Produktdetails
- Verlag: Böhlau Köln
- ISBN-13: 9783412091026
- ISBN-10: 3412091022
- Artikelnr.: 10666105
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.03.2003Politik ist weiter nichts als Medizin im Großen
Ein Pathologe, der Bismarck zur Weißglut trieb: Zwei Biographien ehren Rudolf Virchow als ein Emblem der Liberalismusgeschichte
Spricht man von Rudolf Virchow, kommt man aus dem Aufzählen gar nicht heraus. Denn er war nicht nur der berühmte Pathologe, der die Medizin auf eine naturwissenschaftliche Basis stellte, nicht nur der liberale Politiker, der Bismarck so lange zusetzte, bis der ihn zum Duell forderte. Er war auch Anthropologe, Ethnologe, Prähistoriker. Und als Berliner Stadtverordneter modernisierte er Trinkwasserversorgung und Kanalisation, führte die Fleischbeschau ein, gründete Krankenhäuser und Museen. Wie ist so ein Leben in eine Biographie zu fassen? Man kann sich, wie es der Kieler Medizinhistoriker Christian Andree tut, auf einen Aspekt konzentrieren. "Leben und Ethos eines großen Arztes" lautet der Untertitel seines Buches, das sich zwar der wissenschaftlichen wie politischen Lebensstationen annimmt, dessen Hauptinteresse es aber ist, das ärztliche Ethos Rudolf Virchows (1821 bis 1902) zu rekonstruieren. Auch heutigen Medizinern empfiehlt Andree diese "Lichtgestalt" als "Vorbild".
Der Berliner Historiker Constantin Goschler wiederum steigt mit einem Albtraum in seine Virchow gewidmete Habilitationsschrift ein: Der greise Gelehrte zitierte ihn zu sich nach Hause. Schweren Herzens machte Goschler sich auf den Weg. Doch als er dort ankam, war Virchow gerade gestorben. Dabei war es gar nicht Goschlers Absicht gewesen, Virchow, den Helden, zu erledigen. Im Gegenteil: Er interessiert sich durchaus dafür, wie verschiedene gesellschaftliche Gruppen Virchow mittels Glorifizierung vereinnahmten: Die Ärzte feierten ihn als "Symbol deutscher Wissenschaft", die Liberalen stilisierten ihn zum "Anti-Bismarck". In der Hauptsache aber möchte Goschler am Beispiel Virchows "Probleme der Wissenschafts- und Liberalismusgeschichte mit solchen einer Sozialgeschichte der Gelehrten im neunzehnten Jahrhundert" koppeln, um sie in einer "integrierten Perspektive" zu diskutieren. Die Leistung des Individuums tritt damit zurück, ohne gänzlich geleugnet zu werden.
Ein Beispiel: Virchow nannte seine Anfang 1848 gemachte Reise nach Oberschlesien als Schlüsselerlebnis seines Lebens. Im Auftrag der preußischen Regierung untersuchte er die Umstände einer als "Hungertyphus" angesehenen Fleckfieber-Epidemie. Er erkannte, daß "der Kampf gegen diese Mißstände nur auf dem Wege tiefgreifender Reformen socialer Natur geführt werden könne". Daraus zog er den berühmten Schluß: "Die Medizin ist eine soziale Wissenschaft, und die Politik ist weiter nichts als Medizin im Großen" und stellte sich, kaum ins revolutionäre Berlin zurückgekehrt, auf die Seiten der radikalen Demokraten und half beim Barrikadenbau.
Damit war das Vertrauensverhältnis zwischen Regierung und Virchow "zerstört", seine Karriere "galt als beendet", so sieht es zumindest Andree. Der unbeugsame Virchow sei an die Universität Würzburg gewechselt und habe mit der Zellularpathologie große Erfolge gefeiert. Goschler hingegen, der davon ausgeht, daß Virchows außerordentliche Karriere "nicht ausschließlich mit seinen kognitiven Leistungen erklärt werden kann", fragt, warum Virchow im Vergleich zu vielen anderen Achtundvierzigern so glimpflich davongekommen sei. Schon im Vormärz war er, der seine Ausbildung an einer militärmedizinischen Akademie, der Pépinière in Berlin, erhalten hatte, von der um eine "defensive Modernisierung" bemühten Kultusbürokratie gefördert worden. Sie hegte große Hoffnung, mit der Protektion des mitunter als Enfant terrible auftretenden Wissenschaftlers möglichen Radikalisierungen die Spitze zu nehmen. Trotz aller Verärgerung über Virchows Verhalten in der Oberschlesien-Frage und der Revolution ("Schade um das Talent") revidierte der Kultusminister dessen Entlassung aus der Charité und beließ ihm die Prosektorenstelle des für einen Pathologen so wichtigen Leichenhauses. Der bald erfolgende Ruf nach Würzburg bot für beide Seiten die Möglichkeit, das Gesicht zu wahren. An eine Rückkehr des damals erst achtundzwanzigjährigen Virchow war dabei immer gedacht. Sie erfolgte 1856, als der preußische Staat die Wissenschaftslandschaft der Hauptstadt durch Virchows Renommee in der nationalen wie internationalen Konkurrenz um Studenten stärken wollte. Dieser verstand es virtuos, das Interesse an seiner Person auszunutzen und die Gründung eines eigenen Pathologischen Instituts durchzusetzen.
