Wolfgang Matz entwirft ein neues Bild des widersprüchlichen Literaten Borchardt im Zeitalter der Extreme.Rudolf Borchardt ist einer der großen Dichter deutscher Sprache, Meister des Essays und des zeitkritischen Romans, eigensinniger Historiker und Übersetzer. Doch wurde sein Schaffen auch begleitet von Legenden und Skandalen, von erotischer Hochstapelei, autobiografischer Fiktion, politischem Radikalismus zwischen den Weltkriegen. Borchardt war voller Widersprüche: ein junger Mann mit höchstem Anspruch, der kaum veröffentlichte, ein Polemiker der Weimarer Republik, der sein Leben in Italien verbrachte, ein deutscher Nationalist, den die Nürnberger Gesetze zum Juden machten, ein freiwilliger Exilant, der ab 1933 im Zwangsexil lebte. War Borchardt tatsächlich der Exzentriker, den die deutsche Nachwelt aus ihm macht?Wolfgang Matz wagt nach langer Auseinandersetzung mit dem Streitbaren eine konzentrierte Darstellung von Leben und Werk. Er liest ihn als Zeitgenossen von Hofmannsthal,George, Benjamin und Brecht, als Extremisten im Zeitalter der Extreme, als Neuerer, der die europäische Tradition wiedererweckt für die Poesie der eigenen Zeit. So tritt Borchardt als leidenschaftlicher Gegner der neusachlichen Kälte, radikaler Antimodernist und deshalb ganz in der Tradition der modernen Literatur hervor.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Warum Rudolf Borchardt 1926 mit verhältnisweise vielen Stimmen in die Akademie der Künste gewählt worden war - einen Posten, den er umgehend ablehnte -, scheint der Kritiker Patrick Bahners nicht ganz zu verstehen; umso angetaner wirkt er dafür von der Art, wie sich Wolfgang Matz in seiner biografischen Studie dem Autor annähert - genauer: dessen merkwürdiger Mischung aus unbedingtem Willen zu klassisch-philologischer Gelehrsamkeit (nachdem die Doktorarbeit nie eingereicht wurde, so Bahners) einerseits, und einer sturen Ablehnung jeglichen Publikumserfolgs andererseits. Wie Matz bescheiden, unter bewusstem Verzicht auf einen großen Anmerkungsapparat oder sich anbietende Querverweise diese Seite Borchardts offenlegt und dabei höchst "diskret" die Grundannahme durchschimmern lässt, dass Borchardt im Grunde um einiges näher an der Moderne, insbesondere der französischen Literatur war, als ihm lieb gewesen sein dürfte, scheint den Kritiker von Matz' Interesse an Borchardt und von seinem Buch zu überzeugen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.07.2024461 Leser können nicht irren
Rettungsaktion für einen Weggetretenen: Wolfgang Matz interpretiert Rudolf Borchardt vor der Folie der französischen Literatur
Als 1926 die Preußische Akademie der Künste um eine Sektion für Dichtkunst erweitert wurde, veranstaltete die "Literarische Welt" eine Umfrage zur Ermittlung würdiger Gründungsmitglieder. Thomas Mann wurde einsam an die Spitze gewählt, der zweitplatzierte Franz Werfel erhielt noch nicht einmal halb so viele Stimmen, 682 gegenüber 1421. Auf Gerhart Hauptmann (594) folgte schon auf dem vierten Platz Rudolf Borchardt als Wunschkandidat von 461 Lesern der Wochenzeitschrift, weswegen Wolfgang Matz die Statistik in seiner biographischen Studie über Borchardt anführt, als "aufschlussreiche Momentaufnahme für die tagesaktuelle Ökonomie der literarischen Aufmerksamkeit". Borchardt landete knapp vor Stefan George (450), deutlich vor Rilke (384) und ließ Hofmannsthal (169) und Brecht (120) weit hinter sich.
