Ein Schriftsteller mit der unheilvollen Neigung, Menschen, die ihm nahestehen, zu Literatur zu machen, ein verwirrter Internetblogger, ein Abteilungsleiter mit Doppelleben, ein berühmter Schauspieler, der lieber unbekannt wäre, eine alte Dame auf der Reise in den Tod: Ihre Wege kreuzen sich in einem Geflecht von Episoden zwischen Wirklichkeit und Schein. Ein Spiegelkabinett voll unvorhersehbarer Wendungen - komisch, tiefgründig und elegant erzählt vom Autor der «Vermessung der Welt».
«Ein Buch von funkelnder Intelligenz.» FAZ
«Ruhm strotzt vor Raffinement. Daniel Kehlmann scheint alles zu können.» NZZ
«Daniel Kehlmann hat mit seinem neuen Roman Weltliteratur geschaffen.»
Die Weltwoche
«Verteufelt gut ... brillant ...» NZZ am Sonntag
«Hochintelligent und zugleich ein Lesevergnügen ...» Deutschlandradio Kultur
«Ein literarisches Bravourstück ...» Die Welt
«Das Buch ist eine Wucht - virtuos und witzig geschrieben. Jede einzelne der neun Geschichten ein Diamant.» ZDF heute journal
«Ein Buch von funkelnder Intelligenz.» FAZ
«Ruhm strotzt vor Raffinement. Daniel Kehlmann scheint alles zu können.» NZZ
«Daniel Kehlmann hat mit seinem neuen Roman Weltliteratur geschaffen.»
Die Weltwoche
«Verteufelt gut ... brillant ...» NZZ am Sonntag
«Hochintelligent und zugleich ein Lesevergnügen ...» Deutschlandradio Kultur
«Ein literarisches Bravourstück ...» Die Welt
«Das Buch ist eine Wucht - virtuos und witzig geschrieben. Jede einzelne der neun Geschichten ein Diamant.» ZDF heute journal
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.01.2009Wenn das Handy zweimal klingelt
Daniel Kehlmanns neuer Roman "Ruhm" ist eine Sammlung postmoderner Muster- und Meistergeschichten. Sie stellen die Frage nach dem letzten Erzähler auf ganz unterschiedliche Arten.
Von Heinrich Detering
Vergessen wir einmal den Welterfolg eines gescheiten und unterhaltsamen Buches namens "Die Vermessung der Welt"; vergessen wir die Reizbarkeit der Kritiker, in deren Vorstellung die Worte "gescheit" und "Welterfolg" nicht zusammenpassen; vergessen wir den Ruhm des Schriftstellers Daniel Kehlmann. Lesen wir stattdessen Leo Richter. "Ein Roman ohne Hauptfigur!" lautet die großartige, wenn auch nicht ganz neue Idee, die dieser so berühmte wie fiktive Schriftsteller seiner Freundin im zweiten Kapitel mitteilt, in eben dem Augenblick, in dem der Leser dieses Buches sich über den plötzlichen Figurenwechsel wundert: "Die Komposition, die Verbindungen, der Bogen, aber kein Protagonist, kein durchgehender Held." Der Dichter ist ein Egomane und Neurotiker, "Autor vertrackter Kurzgeschichten voller Spiegelungen und unerwartbarer Volten von einer leicht sterilen Brillanz".
Was sich aus den neun ineinander verspiegelten Geschichten dieses Buches entwickelt, ist der Roman eines Romans. Es ist ein Buch von funkelnder Intelligenz. Und es besitzt vom ersten Satz an eine Spannung, die unwiderstehlich ist. Im genauen Gegensatz zur eitlen Selbstbespiegelung eines Bestsellerautors, die manche Kritiker vorab befürchteten, entwirft Kehlmanns "Ruhm" das facettierte Bild einer Welt, in der alle Figuren fortwährend versuchen, mehrere Leben zu führen, gleichzeitig oder nacheinander und mit Hilfe des Internets oder des Mobiltelefons, durch die sie jederzeit überall dabei sein und das Geschehen umlenken können. Sie alle leben in den Fiktionen, die sie von sich selbst erfinden und die den Mustern von Büchern, Filmen oder Computerspielen folgen wie mythischen Archetypen. So finden sie sich immer neu verstrickt in Geschichten, die sie selbst produzieren, in die großen Erzählungen wie die alltäglichen Lügen.
