Nacht für Nacht hat der junge Zauberer Erle den gleichen entsetzlichen Traum: Die Steinmauer, die die Toten von den Lebenden trennt, bricht ein und droht, den Inselkontinent zu verschlingen. Verzweifelt wendet sich Erle an den Erzmagier Ged, der zurückgezogen auf der Insel Rok lebt. Doch Geds Magie ist schwach. Erle muss zum Hof Lebannens reisen, um Hilfe bei Tenar und Tehanu zu suchen. Dort erfährt er von einer weiteren Gefahr: Drachen planen eine Invasion - und der Schlüssel zur Rettung seiner Welt liegt in Erles Traum verborgen ...
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.10.2018Drachen dichten und Welten wandeln
Ursula K. Le Guin lebt weiter, im Werk und auf der Messe
Wer gern Charles Dickens, James Joyce oder Günter Grass liest, kann nach London, Dublin oder Danzig fahren und dort phantasieren, die Geschichten aus den Büchern hätten vor Ort stattgefunden, auch wenn klar ist, dass jene Autoren keine Reporter waren. Bei Science-Fiction oder Fantasy kann man solche Reisen meist nicht unternehmen: Alles, was man über die Welten weiß, um die es darin geht, steht in den Texten (und kann dann allenfalls in Illustrationen, Comics oder Filmen bebildert werden). Die im Januar verstorbene Amerikanerin Ursula Kroeber Le Guin, die zu den größten Autorinnen der Phantastik zählt, hat mehr als eine solcher Textwelten geschaffen: den Schneeplaneten Gethen etwa, auf dem sie in ihrem Roman "The Left Hand of Darkness" (1969) ein Gedankenexperiment über den Zusammenhang von Biologie, Gesellschaft und Geschlechterverhältnissen angesiedelt hat, oder die verträumte Gegend Orsinia, die ihr als Schauplatz von Erzählvisionen der wechselseitigen Durchdringung von mythischer und moderner Geschichte in Mittel- und Osteuropa diente, vor allem aber, und mit dem größten Erfolg: den ozeanumschäumten Inselschwarmkosmos von Erdsee, dessen Himmel Drachen kreuzen, während auf zersplittertem Land Leute leben, die mit Magie Umgang pflegen wie wir mit Wissenschaft und Technik - mal vertraut und souverän, mal weniger, mal zu guten Zwecken, mal zu bösen.
In schlechterer Phantastik denkt, spricht und handelt oft das gesamte Personal wie die Verfasserin und der Verfasser, allenfalls wird noch mit verteilten Rollen im Bauchrednermodus "Gut gegen Böse" gespielt; aber die schwere Arbeit der Erfindung und Gestaltung fiktiver Welten lässt den schwächeren Schöpferinnen und Schöpfern des Genres offenbar keine Kapazitäten, sich auch noch um Charaktergestaltung und Figurentiefe zu kümmern. Ganz anders ist das bei Le Guin, vor allem in den Erdsee-Geschichten: Deren Heldinnen und Helden sind so ungeheuer verschieden, dass sich bei ihnen lediglich ein paar Erfahrungsinhalte überschneiden, gleichsam als magische Eckdaten der verwunschenen Welt. Hier reicht das Spektrum der Figuren und verzauberten Erlebnisweisen von dem Jungen Ged, der in "A Wizard of Earthsea" (1968) zum Mann wird, indem er lernt, seine Talente verantwortungsvoll zu gebrauchen und mit Lerneifer zu entwickeln, bis zur gequälten Frauen-Drachen-Hybridseele Terrhu, von der "Tehanu" (1990) handelt.
Die stilistische Spannweite der Dichterin entspricht dem breiten Figurenrepertoire: "A Wizard of Earthsea" gehört zu den Klassikern der Kinder- und Jugendliteratur (Margret Atwood hat das Werk als "Fantasy-Urquell" gelobt), während "Tehanu" im eher erwachsenen Bezirk des magischen Realismus zu Hause ist.
Die neue deutsche "Erdsee"-Gesamtausgabe mit opulenten, sowohl farbigen wie schwarzweißen Bildtafeln von Charles Vess erfüllt ihren Vollständigkeitsanspruch, indem sie nicht nur sämtliche Erzähltexte des Zyklus bündelt, sondern ihnen auch noch Essays der Verfasserin beifügt, die verdeutlichen, dass in dieser Schöpfung mehr zu finden ist als unvergessliche Figuren, exotische Orte und wundersame Ereignisperlen auf Plotschnüren: "Erdsee" ist ein Universum von erstaunlicher Glaubhaftigkeit, ein Sturm mitreißend plausibler Eindrücke im Sog der aufrichtigen Wissbegier der Autorin nach allem Dies- und Jenseitigen. Le Guins Eltern, ein Ethnologe und eine Psychologin, pflegten sowohl mit amerikanischen Ureinwohnern wie mit Atomphysikern Umgang und vermittelten der Tochter früh, dass es unter uns Menschen nicht nur ums Objektive, um Tatsachen geht, sondern immer auch ums Subjektive (wie wir uns die Welt deuten) und ums Intersubjektive (wie wir uns mit anderen darüber austauschen, wie die dieselbe Welt deuten). Der erste literarische Text, den Ursula K. Le Guin veröffentlicht hat, erschien 1959; ein Gedicht nicht nur über eine fremde Welt, sondern sogar bereits aus einer solchen: ein Volkslied, das man in Orsinia singt.
"Realistisch" darf man die literarische Spur eines Autorinnenlebens, das mit solchen Gratwanderungen zwischen dem Wirklichen und dem Unwirklichen beginnt, ohne Vorbehalt nennen, deshalb, weil, wie gesagt, zum wirklichen menschlichen Welterleben auch das (einsame oder gemeinsame) Phantasieren gehört und eine Auseinandersetzung zum Beispiel mit Geschlechterfragen oder Mensch-Umwelt-Problemen, die das über Details, Messungen und Protokolle hinausträumende Denken nach Welterschließungs- und Welterschaffungsmaßstäben nicht nur vertragen, sondern geradezu fordern, will man sich nicht im blindvergeblichen Anrennen gegen die nackten Wände des Gegebenen verausgaben.
Zu denken und zu dichten wie Ursula K. LeGuin ist deshalb nicht Eskapismus, sondern eine Fertigkeit, die sich als desto lebensnotwendiger erweisen dürfte, je enger der Spielraum zwischen diesen Wänden wird. So sieht das auch die Frankfurter Buchmesse, die das Denken und Dichten nach Art der Seherin zum Thema einer Begegnung von erfahrenen Multiversalisten und jungen Vielweltreisenden unter dem Titel "Think Ursula" erklärt hat, die morgen, am 12. Oktober 2018, von 17 Uhr an im Frankfurt Pavillion auf der Agora des Messegeländes stattfinden soll. Dort werden der deutsche Science-Fiction-Großmeister Andreas Brandhorst, der russische Realitätsverformer Dmitry Glukhovsky, die Le-Guin-Übersetzerin Karen Nölle, die Dystopie-Debütantin Theresa Hannig und andere Gäste der Namensgeberin der Veranstaltung die Ehre erweisen, über den Rand des Augenblicks hinauszuspekulieren.
DIETMAR DATH
Ursula K. Le Guin: "Erdsee". Die illustrierte Gesamtausgabe.
Aus dem Englischen von Hans-Ulrich Möhring, Sara Riffel und Karen Nölle. Fischer Tor Verlag, Frankfurt am Main 2018. 1118 S., Abb., geb., 58,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ursula K. Le Guin lebt weiter, im Werk und auf der Messe
Wer gern Charles Dickens, James Joyce oder Günter Grass liest, kann nach London, Dublin oder Danzig fahren und dort phantasieren, die Geschichten aus den Büchern hätten vor Ort stattgefunden, auch wenn klar ist, dass jene Autoren keine Reporter waren. Bei Science-Fiction oder Fantasy kann man solche Reisen meist nicht unternehmen: Alles, was man über die Welten weiß, um die es darin geht, steht in den Texten (und kann dann allenfalls in Illustrationen, Comics oder Filmen bebildert werden). Die im Januar verstorbene Amerikanerin Ursula Kroeber Le Guin, die zu den größten Autorinnen der Phantastik zählt, hat mehr als eine solcher Textwelten geschaffen: den Schneeplaneten Gethen etwa, auf dem sie in ihrem Roman "The Left Hand of Darkness" (1969) ein Gedankenexperiment über den Zusammenhang von Biologie, Gesellschaft und Geschlechterverhältnissen angesiedelt hat, oder die verträumte Gegend Orsinia, die ihr als Schauplatz von Erzählvisionen der wechselseitigen Durchdringung von mythischer und moderner Geschichte in Mittel- und Osteuropa diente, vor allem aber, und mit dem größten Erfolg: den ozeanumschäumten Inselschwarmkosmos von Erdsee, dessen Himmel Drachen kreuzen, während auf zersplittertem Land Leute leben, die mit Magie Umgang pflegen wie wir mit Wissenschaft und Technik - mal vertraut und souverän, mal weniger, mal zu guten Zwecken, mal zu bösen.
