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Der Flug von Rudolf Heß nach Großbritannien im Mai 1941 konnte von der Geschichtsschreibung bisher nicht befriedigend erforscht werden. Mysteriös erscheinen bis heute nicht nur die Motive des Unternehmens, das knapp sechs Wochen vor Beginn des Rußlandfeldzugs stattfand. Geheimnisumwittert und spekulationsbeladen blieben sämtliche zentrale Fragen: Welches Angebot wollte Heß unterbreiten, handelte er auf eigene Faust oder mit Wissen Hitlers? Wie reagierte das Kabinett Churchill auf die Offerte, und welche Folgerungen zog Stalin aus der Aktion? Und schließlich: Weshalb entzogen die britischen…mehr

Produktbeschreibung
Der Flug von Rudolf Heß nach Großbritannien im Mai 1941 konnte von der Geschichtsschreibung bisher nicht befriedigend erforscht werden. Mysteriös erscheinen bis heute nicht nur die Motive des Unternehmens, das knapp sechs Wochen vor Beginn des Rußlandfeldzugs stattfand. Geheimnisumwittert und spekulationsbeladen blieben sämtliche zentrale Fragen: Welches Angebot wollte Heß unterbreiten, handelte er auf eigene Faust oder mit Wissen Hitlers? Wie reagierte das Kabinett Churchill auf die Offerte, und welche Folgerungen zog Stalin aus der Aktion? Und schließlich: Weshalb entzogen die britischen Behörden die den Flug betreffenden Dokumente der Forschung und belegten sie mit einem Sperrvermerk bis ins Jahr 2018?
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.07.1997

Einer flog über Holy Island
Wer schickte oder lockte Rudolf Heß 1941 nach England?

Rainer F. Schmidt: Rudolf Heß - "Botengang eines Toren"? Der Flug von Rudolf Heß nach Großbritannien vom 10. Mai 1941. Econ Verlag, Düsseldorf 1997. 384 Seiten, 44,- Mark.

Warum ist Rudolf Heß am 10. Mai 1941 nach Schottland geflogen und dort mit dem Fallschirm abgesprungen? Was wollte er dort? Diese und ähnliche Fragen sind schon viele Male gestellt worden, aber bisher immer ohne schlüssige, überzeugende Antwort geblieben. Nun, da sich demnächst der Todestag des am 17. August 1987 im Spandauer Kriegsverbrechergefängnis gestorbenen letzten Nazi-Häftlings zum zehnten Male jährt, werden wahrscheinlich zahlreiche neue Versionen dieses merkwürdigen Vorgangs in Umlauf gebracht werden. Da trifft es sich gut, daß gerade rechtzeitig, bevor die Mythenbildung aufs neue ins Kraut schießt, das Buch eines studierten Historikers erschienen ist, von dem der Verlag behauptet, es habe das "Geheimnis des Fluges endlich entschleiern" können. So steht es jedenfalls auf dem Einbandumschlag. Eine kühne Behauptung, die von anderen Historikern vermutlich angezweifelt werden wird.

Tatsächlich hat der Autor erstmals einige bislang unzugängliche Akten einsehen dürfen bei seinen Recherchen, die der Vorbereitung auf seine Habilitationsschrift dienten. Die wurde im Sommersemester des vergangenen Jahres von der Philosophischen Fakultät der Universität Würzburg angenommen. Die umfangreichen Anmerkungen, das ebenso umfangreiche Quellen-und Literaturverzeichnis mit anschließendem Personen- und Sachregister zeugen vom Fleiß und von der Sorgfalt des Verfassers. Doch ob sich wirklich, wie Schmidt meint, "die Quellenlage so weit verbessert" hat, daß nunmehr "nicht nur eine Bestandsaufnahme der bisherigen Ergebnisse zum Fall Heß", sondern auch "eine Neuinterpretation der Vorgeschichte, der Durchführung sowie der Folgen des Fluges vom 10. Mai 1941 in Angriff" genommen werden konnte, darüber läßt sich selbst dann noch streiten, wenn man seine "Studie", wie Schmidt seine Arbeit nennt, bewundernswert wegen ihrer Akribie findet.