Gemäß dem liberalen Ideal der sich selbst organisierenden Gesellschaft griff Virchow zur Verfolgung seiner Ziele auf das bürgerliche Vereinswesen zurück, doch auch dem Staat gegenüber kannte er keine Berührungsängste. Mochte er sich im preußischen Verfassungskonflikt noch so sehr gegen die Selbstherrlichkeit der Regierung stemmen und auf das Budgetrecht des Parlaments pochen, wenige Jahre später stand er im Kulturkampf an der Seite Bismarcks. Vorgeblich ging es ihm immer um die Sache und nicht um Politik.
Denn wie Goschler in seiner fulminanten Biographie zeigt, präsentierte sich Virchow - ob in der Berliner Stadtverordnetenversammlung, im preußischen Abgeordnetenhaus oder Deutschen Reichstag - als Experte, der darum bemüht war, politische Probleme in unpolitische Sachfragen zu verwandeln, die von Fachleuten entschieden werden konnten. Die Naturwissenschaften, das war sein fester Glaube, waren der Motor des unaufhaltsamen Fortschritts zu einer humanen Gesellschaft. Die so begründete szientistische "Wahrheitspolitik" verwickelte jedoch den Liberalismus in immer größere Widersprüche. Ging es darum, wissenschaftlich legitimierte Entscheidungen durchzusetzen, durfte darüber nicht abgestimmt werden, entbehrten die meisten noch der dazu nötigen Kompetenz. Deshalb engagierte sich Virchow - von den Museen über die sich auf 840 Ausgaben belaufende "Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge" bis hin zu den Versuchen, die Naturwissenschaft fest im Curriculum der Schulen zu verankern - besonders in der "Volksbildung". Doch solch paternalistisches Denken verantwortete auch Virchows Sündenfall: Um angesichts sozialdemokratischer Wahlerfolge die liberale Herrschaft des Fortschritts in den Städten über das angeblich noch Aberglauben und Unbildung verhaftete Volk zu sichern, verteidigte er auf kommunaler Ebene das undemokratische Dreiklassenwahlrecht.
"Wahrheitspolitik" war indes untauglich, mit der Pluralität moderner Gesellschaften umzugehen. Im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert löste sich deshalb die enge Verbindung von Liberalismus und Naturwissenschaften; als neue liberale Leitdisziplin tauchte am Horizont die Soziologie auf. Mit ihrer Hilfe ließen sich die gesellschaftlichen Krisen des Wilhelminischen Kaiserreichs beschreiben und politische Lösungsmöglichkeiten aufzeigen. Und Virchow? Schon zu Lebzeiten geriet er zu einem "historischen Auslaufmodell". Zum "großen Arzt" entpolitisiert, verwies man ihn ins Reich der Sage.
KAI MICHEL.
Christian Andree: "Rudolf Virchow". Leben und Ethos eines großen Arztes. Verlag Langen Müller, München 2002. 304 S., Abb., geb., 22,90 [Euro].