Mit dem Läuten eines Telefons beginnt und endet es. Auch zwischendrin ist das bekannte Geräusch oft zu hören, und fast immer geht damit eine Verwirrung und Verschiebung der Wirklichkeitsebenen einher. Das Mobiltelefon, bemerkt eine Figur, "nimmt die Wirklichkeit aus allem". Wer sich seiner bedient, kann jederzeit überall und nirgends sein, es dehnt die virtuellen Räume des Internets aus bis in die Manteltaschen. Da erhält ein Computertechniker unverhofft lauter Anrufe, die einem ganz anderen gelten, so lange, bis er wie von selbst in dessen Leben einzugreifen beginnt. Unerforschlich ist die Ursache, unbekannt der andere - jedenfalls für ihn, den Betroffenen selbst. Wir Leser hingegen erfahren in der vorletzten Geschichte vom Rechnerfehler in der Telefonfirma, von den zuständigen und ihrerseits in diverse Doppelleben verwickelten Sachbearbeitern. Bis dahin haben wir auch den eigentlichen Adressaten jener Anrufe längst kennengelernt, den populären Schauspieler, der nicht nur erlebt, wie sein Telefon von einem Moment zum nächsten verstummt, sondern auch, wie er von der eigenen Kopie in Gestalt eines talentierten Imitators aus seinem Leben gedrängt wird, bis er schließlich befreit ein Dasein verlässt, dessen er ohnehin längst müde geworden ist. Ein Doppelleben führt auch der Mann, der zwischen den Welten der Ehefrau und der Geliebten mittels immer waghalsigerer Handy-Nachrichten balanciert, bis er stirbt - ob buchstäblich oder nur vor Peinlichkeit, das bleibt in der Schwebe. (Erzählt er also aus dem Totenreich oder bloß von nebenan?) Er ist der Vorgesetzte eines Internet-Nerd, der alles dafür geben würde, zur Figur in einer Geschichte von Leo Richter zu werden, und der für das Telefondurcheinander des Anfangs mitverantwortlich ist, das wiederum dazu führt, dass der Verzweifelte, der auf Seite zwanzig einem Wildfremden sein Herz ausschüttet, infolge dieses Telefonats seinem Leben ein Ende setzen wird (wie wir sechzig Seiten später vom eigentlich Gemeinten erfahren). Und so fort.
Und in jeder dieser Szenerien liegt unauffällig eines der Bücher des Erfolgsschriftstellers Miguel Auristos Blancos herum, die nicht nur das Coelho-Genre der tröstlichen Daseinsdeutungen parodieren, sondern einigermaßen zynisch auch die Leitthemen der Storys spiegeln; "Die Wege des Selbst zu seinem Selbst" heißt eines, ein anderes "Frag den Kosmos, er wird sprechen". In seiner eigenen Geschichte - denn auch ihn lernen wir hier ein Kapitel lang als Helden kennen - entsagt dieser Apostel selbst dann dem in seinen Büchern gepredigten Glauben und greift zur Pistole, mehr aus Eitelkeit als aus Verzweiflung - welche Sensation wird der Selbstmord des Sinnverkünders machen! Zuvor aber schreibt er seinen letzten Brief an eine seiner Verehrerinnen. Es ist die Äbtissin des "Klosters zur Heiligen Vorsehung", und um die Frage nach Providenz und Kontingenz geht es ja auch, in dieser wie in jeder Geschichte.
Begriffe wie "Zufall" und "Schicksal" erscheinen unauffällig und leitmotivisch, aber auch Wörter wie "Gnade" oder "Hoffnung"; immer wieder geht es um Schuld und Sühne, Leben und Tod. Von Geschichte zu Geschichte stellt sich so immer vernehmlicher die Grundfrage nach dem letzten Erzähler, diesem über seine Geschöpfe "wachenden höchsten Wesen", das sich, sofern es ein Geschichtenerzähler ist, doch jedes Mal nur "wie ein zweitklassiger Gott" benimmt und von seinen Figuren so beharrlich mit der Theodizeefrage konfrontiert wird, bis er nicht weiterweiß. In ihrer ganzen kunstvoll-amüsanten Komposition lesen sich diese postmodernen Muster- und Meistergeschichten als ein theologisches Experiment.
Im Erzeugen virtueller Welten sind sie alle groß, diese ahnungslosen Bewohner einer gestaffelten Fiktion. Ihre Beziehungen bilden nach und nach ein so unheimlich zwanghaftes und so komisch verzweigtes Netz, dass beim Lesen der Eindruck entsteht, man blicke in eine unabsehbar weitläufige, aus Geschichten gesponnene virtuelle Welt. Es ist eine Welt namens Literatur. Das gilt aber auch umgekehrt: Dies ist eine Literatur namens Welt. Kehlmanns vernetzte Fiktionen münden nicht in den Leerlauf brillierender Virtuosität, sondern in eine ebenso abgründige wie unterhaltsame Reflexion dessen, was wir die Wirklichkeit nennen. Weil hier früher oder später niemand mehr weiß, wo die Grenze zwischen Wahrheit und Lüge verläuft, deshalb kommt jedem irgendwann auch die Sicherheit darüber abhanden, "wer eigentlich ich gerade war und in welchem Irrgarten ich mich verloren hatte".