Wie hatte Borchardt diese Aufmerksamkeit erworben? Seine Publikationen, schmale Gedichtbände, Broschüren mit Reden oder Probestücke erfundener Gattungen, waren vereinzelt und entlegen und wurden gleichwohl als Teile eines Werkes mit kanonischem Ehrgeiz ausgegeben. Um das berühmte kulturtourismuskritische Wortspiel aus dem Eingang von Borchardts Aufsatz über die "Villa" zu variieren, den die "Frankfurter Zeitung" im Februar 1907 druckte: Wie die Eisenbahnen Italien für den Verkehr verschlossen haben, so stand die Bemühung des Verlagswesens um Borchardt in Gestalt luxuriöser Standardprodukte wie der Werkausgabe von Anfang an im Zeichen eines Abschlusses, der die Abschließung gegenüber dem Publikum in Kauf nahm.
Borchardt machte sich rar, wollte sich dadurch angeblich aber keineswegs interessant machen; der Erneuerer der Minnelyrik kultivierte im Umgang mit seiner Leserschaft einen Habitus der Anti-Werbung. Matz schildert die Versteckspiele mit gebotener Ausführlichkeit, sodass seine Leser früher oder später von einer Ungeduld gegenüber Borchardts Nichtigtuerei erfasst werden, wie sie im persönlichen Umgang auch die treuesten Freunde des Dichters irgendwann heimsuchte. So nimmt man mit stillem Vergnügen die Bestenliste aus dem literarischen Leben des Jahres 1926 zur Kenntnis, der Borchardt gemäß den Prämissen seines Lebenskonzepts keinen Wert zusprechen durfte. Zwar wollte er nicht bloß für den einen eingebildeten Leser schreiben, sondern für die glücklichen wenigen, aber schon deren Zählung war für ihn Frevel. In Deutschland gab es 1926 also 461 Leser Rudolf Borchardts oder wenigstens so viele Literaturfreunde, die ihn für lesenswert halten wollten. Das ist doch einmal etwas anderes als die Setzungen und Forderungen aus Borchardts Reich der Phantasie - das ist ein Datum.
In welche Verlegenheit Borchardt der positive Ausschlag des Erfolgsmessgeräts stürzte, illustriert mit der bei diesem Autor unausweichlichen unfreiwilligen Komik der Entwurf eines mutmaßlich nicht abgeschickten Briefes an Thomas Mann, in dem Borchardt vorsorglich erklärte, dass er die Wahl zum Sektionsmitglied nicht annehmen werde: Er muss zur Kenntnis nehmen, "dass laut Ausfall der Votierung, eine Anzahl Irrender auch mich zur modernen Literatur zählen und akademischer Würden werthalten".
Als wäre der weltberühmte Adressat ein Bediensteter des Staates, den Borchardt, der Nachfahre Königsberger Juden, bei anderen Gelegenheiten sehr wohl als sein Vaterland anerkannte, trug er dem in München wohnhaften Lübecker mit der Grußformel "Ihr wie immer Ihnen freundlich ergebener" eine Botschaft an Preußen auf: "Dem preussischen Staate habe ich keinen anderen Rat zu geben - es scheint als wolle er ein beratendes Gremium schaffen - als denjenigen den Dante der Stadt Pistoia gab in deren Nähe ich wohne, nämlich sich in Asche zu legen." Matz verzichtet auf Fußnoten, weist lediglich die wörtlichen Zitate nach. Borchardt verfolgte bis zum Lebensende das Unternehmen einer Vereinigung von Dichtung und Philologie, wollte kein Universaldilettant sein, sondern seine Ein-Mann-Kulturwissenschaft in disziplinärer Zucht betreiben, um die nie eingereichte Göttinger Doktorarbeit zu ersetzen. Matz würdigt Borchardt ohne allen Apparat, macht ihm keine Konkurrenz, geht aber seinerseits diszipliniert ans Werk. Seine fortlaufende Kommentierung von Borchardts Lebensarbeit ist gerade dadurch anregend, dass er sich bei diesem Autor der abertausend Bezüge sogar naheliegende Fingerzeige versagt. Er weist auf Lesenswürdigkeiten hin, ist aber kein Cicerone, der mit Allwissenheit Eindruck schindet.