Constantin Goschler: "Rudolf Virchow". Mediziner - Anthropologe - Politiker. Böhlau Verlag, Köln, Weimar, Wien 2002. 556 S., Abb., geb., 39,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Pathologe, der Bismarck zur Weißglut trieb: Zwei Biographien ehren Rudolf Virchow als ein Emblem der Liberalismusgeschichte
Spricht man von Rudolf Virchow, kommt man aus dem Aufzählen gar nicht heraus. Denn er war nicht nur der berühmte Pathologe, der die Medizin auf eine naturwissenschaftliche Basis stellte, nicht nur der liberale Politiker, der Bismarck so lange zusetzte, bis der ihn zum Duell forderte. Er war auch Anthropologe, Ethnologe, Prähistoriker. Und als Berliner Stadtverordneter modernisierte er Trinkwasserversorgung und Kanalisation, führte die Fleischbeschau ein, gründete Krankenhäuser und Museen. Wie ist so ein Leben in eine Biographie zu fassen? Man kann sich, wie es der Kieler Medizinhistoriker Christian Andree tut, auf einen Aspekt konzentrieren. "Leben und Ethos eines großen Arztes" lautet der Untertitel seines Buches, das sich zwar der wissenschaftlichen wie politischen Lebensstationen annimmt, dessen Hauptinteresse es aber ist, das ärztliche Ethos Rudolf Virchows (1821 bis 1902) zu rekonstruieren. Auch heutigen Medizinern empfiehlt Andree diese "Lichtgestalt" als "Vorbild".
Der Berliner Historiker Constantin Goschler wiederum steigt mit einem Albtraum in seine Virchow gewidmete Habilitationsschrift ein: Der greise Gelehrte zitierte ihn zu sich nach Hause. Schweren Herzens machte Goschler sich auf den Weg. Doch als er dort ankam, war Virchow gerade gestorben. Dabei war es gar nicht Goschlers Absicht gewesen, Virchow, den Helden, zu erledigen. Im Gegenteil: Er interessiert sich durchaus dafür, wie verschiedene gesellschaftliche Gruppen Virchow mittels Glorifizierung vereinnahmten: Die Ärzte feierten ihn als "Symbol deutscher Wissenschaft", die Liberalen stilisierten ihn zum "Anti-Bismarck". In der Hauptsache aber möchte Goschler am Beispiel Virchows "Probleme der Wissenschafts- und Liberalismusgeschichte mit solchen einer Sozialgeschichte der Gelehrten im neunzehnten Jahrhundert" koppeln, um sie in einer "integrierten Perspektive" zu diskutieren. Die Leistung des Individuums tritt damit zurück, ohne gänzlich geleugnet zu werden.
Ein Beispiel: Virchow nannte seine Anfang 1848 gemachte Reise nach Oberschlesien als Schlüsselerlebnis seines Lebens. Im Auftrag der preußischen Regierung untersuchte er die Umstände einer als "Hungertyphus" angesehenen Fleckfieber-Epidemie. Er erkannte, daß "der Kampf gegen diese Mißstände nur auf dem Wege tiefgreifender Reformen socialer Natur geführt werden könne". Daraus zog er den berühmten Schluß: "Die Medizin ist eine soziale Wissenschaft, und die Politik ist weiter nichts als Medizin im Großen" und stellte sich, kaum ins revolutionäre Berlin zurückgekehrt, auf die Seiten der radikalen Demokraten und half beim Barrikadenbau.
Damit war das Vertrauensverhältnis zwischen Regierung und Virchow "zerstört", seine Karriere "galt als beendet", so sieht es zumindest Andree. Der unbeugsame Virchow sei an die Universität Würzburg gewechselt und habe mit der Zellularpathologie große Erfolge gefeiert. Goschler hingegen, der davon ausgeht, daß Virchows außerordentliche Karriere "nicht ausschließlich mit seinen kognitiven Leistungen erklärt werden kann", fragt, warum Virchow im Vergleich zu vielen anderen Achtundvierzigern so glimpflich davongekommen sei. Schon im Vormärz war er, der seine Ausbildung an einer militärmedizinischen Akademie, der Pépinière in Berlin, erhalten hatte, von der um eine "defensive Modernisierung" bemühten Kultusbürokratie gefördert worden. Sie hegte große Hoffnung, mit der Protektion des mitunter als Enfant terrible auftretenden Wissenschaftlers möglichen Radikalisierungen die Spitze zu nehmen. Trotz aller Verärgerung über Virchows Verhalten in der Oberschlesien-Frage und der Revolution ("Schade um das Talent") revidierte der Kultusminister dessen Entlassung aus der Charité und beließ ihm die Prosektorenstelle des für einen Pathologen so wichtigen Leichenhauses. Der bald erfolgende Ruf nach Würzburg bot für beide Seiten die Möglichkeit, das Gesicht zu wahren. An eine Rückkehr des damals erst achtundzwanzigjährigen Virchow war dabei immer gedacht. Sie erfolgte 1856, als der preußische Staat die Wissenschaftslandschaft der Hauptstadt durch Virchows Renommee in der nationalen wie internationalen Konkurrenz um Studenten stärken wollte. Dieser verstand es virtuos, das Interesse an seiner Person auszunutzen und die Gründung eines eigenen Pathologischen Instituts durchzusetzen.
