»Zwischen besonderen familiären Banden, einer noch zarten Liebesbeziehung und der Härte des Alltags schwankt Cemals Bewusstsein. Sehnaz Dosts Roman nimmt uns inmitten einer Gegenwart der Fokussierung auf Körper und alles Körperliche mit auf eine Seelenwanderung, die leichthin alle Zeiten überwindet.« - Julia Franck
Cemal ist Ende 30, Deutschlehrer an einer Grundschule und Vater der kleinen Ekin. Für sie möchte er ein stabiles Umfeld schaffen - was ihm aber zunehmend schwerfällt. Sein Alltag voller Herausforderungen der Diaspora wird nachts immer häufiger durch Träume von seiner verstorbenen Urgroßmutter Süveyde aufgebrochen. Sie zeigt ihm darin Szenen aus ihrem Leben, und versetzt ihn wie beiläufig an den Ort seiner Kindheit: Ein arabisches Dorf in der Südtürkei, wo Cemal bei den Großeltern gelebt hat, bis er als Achtjähriger seinen Eltern nach Deutschland gefolgt ist - zu einer Familie, die ihm fremd war, die er nun aber lieben sollte.
Cemal watet immer tiefer in dunklen Gewässern, die ihn zunehmend auch im Wachzustand umgeben. In Georg hat er, nach seiner Exfrau Gül, zum ersten Mal einen Partner gefunden, der ihn in seinem Innersten erreicht. Doch Cemal bleibt verschlossen und somit ewiger Zuschauer seiner eigenen Geschichte - dabei muss er endlich lernen, auf sein Innerstes zu hören, um diese Geschichte selbst zu bestimmen.
Ein sprachlich beeindruckender Roman, der sanfte Erschütterung hinterlässt und eine wichtige Erzählung aus der Realität unserer Gesellschaft. Ein Roman wie eine Familienfotografie.
Cemal ist Ende 30, Deutschlehrer an einer Grundschule und Vater der kleinen Ekin. Für sie möchte er ein stabiles Umfeld schaffen - was ihm aber zunehmend schwerfällt. Sein Alltag voller Herausforderungen der Diaspora wird nachts immer häufiger durch Träume von seiner verstorbenen Urgroßmutter Süveyde aufgebrochen. Sie zeigt ihm darin Szenen aus ihrem Leben, und versetzt ihn wie beiläufig an den Ort seiner Kindheit: Ein arabisches Dorf in der Südtürkei, wo Cemal bei den Großeltern gelebt hat, bis er als Achtjähriger seinen Eltern nach Deutschland gefolgt ist - zu einer Familie, die ihm fremd war, die er nun aber lieben sollte.
Cemal watet immer tiefer in dunklen Gewässern, die ihn zunehmend auch im Wachzustand umgeben. In Georg hat er, nach seiner Exfrau Gül, zum ersten Mal einen Partner gefunden, der ihn in seinem Innersten erreicht. Doch Cemal bleibt verschlossen und somit ewiger Zuschauer seiner eigenen Geschichte - dabei muss er endlich lernen, auf sein Innerstes zu hören, um diese Geschichte selbst zu bestimmen.
Ein sprachlich beeindruckender Roman, der sanfte Erschütterung hinterlässt und eine wichtige Erzählung aus der Realität unserer Gesellschaft. Ein Roman wie eine Familienfotografie.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.03.2024Unruhige Seelen
In Sehnaz Dosts Debütroman "Ruh" ringt ein Berliner Grundschullehrer mit seiner Migration.
Von Karen Krüger
Die Kinder der ersten Arbeitsmigranten aus der Türkei wurden bei Verwandten oder Nachbarn zurücklassen und erst später, als die deutschen Behörden es erlaubten, nachgeholt. Manche pendelten jahrelang zwischen den Ländern. Als "Kofferkinder" werden sie in der Literatur bezeichnet oder als "Generation Einskommafünf", weil sie weder als Erwachsener nach Deutschland kamen noch dort geboren wurden und weder der ersten noch der zweiten Einwanderergeneration angehören. Sie sind etwas dazwischen.
Cemal, der Protagonist in "Ruh", dem Debüt von Sehnaz Dost, gehört ihr an. Er wuchs bei den Großeltern auf, mit acht Jahren holten ihn seine Eltern, zu denen er keine Nähe mehr aufbauen konnte, in ihr Leben in einer süddeutschen Kleinstadt. Mittlerweile ist Cemal Grundschullehrer in Berlin, Vater einer kleinen Tochter und lebt von seiner Frau getrennt. Seit einiger Zeit trifft er sich mit Georg. Ihre Affäre ist im Begriff, zu einer Beziehung zu werden, doch da macht Cemal Schluss. An diesem Punkt setzt der Roman ein.