Wie aber, wenn eine Figur im Ernst aus dieser Welt herausfiele? So geschieht es hier jener Schriftstellerin, die anstelle des überdrüssigen Leo als deutsche Kultur-Repräsentantin ins ferne Mittelasien reist und dort infolge aberwitziger und folgerichtiger Verwicklungen einfach zurückgelassen wird, vergessen in einem Dorf der Provinz und abgeschnitten von jedem Rückweg. Einmal dem Läuten der Nachtglocke gefolgt - es ist niemals gutzumachen.
Kehlmanns short cuts und simple Storys ergeben ein perfekt abschnurrendes Welt-Maschinchen. Zu dieser Perfektion gehört die Entropie. Die Vollkommenheit der Maschinerie zeigt sich erst in ihrem Kollaps, der so raffiniert kalkuliert ist, als habe ihn auch der reale Autor nicht mehr im Griff (der doch gerade damit triumphiert). Dessen verlässliche Werkzeuge sind die kleine Verspätung, das vergessene Aufladegerät, der dumme Zufall. Die eigentliche Finte dieses Buches ergibt sich daraus, dass es am eigenen Text-Leib vormacht, was seinen Figuren widerfährt. So handelt Leo Richters berühmteste Geschichte von der letzten Reise einer todkranken Frau in ein Schweizer Sterbehilfezentrum - und davon, dass der Autor von seiner verzweifelten Figur so lange zur Rechenschaft gezogen wird, bis er nicht mehr widerstehen kann und seufzend umdisponiert. Eine brillante Volte, wieder einmal. Wie kommt es aber, dass Rosalies letzter Weg von einem Chauffeur gekreuzt wird, der seinem Autor bisher unbekannt war und der uns in einem anderen, keineswegs von Leo Richter erzählten Kapitel wiederbegegnet? Gleich ob er ein moderner Charon ist oder gar der Seibeiuns selbst: In ihm nimmt das Unverfügbare Gestalt an. Der Schriftsteller, der wie eine Spinne im Netz zu sitzen glaubt, wird am Ende von diesem Netz verschlungen.
So lässig wie mit Wahn und Wirklichkeit spielt diese Kunst mit ihren Vorbildern. An Salingers "Nine Stories" erinnert schon der Untertitel, Pynchon und Burroughs lassen grüßen, und an Kehlmanns Hausheilige wie Nabokov und Perutz, Thomas Mann und Borges kann sich, wer will, allenthalben erinnert fühlen. Vor allem aber erweist sich Kehlmann mit diesem Roman als ein sehr zeitgemäßer Romantiker, ein philosophischer Geschichtenerzähler aus jenen Zeiten, in denen die romantische Ironie erfunden, das Spiel von Zufall und Notwendigkeit zum Fiktionsprinzip erhoben und Spiegel, Wieder- und Doppelgänger zu Lieblingsmotiven einer Epoche wurden. Man muss nichts von solchen Bezügen bemerken, um dieses Buch mit dem größten Vergnügen zu lesen. Es gibt in der deutschen Gegenwartsliteratur keinen Autor, der eine derart virtuose Beherrschung des Handwerks mit so viel Welt- und Lebensklugheit verbindet und dabei so temporeich und pointensicher, so unverschämt unterhaltsam erzählt.
In der letzten Geschichte hat es den berühmten Schriftsteller aus dem Spiegelkabinett der Referenzen in die Schrecken der wirklichen Welt verschlagen; die Bürgerkriege in Somalia und Jugoslawien blitzen auf. So jedenfalls scheint es. "Dort draußen war der Tod", denkt Leo, "dort war die Wirklichkeit, so grell und schmerzhaft, dass man dafür keine Sätze mehr finden konnte." Er denkt das zwei Seiten vor dem Ende des Textes, der doch noch immer nichts ist als seine eigene Erfindung, miserabel recherchiert, fatal ausgedacht und unentrinnbar bis zum letzten Wort. So weist das "dort" nur noch voraus auf jenen Punkt, an dem die Fiktionen unwiderruflich enden. Die finale Pointe dieses Romans ist das leere Papier, das auf Leos letzten Satz folgt. Für den Leser ist es der Anfang der zweiten Lektüre.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Daniel Kehlmanns neuer Roman "Ruhm" ist eine Sammlung postmoderner Muster- und Meistergeschichten. Sie stellen die Frage nach dem letzten Erzähler auf ganz unterschiedliche Arten.
Von Heinrich Detering
Vergessen wir einmal den Welterfolg eines gescheiten und unterhaltsamen Buches namens "Die Vermessung der Welt"; vergessen wir die Reizbarkeit der Kritiker, in deren Vorstellung die Worte "gescheit" und "Welterfolg" nicht zusammenpassen; vergessen wir den Ruhm des Schriftstellers Daniel Kehlmann. Lesen wir stattdessen Leo Richter. "Ein Roman ohne Hauptfigur!" lautet die großartige, wenn auch nicht ganz neue Idee, die dieser so berühmte wie fiktive Schriftsteller seiner Freundin im zweiten Kapitel mitteilt, in eben dem Augenblick, in dem der Leser dieses Buches sich über den plötzlichen Figurenwechsel wundert: "Die Komposition, die Verbindungen, der Bogen, aber kein Protagonist, kein durchgehender Held." Der Dichter ist ein Egomane und Neurotiker, "Autor vertrackter Kurzgeschichten voller Spiegelungen und unerwartbarer Volten von einer leicht sterilen Brillanz".
Was sich aus den neun ineinander verspiegelten Geschichten dieses Buches entwickelt, ist der Roman eines Romans. Es ist ein Buch von funkelnder Intelligenz. Und es besitzt vom ersten Satz an eine Spannung, die unwiderstehlich ist. Im genauen Gegensatz zur eitlen Selbstbespiegelung eines Bestsellerautors, die manche Kritiker vorab befürchteten, entwirft Kehlmanns "Ruhm" das facettierte Bild einer Welt, in der alle Figuren fortwährend versuchen, mehrere Leben zu führen, gleichzeitig oder nacheinander und mit Hilfe des Internets oder des Mobiltelefons, durch die sie jederzeit überall dabei sein und das Geschehen umlenken können. Sie alle leben in den Fiktionen, die sie von sich selbst erfinden und die den Mustern von Büchern, Filmen oder Computerspielen folgen wie mythischen Archetypen. So finden sie sich immer neu verstrickt in Geschichten, die sie selbst produzieren, in die großen Erzählungen wie die alltäglichen Lügen.
Mit dem Läuten eines Telefons beginnt und endet es. Auch zwischendrin ist das bekannte Geräusch oft zu hören, und fast immer geht damit eine Verwirrung und Verschiebung der Wirklichkeitsebenen einher. Das Mobiltelefon, bemerkt eine Figur, "nimmt die Wirklichkeit aus allem". Wer sich seiner bedient, kann jederzeit überall und nirgends sein, es dehnt die virtuellen Räume des Internets aus bis in die Manteltaschen. Da erhält ein Computertechniker unverhofft lauter Anrufe, die einem ganz anderen gelten, so lange, bis er wie von selbst in dessen Leben einzugreifen beginnt. Unerforschlich ist die Ursache, unbekannt der andere - jedenfalls für ihn, den Betroffenen selbst. Wir Leser hingegen erfahren in der vorletzten Geschichte vom Rechnerfehler in der Telefonfirma, von den zuständigen und ihrerseits in diverse Doppelleben verwickelten Sachbearbeitern. Bis dahin haben wir auch den eigentlichen Adressaten jener Anrufe längst kennengelernt, den populären Schauspieler, der nicht nur erlebt, wie sein Telefon von einem Moment zum nächsten verstummt, sondern auch, wie er von der eigenen Kopie in Gestalt eines talentierten Imitators aus seinem Leben gedrängt wird, bis er schließlich befreit ein Dasein verlässt, dessen er ohnehin längst müde geworden ist. Ein Doppelleben führt auch der Mann, der zwischen den Welten der Ehefrau und der Geliebten mittels immer waghalsigerer Handy-Nachrichten balanciert, bis er stirbt - ob buchstäblich oder nur vor Peinlichkeit, das bleibt in der Schwebe. (Erzählt er also aus dem Totenreich oder bloß von nebenan?) Er ist der Vorgesetzte eines Internet-Nerd, der alles dafür geben würde, zur Figur in einer Geschichte von Leo Richter zu werden, und der für das Telefondurcheinander des Anfangs mitverantwortlich ist, das wiederum dazu führt, dass der Verzweifelte, der auf Seite zwanzig einem Wildfremden sein Herz ausschüttet, infolge dieses Telefonats seinem Leben ein Ende setzen wird (wie wir sechzig Seiten später vom eigentlich Gemeinten erfahren). Und so fort.
