist Anni. Sie heiratet den Bauhauslehrer und Künstler Josef Albers, was den Autor auch zu dessen Großneffen macht. Das setzt ihn auf die Fährte nach dem "schwarzen Stein". Sie eben führt in das berühmte Black Mountain College in North Carolina, wo in den dreißiger und vierziger Jahren Anni und Josef Albers lehren, nachdem 1933 das Bauhaus geschlossen wird.
Die Genealogie der Mutter Rachel führt zurück auf Tabakpflanzer und Leute, die schon lange mit dem Ton zu tun haben, in North Carolina. Rachels Vater gibt den Tabak auf und widmet sich ganz dem Brennen und Verarbeiten von Ziegeln. Diese Seite ist nicht so illuster wie die europäische, aber von tiefer Verbundenheit zu ihren Ursprüngen und zur Natur, hoher Sorgfalt im Umgang mit der Materie und ebenfalls von künstlerischer Neigung. Das Leben der Mutter überschattet außerdem ein tragischer Verlust, der, zumindest unterschwellig, auch das Leben des Sohns Christopher prägt. All diese Verquickungen und Fährnisse lassen sich nicht nacherzählen, Benfey hat sie kunstreich miteinander verwoben. Das immer wieder - von Asien über Europa bis hin zum Black Mountain - aufscheinende Mäander-Muster ist dafür Vorbild. Die Kunst und ihr Handwerk werden zu pochenden Lebensadern. Über allem aber, fast möchte man sagen: schwebt die Töpferei, die Fertigkeit im Umgang mit dem Ton, den man zu Ziegeln oder zu Gefäßen brennen kann, an der Schnittstelle von Nutzen und Schönheit.
Kein Wunder, dass Edmund de Waal diesem Buch seine Anerkennung zollt. De Waal, der Autor der mitreißenden Chronik seiner jüdischen Familie "Der Hase mit den Bernsteinaugen", hat Benfeys Pfaden über die Kontinente und Zeitläufte hinweg Pate gestanden. Und beider sorgsame Übersetzerin ins Deutsche ist dabei Brigitte Hilzensauer. Was De Waal am Schicksal der Netsuke-Sammlung seiner Vorfahren entfaltet, versucht Benfey im Motiv des Tongefäßes festzuhalten.
Der dritte Teil des Buchs, dem weißen Ton gewidmet, ufert dann etwas aus in der Suche nach dem begehrten Stoff auf dem Gebiet der Cherokee-Indianer, wie sie seit den Zeiten Josiah Wedgewoods betrieben wurde. Es gelingt Benfey nicht, diese Exkursionen schlüssig auf sein Generalthema zurückzubiegen, zu lose sind die Verknüpfungen. Will man eine Metapher dafür finden, ließe sich sagen, dass seine sonst so rundlaufende Töpferscheibe jetzt eine Unwucht entwickelt. Wie viel feinsinniger ist dann wieder der Epilog, der um James McNeill Whistlers Porträt seiner Mutter kreist. Dieses Bildnis, so schreibt Benfey, sei die Kulmination des Künstlers beinah jahrzehntelanger Obsession mit asiatischer Töpferei.
In Whistlers Vorliebe für das eher strenge chinesische und japanische Porzellan will Benfey gar den Versuch einer "Gegenästhetik" zu Gustave Courbets Malweise sehen. Im "Arrangement in Grau und Schwarz", das Whistlers berühmtes Porträt auszeichnet, gerinnt vielleicht die Quintessenz des Buchs. Und vielleicht hat Benfey ein Buch geschrieben über die Suche nach seiner Mutter, nach dem mütterlichen Stoff. Wenn es heißt, dass Bücher wie Gefäße sind, dann löst "Roter Sand, schwarzer Stein, weißer Ton" dieses Diktum mindestens zweifach ein: Es bewahrt die individuellen Geschichten so gut wie die allgemeine Historie und amalgamiert sie, die von unterschiedlicher Konsistenz und Dichte sind. Und endlich ist es eben das Gefäß, in dem die große alte weltumspannende Geschichte der Gefäße und ihrer Fertigung selbst aufgehoben ist.
Christopher Benfey: "Roter Sand, schwarzer Stein, weißer Ton". Eine Familiengeschichte.
Aus dem Englischen von Brigitte Hilzensauer. Zsolnay Verlag, Wien 2014. 336 S., Abb., geb., 21,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Material verbindet die Generationen über Kontinente und Zeiten hinweg: Christopher Benfey erzählt die verschlungene Geschichte seiner Familie.