Ob es wirklich so gewesen ist, wie er annimmt, bleibt weiter ungewiß. Es kann so gewesen sein, aber es muß nicht so gewesen sein. Schmidts Hauptthese, daß Heß vom britischen Geheimdienst nach Schottland in eine Falle gelockt worden sei, steht jedenfalls auf wackligen Füßen. Der Autor selbst scheint bisweilen nicht recht überzeugt zu sein von dieser Möglichkeit und hilft sich dann mit Floskeln wie "allem Anschein nach" oder "so daß der Verdacht naheliegt". Wäre es da nicht vielleicht besser gewesen, zu warten mit so weitreichenden Schlußfolgerungen, wie er sie zieht, bis eines Tages auch die letzten Geheimdienstarchive geöffnet sind? Wer weiß, was da noch alles zutage kommt.

Heß war ein Psychopath. Das Persönlichkeitsbild, das Schmidt in seinem Buch von Hitlers "Stellvertreter" zeichnet, läßt daran keinen Zweifel. Aber Heß hatte auch lichte Momente, Phasen, in denen er hellsichtig und voll zurechnungsfähig war. Vieles spricht dafür, daß er manches sogar klarer sah als Hitler, zum Beispiel das tödliche Risiko eines Krieges mit Sowjetrußland vor einem deutschen Friedensschluß mit England oder zumindest einem Waffenstillstand. Heß hielt einen Zweifrontenkrieg nach Deutschlands Erfahrungen im Ersten Weltkrieg für ein Verhängnis, das er unter allen Umständen verhindern wollte. Die Vorstellung jedoch, daß ihm das mit einem kühnen Vorstoß ins feindliche Lager gelingen könnte, wo er mit Hilfe alter Bekannter beim "germanischen Brudervolk" die "Appeasement-Fraktion" gegen Churchill und dessen Politik eines Sieges über Deutschland um jeden Preis zu mobilisieren gedachte, war naiv. Hier mag eine einfallsreiche Desinformationskampagne britischer Geheimdienste, die Schmidt mit vielen Einzelheiten zu belegen weiß, Heß in der Tat zu vollkommen falschen Annahmen verleitet haben. Natürlich dachte Churchill nicht im Traum daran, mit Heß über Hitlers Vorstellungen eines deutsch-britischen Interessenausgleichs zu sprechen. Außer Scheinverhandlungen mit Heß spielte sich nichts ab, und eine Fronde gegen Churchill gab es nicht einmal in Ansätzen.

Das hat Heß dann an Ort und Stelle auch schnell begriffen und sich daraufhin das Leben nehmen wollen, was indessen mißlang. Die Engländer haben ihren prominenten Gefangenen danach sorgfältig behütet. In jenem für sie so kritischen Sommer 1941 nutzten sie Heß' Anwesenheit zu allerlei geschickten politischen und diplomatischen Manövern. Daß über die Art, wie die Engländer mit Hitlers Stellvertreter verfuhren, zunächst so gut wie nichts an die Öffentlichkeit drang, weckte in den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion den Verdacht, daß es trotz britischer Dementis vielleicht doch geheime Verhandlungen mit Heß über einen Separatfrieden Großbritanniens mit dem Deutschen Reich gab. Genau diesen Eindruck wollte man in London erzeugen. Stalin sollte es mit der Angst bekommen, er werde Deutschland demnächst allein gegenüberstehen; und auch Roosevelt sollte unwohl werden bei dem Gedanken, Nazi-Deutschland, das er haßte, könne sich in Europa zur einzigen Vormacht aufschwingen. Mit Beginn des deutschen Rußlandfeldzuges wurden weitere britische Anstrengungen in dieser Richtung allerdings überflüssig, hatte Heß seine Schuldigkeit getan; bis dahin aber war er für die Regierung in London ein nützlicher "Kriegsgefangener". Für den Verfasser ist das ein weiterer Beweis für seine These, daß Heß vom britischen Geheimdienst "mit dem Köder einer umsturzbereiten Gruppe ,schottischer Quislinge'" und anderen ihm zugespielten Falschinformationen, etwa über die Wirkung der deutschen Luftangriffe, systematisch nach England gelockt wurde.

