Produktdetails
- Verlag: Klett-Cotta
- ISBN-13: 9783608934540
- ISBN-10: 3608934545
- Artikelnr.: 07873690
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Ein Knigge für kleine Hunde
Wahrscheinlich ist das auch zuviel verlangt, besonders von einem so jungen und kleinen Hund wie Rover: dann noch den Überblick zu behalten, wenn man gerade selbstversunken mit einem gelben Ball spielt und unverhofft ein merkwürdiger Mensch vorbeikommt, der ihn wegnimmt. Rover knurrt jedenfalls den barschen Imperativ "Leg ihn hin!", doch der erweist sich als kontraproduktiv. Die Person, ein "bitte" vermissend, steckt den Ball ein und geht ungerührt weiter - bis der Hund ihn mindestens an der Hose erwischt: "Vielleicht war noch ein Stück vom Zauberer dabei." Den Beruf des Ballräubers hätte der Hund erkennen können an dessen grünem Hut mit blauer Feder, aber - das kennt man aus der Friedens- und Konfliktforschung - einmal gereizt, wird die Wahrnehmung sektoriell; nicht mehr der Diskurs wird gesucht, sondern ein Sieg mit Gewalt. Bei solcher Machtverteilung kann der Sieg nur an den Zauberer gehen.
So landet Rover als männchenmachender Spielzeughund in der Krabbelkiste eines Geschäftes, und von dort ist es ein langer und gefährlicher Weg, bis er sich wieder seiner Urgestalt erfreuen kann. Hilfreich beim Bestehen aller Abenteuer ist sein Naturell, das mit dem Namen "Rover", also "Vagabund", angedeutet ist. Aber auch die Unterstützung eines milder gestimmten Sandzauberers wird gebraucht, der Rover aus dem Einflußbereich des übellaunigen Artaxerxes herausholt und ihn auf dem Rücken der Möwe, die ihm sonst den Postverkehr versieht, zum Mann im Mond hinaufschickt. Der erweist sich als ausgesprochen umgänglich, die träumenden Kinder auf der dunklen Seite des Mondes - dort sind Kinder immer, wenn sie träumen - nennen ihn zärtlich "Vater Langbart"; mit seinem Hund hingegen ist es vorerst heikel. Der hört ebenfalls auf den Namen Rover und interpretiert das Auftauchen des namensgleichen Besuchs als Angriff auf sein angeblich jahrhundertealtes Vorrecht, den Mann im Mond begleiten zu dürfen. Sein Herrchen findet aber eine schlaue Lösung und verlängert den Namen des Nachzüglers in Roverandom; zudem versieht er beide Vierbeiner obendrein noch mit Flügeln, was ihren gemeinsamen Ausflügen eine überhündische Geschwindigkeit ermöglicht. Da gibt es Stippvisiten bei musizierenden Blumen, aber auch gefährliche Begegnungen wie die Konfrontation mit einem zürnenden Drachen, dem selbst fliegend nur knapp zu entkommen ist.
Es ist alles in allem kein übles Leben für einen kleinen Spielzeughund, aber Roverandom sehnt sich doch nach seiner früheren Existenz zurück. Sie ist nur durch einen Gnadenakt des Artaxerxes zu erreichen, der inzwischen auf den Meeresgrund umgezogen ist. Nach seiner Verheiratung mit der Tochter des Meereskönigs fungiert er dort als "pazifischer und atlantischer Magier". Seine Leistungen werden von den Untergebenen des Meereskönigs zwar durchaus kritisch gesehen, doch hindert ihn dies nicht daran, Roverandom, der untertänigst, couragiert und hartnäckig um eine Audienz nachsucht, lange Zeit unter Hinweis auf seinen angeblich übervollen Terminkalender abzuwimmeln. Ein Sinneswandel stellt sich erst ein, als sein Versuch fehlschlägt, den von der Seeschlange veranstalteten Tumult zu beenden, der selbst unter Wasser zu massenweiser Seekrankheit führte und der auf eine von Roverandom ausgelöste Kettenreaktion zurückgeht. Mit letzter Kraft zaubert ihn der resignierte Magier endlich wieder in seinen alten Zustand vor der unseligen Ballaffäre zurück. Jetzt revanchiert sich Rover gleich mit einer Überdosis Höflichkeit: "Danke, hat mich gefreut, Sie kennenzulernen!" Artaxerxes aber eröffnet anschließend in Strandnähe einen Tabak- und Süßwarenladen, ein frühes Beispiel für eine später sogenannte Patchwork-Karriere.
J. R. R. Tolkien hat diese Geschichte, so belehrt das kundige Nachwort der Herausgeber, erst seinen Kindern bei einem Urlaub am Meer 1925 erzählt, um vor allem seinen fünfjährigen Sohn Michael über den Verlust eines Spielzeughundes hinwegzutrösten. "Roverandom" ist so ein Märchen für Kinder. In seinem Tagebuch schreibt Tolkien, er habe die Geschichte auch geschrieben, "um mich selbst während ihrer Entfaltung zu amüsieren", und dieses Amüsement teilt sich auch dem Nichtkind vielfach mit. Nach dem Erfolg von "The Hobbit" 1937 verlangte der Verlag schnell nach weiteren Tolkien-Texten, "Roverandom" aus der Schublade überzeugte damals nicht. Daß er jetzt, 25 Jahre nach Tolkiens Tod, erstmals gedruckt vorliegt, dient nicht nur philologischem Interesse. Denn man wird durchaus angenehm unterhalten und bekommt den Anstoß zu mannigfaltigen Überlegungen, etwa zu der Frage, ob für Rover die biographische Bilanz seiner Unhöflichkeit gegenüber Artaxerxes mit dessen anschließendem Schadenszauber nicht eher positiv ausfällt. Ohne den Zwischenfall hätte er zwar weiter eine ruhige Welpenkugel schieben können mit einem Horizont, so weit die Nase reicht. Nun aber steht er da als erfahrener Jagdhund, der weiß, daß "das Land für einen Hund genauso gefährlich ist wie der Mond oder der Ozean, aber viel langweiliger."
BURKHARD SCHERER
J. R. R. Tolkien: "Roverandom". Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Christina Scull und Wayne G. Hammond. Aus dem Englischen übersetzt von Hans J. Schütz. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 1999. 144 S., geb., 24,80 DM.
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