Von Rose-Maria Gropp
Es gibt diese Bücher, die unter einem recht bescheidenen Titel daherkommen, und dann erschließt sich eine ganze Welt, mit der man nicht gerechnet hätte. "Roter Sand, schwarzer Stein, weißer Ton" von Christopher Benfey ist so ein Buch. Sein Autor ist Professor für Englisch am Mount Holyoke College in South Hadley, Massachusetts, einem College übrigens ausschließlich für Frauen. Für "The New York Review of Books", "The New York Times Book Review" und "The New Republic" verfasst er Kritiken; er hat über Emily Dickinson geschrieben und über Degas in New Orleans, außerdem Gedichte veröffentlicht. Kurz - er ist ein umfassend gebildeter Mann, zudem mit Phantasie begabt, wenn es darum geht, verschüttete Historie lebendig werden zu lassen.
Der Untertitel des Buchs, das in einem durchaus ambitionierten literarischen Ton gehalten ist, verheißt "Eine Familiengeschichte". Nun sind Familiengeschichten zum beliebten Genre avanciert, obwohl sie bloß dann interessant sind, wenn ihnen eine exemplarische Bedeutung zukommt: wenn sie über reine Privatheit hinausweisen, nicht nur genealogische (Selbst-)Bespiegelung betreiben, sondern unerwartete Brücken schlagen. Die amerikanische Originalausgabe beschreibt dieses Unterfangen besser als "Reflections on Art, Family, and Survival". Überleben ist das Tertium für die verschlungenen Pfade der Menschen und der künstlerischen Objekte. Bei Christopher Benfey bedeutet Familie über Zeiten und Räume hinweg verknüpfte Bande, Schicksale im Bann persönlicher und historischer Ereignisse und Katastrophen. Das Material, das alle Haupt- und Nebenwege über Kontinente hinweg verbindet, ist der Ton, jener Stoff, aus dem Ziegel und Krüge gebrannt werden.
Für Leser unserer Breiten sind vor allem die Passagen interessant, in denen es um Benfeys Vorfahren väterlicherseits im alten Europa geht. Sein Vater Ted heißt eigentlich Otto Theodor Benfey, ändert aber seinen Vornamen, als er 1936 mit zehn Jahren weg von seinen Eltern, weg aus Berlin-Charlottenburg, zu ausgewanderten Verwandten nach London geschickt wird. Die Nationalsozialisten sind am Ruder, die Benfeys sind assimilierte Juden. Etwas opak bleibt, ob die Verwandtschaft mit dem 1809 geborenen Göttinger Sanskrit-Forscher Theodor Benfey eine direkte ist oder eher eine gewählte; jedenfalls zieht der Autor diese Linie genussvoll aus. Der Vater kehrt nicht nach Deutschland zurück, er promoviert in London, geht nach Amerika und unterrichtet als Chemieprofessor am Quäker-College der Kleinstadt Richmond in Indiana; dort wächst Christopher mit seinen Brüdern auf.
Die andere väterliche Seite hat Wurzeln in der Verlagsdynastie Ullstein. Christopher Benfeys Urgroßmutter ist Toni Ullstein-Fleischmann, seine Großmutter ist deren Tochter Lotte, die seinen Großvater Eduard heiratet, der Reichswirtschaftsgerichtsrat in Berlin war, bis ihn die Nationalsozialisten um sein Amt bringen. Lottes Schwester ist Anni. Sie heiratet den Bauhauslehrer und Künstler Josef Albers, was den Autor auch zu dessen Großneffen macht. Das setzt ihn auf die Fährte nach dem "schwarzen Stein". Sie eben führt in das berühmte Black Mountain College in North Carolina, wo in den dreißiger und vierziger Jahren Anni und Josef Albers lehren, nachdem 1933 das Bauhaus geschlossen wird.
Die Genealogie der Mutter Rachel führt zurück auf Tabakpflanzer und Leute, die schon lange mit dem Ton zu tun haben, in North Carolina. Rachels Vater gibt den Tabak auf und widmet sich ganz dem Brennen und Verarbeiten von Ziegeln. Diese Seite ist nicht so illuster wie die europäische, aber von tiefer Verbundenheit zu ihren Ursprüngen und zur Natur, hoher Sorgfalt im Umgang mit der Materie und ebenfalls von künstlerischer Neigung. Das Leben der Mutter überschattet außerdem ein tragischer Verlust, der, zumindest unterschwellig, auch das Leben des Sohns Christopher prägt. All diese Verquickungen und Fährnisse lassen sich nicht nacherzählen, Benfey hat sie kunstreich miteinander verwoben. Das immer wieder - von Asien über Europa bis hin zum Black Mountain - aufscheinende Mäander-Muster ist dafür Vorbild. Die Kunst und ihr Handwerk werden zu pochenden Lebensadern. Über allem aber, fast möchte man sagen: schwebt die Töpferei, die Fertigkeit im Umgang mit dem Ton, den man zu Ziegeln oder zu Gefäßen brennen kann, an der Schnittstelle von Nutzen und Schönheit.
Kein Wunder, dass Edmund de Waal diesem Buch seine Anerkennung zollt. De Waal, der Autor der mitreißenden Chronik seiner jüdischen Familie "Der Hase mit den Bernsteinaugen", hat Benfeys Pfaden über die Kontinente und Zeitläufte hinweg Pate gestanden. Und beider sorgsame Übersetzerin ins Deutsche ist dabei Brigitte Hilzensauer. Was De Waal am Schicksal der Netsuke-Sammlung seiner Vorfahren entfaltet, versucht Benfey im Motiv des Tongefäßes festzuhalten.
Der dritte Teil des Buchs, dem weißen Ton gewidmet, ufert dann etwas aus in der Suche nach dem begehrten Stoff auf dem Gebiet der Cherokee-Indianer, wie sie seit den Zeiten Josiah Wedgewoods betrieben wurde. Es gelingt Benfey nicht, diese Exkursionen schlüssig auf sein Generalthema zurückzubiegen, zu lose sind die Verknüpfungen. Will man eine Metapher dafür finden, ließe sich sagen, dass seine sonst so rundlaufende Töpferscheibe jetzt eine Unwucht entwickelt. Wie viel feinsinniger ist dann wieder der Epilog, der um James McNeill Whistlers Porträt seiner Mutter kreist. Dieses Bildnis, so schreibt Benfey, sei die Kulmination des Künstlers beinah jahrzehntelanger Obsession mit asiatischer Töpferei.
In Whistlers Vorliebe für das eher strenge chinesische und japanische Porzellan will Benfey gar den Versuch einer "Gegenästhetik" zu Gustave Courbets Malweise sehen. Im "Arrangement in Grau und Schwarz", das Whistlers berühmtes Porträt auszeichnet, gerinnt vielleicht die Quintessenz des Buchs. Und vielleicht hat Benfey ein Buch geschrieben über die Suche nach seiner Mutter, nach dem mütterlichen Stoff. Wenn es heißt, dass Bücher wie Gefäße sind, dann löst "Roter Sand, schwarzer Stein, weißer Ton" dieses Diktum mindestens zweifach ein: Es bewahrt die individuellen Geschichten so gut wie die allgemeine Historie und amalgamiert sie, die von unterschiedlicher Konsistenz und Dichte sind. Und endlich ist es eben das Gefäß, in dem die große alte weltumspannende Geschichte der Gefäße und ihrer Fertigung selbst aufgehoben ist.
Christopher Benfey: "Roter Sand, schwarzer Stein, weißer Ton". Eine Familiengeschichte.
Aus dem Englischen von Brigitte Hilzensauer. Zsolnay Verlag, Wien 2014. 336 S., Abb., geb., 21,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Rose-Maria Gropp ist erst ziemlich begeistert davon, wie sich hinter einem eher bescheidenen Titel dann doch ein höchst interessanter Stoff, eine ganze Welt, entfaltet, mit der sie nicht gerechnet hätte. Der amerikanische Autor Christopher Benfey entpuppt sich als so gelehrter wie fantasiebegabter Erzähler einer Familiengeschichte mit, wie es Gropp scheint, exemplarischer Bedeutung. Besonders spannend wird es für die Rezensentin, wenn Benfey die Linien seiner weitläufig verstreuten Familie über Zeiten und Räume hinweg bis ins alte Europa und nach Berlin verfolgt und dabei nicht nur über persönliche Schicksale berichtet, sondern auch historische Ereignisse streift. Zusammengehalten wird die Erzählung laut Gropp durch das Material Ton, der Ziegelverarbeitung genauer gesagt, der sich der Großvater des Autors als erster in der Familie widmet. All das sieht Gropp kunstvoll verwoben, bis sich der Autor im dritten Teil des Buches etwas verzettelt. Eine gelungene Geschichte von der Suche nach dem "mütterlichen Stoff" ist das Buch für Gropp dennoch geworden.
© Perlentaucher Medien GmbH
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