Steht dieses Thema auch im Mittelpunkt der Arbeit Schmidts, so ist es doch beileibe nicht das einzige, mit dem er sich in seinem Buch beschäftigt. Am Anfang stehen zum Beispiel eine ausführliche Darstellung des Werdegangs von Rudolf Heß und die Geschichte seines Aufstiegs zum Günstling des "Führers". Solche Schilderungen hat es zwar früher auch schon gegeben, wie aus dem Literaturverzeichnis unschwer zu entnehmen ist, wo ungefähr zwei Dutzend Bücher über Heß und noch viel mehr Zeitungs- und Zeitschriftenaufsätze erwähnt werden. Aber es lohnt sich trotzdem, noch einmal nachzulesen, wie Schmidt den Hitler-"Stellvertreter" beschreibt. Besonders informativ ist das Kapitel, in welchem der Autor schildert, wie Heß sich nach der "Machtergreifung" 1933 ein wahrhaft gigantisches Imperium aufbaute: Er wird zum Herrscher über einen kaum noch überschaubaren Apparat mit vielen Verzweigungen und sogar einem eigenen Geheimdienst, den er aber nie richtig in den Griff bekommen hat.

Diese Kapitel sind unentbehrlich zum Verständnis des Folgenden und auch zur Abwehr der vielen Legenden, die von der "Heß-apologetischen Literatur" verbreitet werden, wie Schmidt die Schriften nennt, die Heß als reinen Idealisten, als Opfer aller möglichen Intrigen, ja als Märtyrer bezeichnen. Von diesen Mythen bleibt bei Schmidt nicht viel übrig, ebensowenig von den Erzählungen angeblich absolut zuverlässiger Zeitzeugen, die von einem heimlichen Zusammenspiel zwischen Hitler und Heß bei dessen England-Abenteuer wissen wollen. Auch alle übrigen in früheren Veröffentlichungen immer wieder als "Tatsachen" hingestellten Spekulationen über die angeblich "wahren Hintergründe" von Heß' Flug nach Schottland werden in Schmidts Buch durch sorgfältige Beweisführung widerlegt und entweder als fahrlässige Irrtümer oder als vorsätzlich erfundene Märchen entlarvt. Allein aus diesem Grund verdient Schmidt großes Lob für seine Arbeit.

Ganz ohne Schönheitsfehler, was die Form angeht, ist freilich heute anscheinend kaum noch ein Buch. So werden besonders Juristen daran Anstoß nehmen, daß der Verfasser ständig etwas "unter Beweis stellen" will, statt sich des Tätigkeitswortes "beweisen" zu bedienen. Ließe sich über manche stilistische Unebenheit noch streiten, die ein sorgfältigerer Lektor leicht hätte beseitigen können, so ist nicht wegzudiskutieren, daß an einer wichtigen Stelle die schottische West- mit der Ostküste verwechselt wurde. Heß überflog, wie Schmidt richtig schreibt, nahe Holy Island die Küste. Die Insel liegt aber an der schottischen Ostküste und nicht, wie er behauptet, an der Westküste. Hätte er seinem Buch eine kleine Karte beigegeben, wäre ihm dieser Fehler womöglich nicht unterlaufen. Der Aufklärung bedarf schließlich die Mitteilung des Autors, daß "mit einer Sondergenehmigung des deutschen Auswärtigen Amtes . . . der Churchill-Nachlaß in Cambridge eingesehen werden" konnte. Normalerweise nimmt man doch an, dafür sei das britische Foreign Office zuständig. KLAUS NATORP

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