Die Trennung reißt Wunden auf, die von Erfahrungen des Zurückgelassenwerdens und Nicht-Ankommen-Könnens rühren. Nachts liegt Cemal jetzt oft wach. In Träumen begegnet er Lebenden und Toten. Innere Stille empfand er erstmals an Georgs Seite, nun aber findet er diese "Ruh" nicht mehr, auf die der Buchtitel verweist. Er deutet noch auf eine weitere Ebene: "Ruh" meint im Islam den Geist oder die Seele, und an deren Wiedergeburt glaubt man in Cemals Dorf. Wenn ein Mensch ertrinke, wisse er im nächsten Leben noch, dass er schon einmal auf Erden war. Eine solche Frau war Cemals Urgroßmutter Süveyde, die, als sie ein Kind aus einem Bach rettete, starb. Sie ist es nun, die im Traum zu Cemal spricht. Sie sagt: Ich werde dir alles zeigen - und er schaut genau hin.
Sehnaz Dosts Sprache ist angenehm klar. Sie transportiert Cemals Fremdheitsgefühl, das in Deutschland begann, indem sie auf seine neue akustische Umgebung verweist. "Neue Sprache, neues alles: schrille Stimmen der Mitarbeiterinnen im Ausländeramt, dem aggressiven Summen der Mücken im Dorf bei Nacht ähnlich." An einer anderen Stelle heißt es: "In Deutschland ließ der Beton die Autos anders klingen, als er es gewohnt war, es gab keine Hühner, keine Straßenkatzen, niemand rief durch die Gassen, um frisches Gemüse oder Gas für die Herde und Boiler zu verkaufen, stattdessen wohnten unfreundliche Menschen nebenan, nur durch dünne Wände von ihnen getrennt, und wenn man sich zufällig im Hausflur begegnete, tat man so, als kennte man sich nicht." Cemal findet Halt in Musik, im Anadolu Rock, er kauft sich haufenweise Kassetten im türkischen Supermarkt. Eines der ersten Dinge, die er in Deutschland gelernt hatte, war, dass für einen Migranten wie ihn "sich aufregen dürfen ein Luxus ist und sich abregen erst recht". Die Songs von Baris Manço, Selda Bagcan, Cem Karaca sind auch noch als Erwachsener zentral, um Gefühle aller Art zu kanalisieren. Man wird in die Klanglandschaft von Cemals Leben hineingezogen. Zu ihr gehören auch die türkischen Ausdrücke, die Dost in Dialogen einfließen lässt und auf deren Übersetzung sie verzichtet. Das ist erst irritierend, verstärkt aber den Eindruck von Authentizität, da es den Sprachmix in migrantischen Milieus abbildet.
Nicht nur Cemal sieht, von Süveyde in Träumen an die Hand genommen, bald klarer, was sein Leben und seine Familie angeht, in der seit Generationen geschwiegen wurde. Auch dem Leser öffnet sich ein Fenster in eine Realität, die nur wenigen bekannt sein dürfte. Viele der wohl 700.000 betroffenen Kindern fanden ihren Lebensmittelpunkt später in Deutschland. Sehnaz Dost hat einen schönen Weg gewählt, um auf sie aufmerksam zu machen, und ein außergewöhnliches, unbedingt lesenswertes Buch geschrieben.
Sehnaz Dost: "Ruh". Roman.
Ecco Verlag, Hamburg 2024. 272 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In Sehnaz Dosts Debütroman "Ruh" ringt ein Berliner Grundschullehrer mit seiner Migration.
Von Karen Krüger
Die Kinder der ersten Arbeitsmigranten aus der Türkei wurden bei Verwandten oder Nachbarn zurücklassen und erst später, als die deutschen Behörden es erlaubten, nachgeholt. Manche pendelten jahrelang zwischen den Ländern. Als "Kofferkinder" werden sie in der Literatur bezeichnet oder als "Generation Einskommafünf", weil sie weder als Erwachsener nach Deutschland kamen noch dort geboren wurden und weder der ersten noch der zweiten Einwanderergeneration angehören. Sie sind etwas dazwischen.
Cemal, der Protagonist in "Ruh", dem Debüt von Sehnaz Dost, gehört ihr an. Er wuchs bei den Großeltern auf, mit acht Jahren holten ihn seine Eltern, zu denen er keine Nähe mehr aufbauen konnte, in ihr Leben in einer süddeutschen Kleinstadt. Mittlerweile ist Cemal Grundschullehrer in Berlin, Vater einer kleinen Tochter und lebt von seiner Frau getrennt. Seit einiger Zeit trifft er sich mit Georg. Ihre Affäre ist im Begriff, zu einer Beziehung zu werden, doch da macht Cemal Schluss. An diesem Punkt setzt der Roman ein.