Gemäß dem liberalen Ideal der sich selbst organisierenden Gesellschaft griff Virchow zur Verfolgung seiner Ziele auf das bürgerliche Vereinswesen zurück, doch auch dem Staat gegenüber kannte er keine Berührungsängste. Mochte er sich im preußischen Verfassungskonflikt noch so sehr gegen die Selbstherrlichkeit der Regierung stemmen und auf das Budgetrecht des Parlaments pochen, wenige Jahre später stand er im Kulturkampf an der Seite Bismarcks. Vorgeblich ging es ihm immer um die Sache und nicht um Politik.
Denn wie Goschler in seiner fulminanten Biographie zeigt, präsentierte sich Virchow - ob in der Berliner Stadtverordnetenversammlung, im preußischen Abgeordnetenhaus oder Deutschen Reichstag - als Experte, der darum bemüht war, politische Probleme in unpolitische Sachfragen zu verwandeln, die von Fachleuten entschieden werden konnten. Die Naturwissenschaften, das war sein fester Glaube, waren der Motor des unaufhaltsamen Fortschritts zu einer humanen Gesellschaft. Die so begründete szientistische "Wahrheitspolitik" verwickelte jedoch den Liberalismus in immer größere Widersprüche. Ging es darum, wissenschaftlich legitimierte Entscheidungen durchzusetzen, durfte darüber nicht abgestimmt werden, entbehrten die meisten noch der dazu nötigen Kompetenz. Deshalb engagierte sich Virchow - von den Museen über die sich auf 840 Ausgaben belaufende "Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge" bis hin zu den Versuchen, die Naturwissenschaft fest im Curriculum der Schulen zu verankern - besonders in der "Volksbildung". Doch solch paternalistisches Denken verantwortete auch Virchows Sündenfall: Um angesichts sozialdemokratischer Wahlerfolge die liberale Herrschaft des Fortschritts in den Städten über das angeblich noch Aberglauben und Unbildung verhaftete Volk zu sichern, verteidigte er auf kommunaler Ebene das undemokratische Dreiklassenwahlrecht.
"Wahrheitspolitik" war indes untauglich, mit der Pluralität moderner Gesellschaften umzugehen. Im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert löste sich deshalb die enge Verbindung von Liberalismus und Naturwissenschaften; als neue liberale Leitdisziplin tauchte am Horizont die Soziologie auf. Mit ihrer Hilfe ließen sich die gesellschaftlichen Krisen des Wilhelminischen Kaiserreichs beschreiben und politische Lösungsmöglichkeiten aufzeigen. Und Virchow? Schon zu Lebzeiten geriet er zu einem "historischen Auslaufmodell". Zum "großen Arzt" entpolitisiert, verwies man ihn ins Reich der Sage.
KAI MICHEL.
Christian Andree: "Rudolf Virchow". Leben und Ethos eines großen Arztes. Verlag Langen Müller, München 2002. 304 S., Abb., geb., 22,90 [Euro].
Constantin Goschler: "Rudolf Virchow". Mediziner - Anthropologe - Politiker. Böhlau Verlag, Köln, Weimar, Wien 2002. 556 S., Abb., geb., 39,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rudolf Virchow war nicht nur der "berühmter Pathologe", der die Medizin als Naturwissenschaft etablierte, sondern auch liberaler Politiker, Anthropologe, Ethnologe und Prähistoriker. Außerdem setzte er sich als Stadtverordneter aktiv für die Berliner Stadtpolitik ein, gründete Museen und Krankenhäuser und modernisierte die Trinkwasserversorgung, berichtet Kai Michel. In seiner Rudolf Virchow gewidmeten Habilitationsschrift stellt sich der Historiker Constatin Goschler die Frage, wie "verschiedene gesellschaftliche Gruppen Virchow mittels Glorifizierung vereinnahmten", so Michel. Goschler möchte mit seiner Studie am Beispiel Virchows "Probleme der Wissenschafts- und Liberalismusgeschichte mit solchen einer Sozialgeschichte der Gelehrten im neunzehnten Jahrhundert" verbinden und sie in einer "integrierten Perspektive" diskutieren, zitiert Michel. Dieses Unterfangen sei Goschler durchaus gelungen, lobt der Rezensent, denn nebenbei hat er es auch geschafft, eine wirklich "fulminante Biografie" zu schreiben.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH