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Dieses brillante, mit Leidenschaft geschriebene Buch bietet einen knappen und lehrreichen Überblick über Leben, Werk und Wirkung von Jean-Jacques Rousseau. Hartmut von Hentig versteht es meisterhaft, mit wenigen Strichen ein deutlich konturiertes Bild des großen Aufklärers zu zeichnen, das sich durch entschlossene Bewertungen seines außerordentlich vielseitigen, gedankenreichen und provozierenden Werkes wohltuend von der Masse der Rousseau-Publikationen abhebt.

Produktbeschreibung
Dieses brillante, mit Leidenschaft geschriebene Buch bietet einen knappen und lehrreichen Überblick über Leben, Werk und Wirkung von Jean-Jacques Rousseau. Hartmut von Hentig versteht es meisterhaft, mit wenigen Strichen ein deutlich konturiertes Bild des großen Aufklärers zu zeichnen, das sich durch entschlossene Bewertungen seines außerordentlich vielseitigen, gedankenreichen und provozierenden Werkes wohltuend von der Masse der Rousseau-Publikationen abhebt.
Autorenporträt
Hartmut von Hentig, geboren 1925 in Posen, Professor emeritus für Pädagogik an der Universität Bielefeld, war bis 1987 Wissenschaftlicher Leiter der Laborschule und des Oberstufen-Kollegs des Landes Nordrhein-Westfalen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.03.2003

Plaudern mit dem Kinde
Nimm und lies: Hartmut von Hentig unterzieht Rousseau einer pädagogischen Lektüre / Von Ralf Konersmann

Rousseau beherrschte die Kunst des ersten Satzes, und niemand hat ihn darin übertroffen. Den "Émile" beispielsweise, diese formlos wuchernde Hybridgestalt aus politischer Abhandlung, kulturkritischem Manifest und Roman, eröffnet er 1762 mit einem denkbar nüchternen Bescheid. "Alles, was aus den Händen des Schöpfers kommt, ist gut; alles entartet unter den Händen des Menschen." Ein Satz wie ein Schnitt und offenbar dazu gemacht, bestaunt, weitergesagt und zitiert zu werden.

Wie einst Diogenes, der Faßbewohner, schockiert Rousseau sein Publikum mit einer harten Diagnose, doch er weiß auch Rat. Noch bevor der Leser die erste Seite, ja auch nur den ersten Abschnitt des "Émile" bewältigt hat, ist er eingestimmt und für das Folgende empfänglich gemacht. Der Mensch ist schwach, bedürftig und "stets von Gefahr umgeben", so lautet die Botschaft Rousseaus, und deshalb bedarf es eines permanenten Ausgleichs dieser Schwäche, eines durchgreifenden und nachhaltig wirksamen Projekts. Tatsächlich wird dieses eine Gedankenmotiv, das Motiv der Restitution, sämtlichen Lösungen zugrunde liegen, die Rousseau seiner aufgeschreckten Leserschaft präsentiert: dem Projekt der Erziehung, das er im "Émile" vorstellt, ebenso wie den Verfeinerungen der Gefühlswelt, für die in der "Nouvelle Héloise" geworben wird. Der Gedanke der Wiederherstellung trägt die rückhaltlose Offenheit des Bekenntnisses, das Rousseau in seinen autobiographischen Schriften ablegt, ebenso wie die Politik der volonté générale, die im "Gesellschaftsvertrag" entwickelt wird und den Doktrinären der Tugend, die alsbald die Weltbühne betreten werden, zur Verfügung steht.

Die inzwischen zweieinhalb Jahrhunderte währende Wirkungsgeschichte dieses Denkens ist weitläufig, sie ist vieldeutig und diffus. Sie reicht von der gefühlstiefen Innigkeit der schönen Seelen bis zur Diktatur des Kollektivs, dem der einzelne sich zu beugen hat. Alle haben sich auf Rousseau bezogen, Kant ebenso wie Marx und sogar Nietzsche - Nietzsche, der ihn mit vielsagender Heftigkeit verflucht und von sich gestoßen hat als "Moral-Fanatiker", als "Idealist und Kanaille". Hinzu kamen die Vertreter der Disziplinen, die Anthropologen, die Staatstheoretiker, die Theologen und - sie vor allem - die Theoretiker der Erziehung.

Den Pädagogen schenkte Rousseau die Idee der Kindheit, und er verband diese Idee mit dem Versprechen einer zweiten Chance. Mochte das Band zwischen Herkunft und Gegenwart auch zerrissen sein, so sollte es sich doch, selbst unter den Bedingungen der Moderne, aufs neue knüpfen und wiederherstellen lassen. Daß mit jedem Kind die Menschheit neu geboren wird, diese These ist für den Rousseauismus in der Pädagogik Programm. Die Menschen, heißt es im "Gesellschaftsvertrag", müßten schon vor der Einführung der idealen Gesetzgebung sein, was sie durch sie erst werden sollen - und nur die richtige Erziehung kann sie dahin führen. Pädagogik, das gilt seit Rousseau, will nicht bloß die Lehre der Erziehung sein, sondern auch ein Beitrag zur Erlösung und zur Rettung aus einem Zeitalter der vollendeten Sündhaftigkeit.

Hartmut von Hentig weiß um den Überschwang und um die Verführbarkeit des pädagogischen Temperaments. Seine kleine Schrift über Rousseau möchte eine Hommage sein, und das ist sie zweifellos, aber sie verschweigt die problematischen Züge Rousseaus und seiner Gefolgschaft keineswegs. Als bezeichnend streicht sie die Humorlosigkeit des Bürgers von Genf heraus, seine Unfähigkeit zur Ironie. Aber nicht in solchen Charakterisierungen liegt ihre eigentliche Stärke, sondern im experimentellen Charakter der Aneignung. Von Hentig, der Begründer der Bielefelder Laborschule und nachdenkliche Förderer selbstkritischer Erziehungspraxis, liest Rousseau nicht so sehr aus der Sicht eines citoyen, auch nicht als Philosoph und schon gar nicht als Erziehungswissenschaftler, er liest ihn als Pädagoge. Er unterzieht ihn, kurz gesagt, einer pädagogischen Lektüre.