In schlechterer Phantastik denkt, spricht und handelt oft das gesamte Personal wie die Verfasserin und der Verfasser, allenfalls wird noch mit verteilten Rollen im Bauchrednermodus "Gut gegen Böse" gespielt; aber die schwere Arbeit der Erfindung und Gestaltung fiktiver Welten lässt den schwächeren Schöpferinnen und Schöpfern des Genres offenbar keine Kapazitäten, sich auch noch um Charaktergestaltung und Figurentiefe zu kümmern. Ganz anders ist das bei Le Guin, vor allem in den Erdsee-Geschichten: Deren Heldinnen und Helden sind so ungeheuer verschieden, dass sich bei ihnen lediglich ein paar Erfahrungsinhalte überschneiden, gleichsam als magische Eckdaten der verwunschenen Welt. Hier reicht das Spektrum der Figuren und verzauberten Erlebnisweisen von dem Jungen Ged, der in "A Wizard of Earthsea" (1968) zum Mann wird, indem er lernt, seine Talente verantwortungsvoll zu gebrauchen und mit Lerneifer zu entwickeln, bis zur gequälten Frauen-Drachen-Hybridseele Terrhu, von der "Tehanu" (1990) handelt.
Die stilistische Spannweite der Dichterin entspricht dem breiten Figurenrepertoire: "A Wizard of Earthsea" gehört zu den Klassikern der Kinder- und Jugendliteratur (Margret Atwood hat das Werk als "Fantasy-Urquell" gelobt), während "Tehanu" im eher erwachsenen Bezirk des magischen Realismus zu Hause ist.
Die neue deutsche "Erdsee"-Gesamtausgabe mit opulenten, sowohl farbigen wie schwarzweißen Bildtafeln von Charles Vess erfüllt ihren Vollständigkeitsanspruch, indem sie nicht nur sämtliche Erzähltexte des Zyklus bündelt, sondern ihnen auch noch Essays der Verfasserin beifügt, die verdeutlichen, dass in dieser Schöpfung mehr zu finden ist als unvergessliche Figuren, exotische Orte und wundersame Ereignisperlen auf Plotschnüren: "Erdsee" ist ein Universum von erstaunlicher Glaubhaftigkeit, ein Sturm mitreißend plausibler Eindrücke im Sog der aufrichtigen Wissbegier der Autorin nach allem Dies- und Jenseitigen. Le Guins Eltern, ein Ethnologe und eine Psychologin, pflegten sowohl mit amerikanischen Ureinwohnern wie mit Atomphysikern Umgang und vermittelten der Tochter früh, dass es unter uns Menschen nicht nur ums Objektive, um Tatsachen geht, sondern immer auch ums Subjektive (wie wir uns die Welt deuten) und ums Intersubjektive (wie wir uns mit anderen darüber austauschen, wie die dieselbe Welt deuten). Der erste literarische Text, den Ursula K. Le Guin veröffentlicht hat, erschien 1959; ein Gedicht nicht nur über eine fremde Welt, sondern sogar bereits aus einer solchen: ein Volkslied, das man in Orsinia singt.
"Realistisch" darf man die literarische Spur eines Autorinnenlebens, das mit solchen Gratwanderungen zwischen dem Wirklichen und dem Unwirklichen beginnt, ohne Vorbehalt nennen, deshalb, weil, wie gesagt, zum wirklichen menschlichen Welterleben auch das (einsame oder gemeinsame) Phantasieren gehört und eine Auseinandersetzung zum Beispiel mit Geschlechterfragen oder Mensch-Umwelt-Problemen, die das über Details, Messungen und Protokolle hinausträumende Denken nach Welterschließungs- und Welterschaffungsmaßstäben nicht nur vertragen, sondern geradezu fordern, will man sich nicht im blindvergeblichen Anrennen gegen die nackten Wände des Gegebenen verausgaben.
Zu denken und zu dichten wie Ursula K. LeGuin ist deshalb nicht Eskapismus, sondern eine Fertigkeit, die sich als desto lebensnotwendiger erweisen dürfte, je enger der Spielraum zwischen diesen Wänden wird. So sieht das auch die Frankfurter Buchmesse, die das Denken und Dichten nach Art der Seherin zum Thema einer Begegnung von erfahrenen Multiversalisten und jungen Vielweltreisenden unter dem Titel "Think Ursula" erklärt hat, die morgen, am 12. Oktober 2018, von 17 Uhr an im Frankfurt Pavillion auf der Agora des Messegeländes stattfinden soll. Dort werden der deutsche Science-Fiction-Großmeister Andreas Brandhorst, der russische Realitätsverformer Dmitry Glukhovsky, die Le-Guin-Übersetzerin Karen Nölle, die Dystopie-Debütantin Theresa Hannig und andere Gäste der Namensgeberin der Veranstaltung die Ehre erweisen, über den Rand des Augenblicks hinauszuspekulieren.
DIETMAR DATH
Ursula K. Le Guin: "Erdsee". Die illustrierte Gesamtausgabe.
Aus dem Englischen von Hans-Ulrich Möhring, Sara Riffel und Karen Nölle. Fischer Tor Verlag, Frankfurt am Main 2018. 1118 S., Abb., geb., 58,- [Euro].
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