So erläutert Matz Dantes Fluch über Pistoia nicht, sondern vertraut darauf, dass seine Leser die Stelle im 25. Gesang der Hölle selbst finden werden. In Borchardts Übersetzung der Göttlichen Komödie in eine Kunstsprache, die Matz als "ein halbfiktives Deutsch" charakterisiert, das "der Konzentrationsfähigkeit des alten Italienisch" nacheifern sollte, klingt sie so: "Pistoje, ei weh Pistoje! dass nicht kannst / veräschern dich und müssest nimmer dauren, / seit missethat der same dein verpflanzt!" Soll man es prophetisch nennen, dass Borchardt die Einäscherung Preußens sieben Jahre vor der Okkupation der preußischen Staatsgewalt durch die Nationalsozialisten beschwor? Das konsequent vernichtende Gesamturteil des Kulturkritikers Borchardt über die moderne Zivilisation verbietet es, für einzelne Prognosen die Gabe der Hellsicht zu reklamieren.
Zwischen Dantes Pistoia, dem Nest der Diebe und Halsabschneider, und dem republikanischen Preußen des Ministerpräsidenten Otto Braun oder des Akademiepräsidenten Max Liebermann eine inhaltliche Verbindung zu suchen wäre müßig. Nur die Nähe Borchardts zu Pistoia rückt die Stadt und den Staat nebeneinander. Die kulturpolitische Geste der Verwerfung sagt alles über Borchardt und nichts über Preußen. Den Bericht über Borchardts vorauseilende Absage beschließt Matz mit allerleisester Ironie: "Eine Reaktion Thomas Manns ist nicht bekannt."
Der Untertitel des Buches, "Der verlorene Posten", bezieht sich natürlich auf die politische und ästhetische Einstellung Borchardts, der im Verein mit Hugo von Hofmannsthal das Programm einer schöpferischen Restauration entwarf, aber auch auf seine Stellung zum zeitgenössischen Literaturbetrieb und dessen Übereinkünften. Was hätte Borchardt 1933 getan, wenn er 1926 die Wahl in die Akademie angenommen hätte? Man möchte glauben, dass er dem Ausschluss wegen der jüdischen Vorfahren durch Austritt zuvorgekommen wäre. Ergiebiger für das, was Matz an Borchardt interessiert, ist eine andere kontrafaktische Überlegung. Warum hatte sich Rudolf Borchardt eigentlich auf die Ablehnung "akademischer Würden" festgelegt? Sein hohes Formbewusstsein und sein Traum der Durchdringung von Dichtung und Gelehrsamkeit hätten ihm einen akademischen Literaturbegriff nahelegen können. Eines seiner schönsten Bücher, die Anthologie "Deutscher Denkreden", schöpft aus dem Vorrat des geistigen Genossenschaftswesens.
Zum Titel von Hofmannsthals Rede "Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation" von 1927 merkt Matz an, dass der Redner das Wort "Schrifttum" im Sinne der französischen "lettres" verwendet habe, "also als eine im Deutschen nicht existierende Gesamtheit schriftlicher Werke von der Geschichtsschreibung über Memoiren und Briefzeugnisse bis hin zu Epik und Poesie". Das Buch von Matz hat einen immer wieder ans Licht tretenden leitenden Gedanken: Auf dem Posten gesuchter Isolation blieb Borchardt, dem Herold des Klassischen, seine Nähe zur französischen Literatur verborgen, vom realistischen Zeitroman des neunzehnten Jahrhunderts bis zur Avantgarde des zwanzigsten, die mit Borchardt die Verachtung für den bürgerlichen Geniekult teilte und die poetische Produktivität in den Regionen des Halbbewussten suchte.
Als Leser von Matz hätte Borchardt seinen Deuter wohl jener "Anzahl Irrender" zugeschlagen, die ihn partout zur modernen Literatur addieren möchten. Wo der Kritiker Matz ganz im Sinne Borchardts proklamiert, dass das Moderne für sich genommen kein Prädikat der Qualität ist, da macht der Biograph mit einem diskreten Leitmotiv deutlich, dass Borchardt dem Schicksal der Modernität nicht entging: Um sich entfernen zu können, von Göttingen oder Berlin, George oder Thomas Mann, war er auf die Eisenbahn angewiesen. PATRICK BAHNERS
Wolfgang Matz:
"Rudolf Borchardt - Der verlorene Posten".
Wallstein Verlag,
Göttingen 2023.
344 S., geb., 32,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
Rettungsaktion für einen Weggetretenen: Wolfgang Matz interpretiert Rudolf Borchardt vor der Folie der französischen Literatur
Als 1926 die Preußische Akademie der Künste um eine Sektion für Dichtkunst erweitert wurde, veranstaltete die "Literarische Welt" eine Umfrage zur Ermittlung würdiger Gründungsmitglieder. Thomas Mann wurde einsam an die Spitze gewählt, der zweitplatzierte Franz Werfel erhielt noch nicht einmal halb so viele Stimmen, 682 gegenüber 1421. Auf Gerhart Hauptmann (594) folgte schon auf dem vierten Platz Rudolf Borchardt als Wunschkandidat von 461 Lesern der Wochenzeitschrift, weswegen Wolfgang Matz die Statistik in seiner biographischen Studie über Borchardt anführt, als "aufschlussreiche Momentaufnahme für die tagesaktuelle Ökonomie der literarischen Aufmerksamkeit". Borchardt landete knapp vor Stefan George (450), deutlich vor Rilke (384) und ließ Hofmannsthal (169) und Brecht (120) weit hinter sich.
Wie hatte Borchardt diese Aufmerksamkeit erworben? Seine Publikationen, schmale Gedichtbände, Broschüren mit Reden oder Probestücke erfundener Gattungen, waren vereinzelt und entlegen und wurden gleichwohl als Teile eines Werkes mit kanonischem Ehrgeiz ausgegeben. Um das berühmte kulturtourismuskritische Wortspiel aus dem Eingang von Borchardts Aufsatz über die "Villa" zu variieren, den die "Frankfurter Zeitung" im Februar 1907 druckte: Wie die Eisenbahnen Italien für den Verkehr verschlossen haben, so stand die Bemühung des Verlagswesens um Borchardt in Gestalt luxuriöser Standardprodukte wie der Werkausgabe von Anfang an im Zeichen eines Abschlusses, der die Abschließung gegenüber dem Publikum in Kauf nahm.
Borchardt machte sich rar, wollte sich dadurch angeblich aber keineswegs interessant machen; der Erneuerer der Minnelyrik kultivierte im Umgang mit seiner Leserschaft einen Habitus der Anti-Werbung. Matz schildert die Versteckspiele mit gebotener Ausführlichkeit, sodass seine Leser früher oder später von einer Ungeduld gegenüber Borchardts Nichtigtuerei erfasst werden, wie sie im persönlichen Umgang auch die treuesten Freunde des Dichters irgendwann heimsuchte. So nimmt man mit stillem Vergnügen die Bestenliste aus dem literarischen Leben des Jahres 1926 zur Kenntnis, der Borchardt gemäß den Prämissen seines Lebenskonzepts keinen Wert zusprechen durfte. Zwar wollte er nicht bloß für den einen eingebildeten Leser schreiben, sondern für die glücklichen wenigen, aber schon deren Zählung war für ihn Frevel. In Deutschland gab es 1926 also 461 Leser Rudolf Borchardts oder wenigstens so viele Literaturfreunde, die ihn für lesenswert halten wollten. Das ist doch einmal etwas anderes als die Setzungen und Forderungen aus Borchardts Reich der Phantasie - das ist ein Datum.
In welche Verlegenheit Borchardt der positive Ausschlag des Erfolgsmessgeräts stürzte, illustriert mit der bei diesem Autor unausweichlichen unfreiwilligen Komik der Entwurf eines mutmaßlich nicht abgeschickten Briefes an Thomas Mann, in dem Borchardt vorsorglich erklärte, dass er die Wahl zum Sektionsmitglied nicht annehmen werde: Er muss zur Kenntnis nehmen, "dass laut Ausfall der Votierung, eine Anzahl Irrender auch mich zur modernen Literatur zählen und akademischer Würden werthalten".
Als wäre der weltberühmte Adressat ein Bediensteter des Staates, den Borchardt, der Nachfahre Königsberger Juden, bei anderen Gelegenheiten sehr wohl als sein Vaterland anerkannte, trug er dem in München wohnhaften Lübecker mit der Grußformel "Ihr wie immer Ihnen freundlich ergebener" eine Botschaft an Preußen auf: "Dem preussischen Staate habe ich keinen anderen Rat zu geben - es scheint als wolle er ein beratendes Gremium schaffen - als denjenigen den Dante der Stadt Pistoia gab in deren Nähe ich wohne, nämlich sich in Asche zu legen." Matz verzichtet auf Fußnoten, weist lediglich die wörtlichen Zitate nach. Borchardt verfolgte bis zum Lebensende das Unternehmen einer Vereinigung von Dichtung und Philologie, wollte kein Universaldilettant sein, sondern seine Ein-Mann-Kulturwissenschaft in disziplinärer Zucht betreiben, um die nie eingereichte Göttinger Doktorarbeit zu ersetzen. Matz würdigt Borchardt ohne allen Apparat, macht ihm keine Konkurrenz, geht aber seinerseits diszipliniert ans Werk. Seine fortlaufende Kommentierung von Borchardts Lebensarbeit ist gerade dadurch anregend, dass er sich bei diesem Autor der abertausend Bezüge sogar naheliegende Fingerzeige versagt. Er weist auf Lesenswürdigkeiten hin, ist aber kein Cicerone, der mit Allwissenheit Eindruck schindet.
So erläutert Matz Dantes Fluch über Pistoia nicht, sondern vertraut darauf, dass seine Leser die Stelle im 25. Gesang der Hölle selbst finden werden. In Borchardts Übersetzung der Göttlichen Komödie in eine Kunstsprache, die Matz als "ein halbfiktives Deutsch" charakterisiert, das "der Konzentrationsfähigkeit des alten Italienisch" nacheifern sollte, klingt sie so: "Pistoje, ei weh Pistoje! dass nicht kannst / veräschern dich und müssest nimmer dauren, / seit missethat der same dein verpflanzt!" Soll man es prophetisch nennen, dass Borchardt die Einäscherung Preußens sieben Jahre vor der Okkupation der preußischen Staatsgewalt durch die Nationalsozialisten beschwor? Das konsequent vernichtende Gesamturteil des Kulturkritikers Borchardt über die moderne Zivilisation verbietet es, für einzelne Prognosen die Gabe der Hellsicht zu reklamieren.
Zwischen Dantes Pistoia, dem Nest der Diebe und Halsabschneider, und dem republikanischen Preußen des Ministerpräsidenten Otto Braun oder des Akademiepräsidenten Max Liebermann eine inhaltliche Verbindung zu suchen wäre müßig. Nur die Nähe Borchardts zu Pistoia rückt die Stadt und den Staat nebeneinander. Die kulturpolitische Geste der Verwerfung sagt alles über Borchardt und nichts über Preußen. Den Bericht über Borchardts vorauseilende Absage beschließt Matz mit allerleisester Ironie: "Eine Reaktion Thomas Manns ist nicht bekannt."
Der Untertitel des Buches, "Der verlorene Posten", bezieht sich natürlich auf die politische und ästhetische Einstellung Borchardts, der im Verein mit Hugo von Hofmannsthal das Programm einer schöpferischen Restauration entwarf, aber auch auf seine Stellung zum zeitgenössischen Literaturbetrieb und dessen Übereinkünften. Was hätte Borchardt 1933 getan, wenn er 1926 die Wahl in die Akademie angenommen hätte? Man möchte glauben, dass er dem Ausschluss wegen der jüdischen Vorfahren durch Austritt zuvorgekommen wäre. Ergiebiger für das, was Matz an Borchardt interessiert, ist eine andere kontrafaktische Überlegung. Warum hatte sich Rudolf Borchardt eigentlich auf die Ablehnung "akademischer Würden" festgelegt? Sein hohes Formbewusstsein und sein Traum der Durchdringung von Dichtung und Gelehrsamkeit hätten ihm einen akademischen Literaturbegriff nahelegen können. Eines seiner schönsten Bücher, die Anthologie "Deutscher Denkreden", schöpft aus dem Vorrat des geistigen Genossenschaftswesens.
Zum Titel von Hofmannsthals Rede "Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation" von 1927 merkt Matz an, dass der Redner das Wort "Schrifttum" im Sinne der französischen "lettres" verwendet habe, "also als eine im Deutschen nicht existierende Gesamtheit schriftlicher Werke von der Geschichtsschreibung über Memoiren und Briefzeugnisse bis hin zu Epik und Poesie". Das Buch von Matz hat einen immer wieder ans Licht tretenden leitenden Gedanken: Auf dem Posten gesuchter Isolation blieb Borchardt, dem Herold des Klassischen, seine Nähe zur französischen Literatur verborgen, vom realistischen Zeitroman des neunzehnten Jahrhunderts bis zur Avantgarde des zwanzigsten, die mit Borchardt die Verachtung für den bürgerlichen Geniekult teilte und die poetische Produktivität in den Regionen des Halbbewussten suchte.
Als Leser von Matz hätte Borchardt seinen Deuter wohl jener "Anzahl Irrender" zugeschlagen, die ihn partout zur modernen Literatur addieren möchten. Wo der Kritiker Matz ganz im Sinne Borchardts proklamiert, dass das Moderne für sich genommen kein Prädikat der Qualität ist, da macht der Biograph mit einem diskreten Leitmotiv deutlich, dass Borchardt dem Schicksal der Modernität nicht entging: Um sich entfernen zu können, von Göttingen oder Berlin, George oder Thomas Mann, war er auf die Eisenbahn angewiesen. PATRICK BAHNERS
Wolfgang Matz:
"Rudolf Borchardt - Der verlorene Posten".
Wallstein Verlag,
Göttingen 2023.
344 S., geb., 32,- Euro.
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»ein eleganter und äußerst dichter Langessay, eine Analyse Borchardts Schreiben entlang der Biographie« (Erich Klein, ORF Ex Libris, 08.10.2023) »Matz würdigt Borchardt ohne allen Apparat, macht ihm keine Konkurrenz, geht aber seinerseits diszipliniert ans Werk. Seine fortlaufende Kommentierung von Borchardts Lebensarbeit ist gerade dadurch anregend, dass er sich bei diesem Autor der abertausend Bezüge sogar naheliegende Fingerzeige versagt. Er weist auf Lesenswürdigkeiten hin, ist aber kein Cicerone, der mit Allwissenheit Eindruck schindet.« (Patrick Bahners, FAZ, 13.07.2024) »höchst gelungen und lesenswert« (Till Kinzel, IFB, 2024)