Das ist interessant und auch angreifbar, weil diese Wahrnehmung strikt auf ihr besonderes Thema beschränkt bleibt, auf Rousseaus Beitrag zur Erziehung und zu den Grundsätzen einer praktischen Erziehungslehre. Gemessen an dem grandiosen, am Maßstab der Menschheitsgeschichte orientierten Rettungsversuch, dessen Ansprüche Rousseau auch im "Émile" niemals aus dem Blick verliert, fällt gleich ins Auge, wie sehr von Hentig den Horizont verengt und seinen Gegenstand reduziert, ja verkehrt. Während für Rousseau die Erziehung nur ein Mittel zum Zweck ist, nimmt von Hentig ihn beim Wort. Gerade heute, da Rousseaus Weltbeschreibung beklemmend aktuell wirke, gelte es, so die These, die Überlegungen eines "Menschenfreundes" und "Aufklärers" kennenzulernen, der von der Güte des Menschen überzeugt gewesen sei.

Nichts charakterisiert den Gestus dieser Lektüre genauer als das augustinische und, wie es heißt, ursprünglich aus Kindermund stammende "Nimm und lies". Gemessen an den Standards der Wissenschaft, der von Hentig im übrigen keine Konkurrenz machen möchte, ist die pädagogische Lektüre naiv, denn sie glaubt alles, was da steht. Und sie läßt es sich gesagt sein: Bedarf die pädagogische Praxis nicht eines klaren Bildes vom Menschen und davon, wie, mit welchen Mitteln und Maßnahmen sie seine Entwicklung begleiten und unterstützen kann? Welches sind die Erfahrungen, die das Kind machen, welches das Wissen, über das es verfügen muß, um in der gegebenen Gesellschaft zu bestehen? Welche Entbehrungen sind ihm aufzuerlegen, und wird es auch glücklich sein?

Leicht ist zu erkennen: Die pädagogische Lektüre verfährt nicht wissenschaftlich (denn die Wissenschaft, argwöhnt von Hentig, verliert sich in Unverbindlichkeiten), sie will grundsätzlich werden. Deshalb und durchaus in praktischer Absicht filtert sie eine Handvoll "Prinzipien" des Erziehungsprozesses aus dem "Émile" heraus, die zunächst und vor allem den Eigenwert der Kindheit betonen. Rousseau, so von Hentig, fordere die Erzieher zu einem realistischen Studium des Menschen auf, er empfehle bei allen Maßnahmen Zurückhaltung, er vertraue auf die hilfreichen Gesetze der Natur, er erkenne den Reifezeiten der individuellen Entwicklung ihr Eigenrecht zu, er halte die staatsbürgerlichen Konsequenzen der erzieherischen Praxis gegenwärtig, und er vergesse nie den Zweck des Ganzen, den Ausgleich und die Harmonie von Ich und Welt.

Das ist eine schöne, eine verführerisch schöne Reihe, und es spricht für von Hentig, daß er seine Lektüre keineswegs damit beschließt. Nicht eine warme Empfehlung steht am Ende dieses Durchgangs, sondern die Einsicht in die Gefahr des Scheiterns. Nach dem bis dahin Gesagten überrascht es allerdings nicht, daß Rousseau auch hier das Beispiel gegeben und, das versteht sich fast von selbst, Außerordentliches vorzuweisen hat. Die Kinder, die er gezeugt hatte, gab er ins Findelhaus, und er wäre nicht Rousseau gewesen, wenn er darüber nicht zutiefst bewegt und ganz und gar untröstlich gewesen wäre. Wiederholt bekennt er sein Versagen, um dann wortreich die tiefe Zuneigung zu schildern, die ihn beim Anblick eines Kindes überkomme. Nachdem die Erwachsenen, die ihm seinen Ruhm mißgönnt und seine Aufrichtigkeit nicht ertragen hätten, ihn aus ihren Kreisen verstoßen haben, bleibe ihm nur die Unschuld der Kinder, deren "Liebkosungen" er, wie er im neunten Spaziergang erzählt, "zärtlich" erwidert.

Doch selbst diese Intimität ist gefährdet, und zwar ganz allein von ihm selbst. Mit jener Unverblümtheit, die seine Aufrichtigkeit beweisen soll, legt dieser Erzieher der Erzieher vor seinem Leser ein Geständnis ab, dessen Abgründigkeit es mit jener Ausgangsdiagnose durchaus aufnehmen kann: "Ich würde mit leichterem Herzen vor einem asiatischen Monarchen stehen als vor einem kleinen Kind, mit dem ich plaudern soll." Rousseau hat sich nicht nur als erster selbst kommentiert, er war auch sein erster Parodist.

Hartmut von Hentig: "Rousseau oder Die wohlgeordnete Freiheit". C. H. Beck Verlag, München 2003. 124 S., 2 Abb., br., 14,90 [Euro].

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"Hentigs Rousseau ist ein Radikaler, der das Grundproblem der Moderne gesehen und formuliert hat: Wie kann das Individuum unter den Bedingungen einer zivilisierten Gesellschaft seine Unabhängigkeit auch als Bürger eines Gemeinwesens bewahren und bewähren, wie kann es ehrlich, anständig, aufrichtig und authentisch bleiben?"
Katharina Rutschky, Berliner Zeitung