Die Trennung reißt Wunden auf, die von Erfahrungen des Zurückgelassenwerdens und Nicht-Ankommen-Könnens rühren. Nachts liegt Cemal jetzt oft wach. In Träumen begegnet er Lebenden und Toten. Innere Stille empfand er erstmals an Georgs Seite, nun aber findet er diese "Ruh" nicht mehr, auf die der Buchtitel verweist. Er deutet noch auf eine weitere Ebene: "Ruh" meint im Islam den Geist oder die Seele, und an deren Wiedergeburt glaubt man in Cemals Dorf. Wenn ein Mensch ertrinke, wisse er im nächsten Leben noch, dass er schon einmal auf Erden war. Eine solche Frau war Cemals Urgroßmutter Süveyde, die, als sie ein Kind aus einem Bach rettete, starb. Sie ist es nun, die im Traum zu Cemal spricht. Sie sagt: Ich werde dir alles zeigen - und er schaut genau hin.
Sehnaz Dosts Sprache ist angenehm klar. Sie transportiert Cemals Fremdheitsgefühl, das in Deutschland begann, indem sie auf seine neue akustische Umgebung verweist. "Neue Sprache, neues alles: schrille Stimmen der Mitarbeiterinnen im Ausländeramt, dem aggressiven Summen der Mücken im Dorf bei Nacht ähnlich." An einer anderen Stelle heißt es: "In Deutschland ließ der Beton die Autos anders klingen, als er es gewohnt war, es gab keine Hühner, keine Straßenkatzen, niemand rief durch die Gassen, um frisches Gemüse oder Gas für die Herde und Boiler zu verkaufen, stattdessen wohnten unfreundliche Menschen nebenan, nur durch dünne Wände von ihnen getrennt, und wenn man sich zufällig im Hausflur begegnete, tat man so, als kennte man sich nicht." Cemal findet Halt in Musik, im Anadolu Rock, er kauft sich haufenweise Kassetten im türkischen Supermarkt. Eines der ersten Dinge, die er in Deutschland gelernt hatte, war, dass für einen Migranten wie ihn "sich aufregen dürfen ein Luxus ist und sich abregen erst recht". Die Songs von Baris Manço, Selda Bagcan, Cem Karaca sind auch noch als Erwachsener zentral, um Gefühle aller Art zu kanalisieren. Man wird in die Klanglandschaft von Cemals Leben hineingezogen. Zu ihr gehören auch die türkischen Ausdrücke, die Dost in Dialogen einfließen lässt und auf deren Übersetzung sie verzichtet. Das ist erst irritierend, verstärkt aber den Eindruck von Authentizität, da es den Sprachmix in migrantischen Milieus abbildet.
Nicht nur Cemal sieht, von Süveyde in Träumen an die Hand genommen, bald klarer, was sein Leben und seine Familie angeht, in der seit Generationen geschwiegen wurde. Auch dem Leser öffnet sich ein Fenster in eine Realität, die nur wenigen bekannt sein dürfte. Viele der wohl 700.000 betroffenen Kindern fanden ihren Lebensmittelpunkt später in Deutschland. Sehnaz Dost hat einen schönen Weg gewählt, um auf sie aufmerksam zu machen, und ein außergewöhnliches, unbedingt lesenswertes Buch geschrieben.
Sehnaz Dost: "Ruh". Roman.
Ecco Verlag, Hamburg 2024. 272 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Ein originelles Buch, das auf in Deutschland wenig beachtete Schicksale aufmerksam macht, findet Rezensentin Karen Krüger mit diesem Buch von Sehnaz Dost. Der Roman handel von Cemal, einem sogenannten Kofferkind, dessen Eltern in Deutschland als Arbeitsmigranten lebten, während er zunächst in der Türkei zurückblieb und erst mit acht Jahren nachzog. In der Erzählgegenwart ist Cemal Lehrer, er lebt von seiner Frau getrennt und hat sich soeben auch von Georg, einer Affäre, getrennt. Traurig ob dieses Verlusts begegnet er im Traum seiner Ururgroßmutter Süveyde, die ihm einen neuen Blick auf sein Leben ermöglicht, erzählt die Kritikerin. Das Gefühl der Fremdheit ist Thema hier, meint Krüger, die von mürrischen Nachbarn liest und einen Blick auf triste deutsche Straßen wirft. Türkische Musik sorgt im Leben Cemals für Hoffnungsschimmer, führt die Rezensentin weiter aus. Ein kluges Buch, findet sie, das Einblick gibt in Erfahrungswelten, von denen viele in Deutschland wenig wüssten.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Ein gelungenes Debüt.« Gerrit Bartels Tagesspiegel 20240601