Und in jeder dieser Szenerien liegt unauffällig eines der Bücher des Erfolgsschriftstellers Miguel Auristos Blancos herum, die nicht nur das Coelho-Genre der tröstlichen Daseinsdeutungen parodieren, sondern einigermaßen zynisch auch die Leitthemen der Storys spiegeln; "Die Wege des Selbst zu seinem Selbst" heißt eines, ein anderes "Frag den Kosmos, er wird sprechen". In seiner eigenen Geschichte - denn auch ihn lernen wir hier ein Kapitel lang als Helden kennen - entsagt dieser Apostel selbst dann dem in seinen Büchern gepredigten Glauben und greift zur Pistole, mehr aus Eitelkeit als aus Verzweiflung - welche Sensation wird der Selbstmord des Sinnverkünders machen! Zuvor aber schreibt er seinen letzten Brief an eine seiner Verehrerinnen. Es ist die Äbtissin des "Klosters zur Heiligen Vorsehung", und um die Frage nach Providenz und Kontingenz geht es ja auch, in dieser wie in jeder Geschichte.
Begriffe wie "Zufall" und "Schicksal" erscheinen unauffällig und leitmotivisch, aber auch Wörter wie "Gnade" oder "Hoffnung"; immer wieder geht es um Schuld und Sühne, Leben und Tod. Von Geschichte zu Geschichte stellt sich so immer vernehmlicher die Grundfrage nach dem letzten Erzähler, diesem über seine Geschöpfe "wachenden höchsten Wesen", das sich, sofern es ein Geschichtenerzähler ist, doch jedes Mal nur "wie ein zweitklassiger Gott" benimmt und von seinen Figuren so beharrlich mit der Theodizeefrage konfrontiert wird, bis er nicht weiterweiß. In ihrer ganzen kunstvoll-amüsanten Komposition lesen sich diese postmodernen Muster- und Meistergeschichten als ein theologisches Experiment.
Im Erzeugen virtueller Welten sind sie alle groß, diese ahnungslosen Bewohner einer gestaffelten Fiktion. Ihre Beziehungen bilden nach und nach ein so unheimlich zwanghaftes und so komisch verzweigtes Netz, dass beim Lesen der Eindruck entsteht, man blicke in eine unabsehbar weitläufige, aus Geschichten gesponnene virtuelle Welt. Es ist eine Welt namens Literatur. Das gilt aber auch umgekehrt: Dies ist eine Literatur namens Welt. Kehlmanns vernetzte Fiktionen münden nicht in den Leerlauf brillierender Virtuosität, sondern in eine ebenso abgründige wie unterhaltsame Reflexion dessen, was wir die Wirklichkeit nennen. Weil hier früher oder später niemand mehr weiß, wo die Grenze zwischen Wahrheit und Lüge verläuft, deshalb kommt jedem irgendwann auch die Sicherheit darüber abhanden, "wer eigentlich ich gerade war und in welchem Irrgarten ich mich verloren hatte".
Wie aber, wenn eine Figur im Ernst aus dieser Welt herausfiele? So geschieht es hier jener Schriftstellerin, die anstelle des überdrüssigen Leo als deutsche Kultur-Repräsentantin ins ferne Mittelasien reist und dort infolge aberwitziger und folgerichtiger Verwicklungen einfach zurückgelassen wird, vergessen in einem Dorf der Provinz und abgeschnitten von jedem Rückweg. Einmal dem Läuten der Nachtglocke gefolgt - es ist niemals gutzumachen.
Kehlmanns short cuts und simple Storys ergeben ein perfekt abschnurrendes Welt-Maschinchen. Zu dieser Perfektion gehört die Entropie. Die Vollkommenheit der Maschinerie zeigt sich erst in ihrem Kollaps, der so raffiniert kalkuliert ist, als habe ihn auch der reale Autor nicht mehr im Griff (der doch gerade damit triumphiert). Dessen verlässliche Werkzeuge sind die kleine Verspätung, das vergessene Aufladegerät, der dumme Zufall. Die eigentliche Finte dieses Buches ergibt sich daraus, dass es am eigenen Text-Leib vormacht, was seinen Figuren widerfährt. So handelt Leo Richters berühmteste Geschichte von der letzten Reise einer todkranken Frau in ein Schweizer Sterbehilfezentrum - und davon, dass der Autor von seiner verzweifelten Figur so lange zur Rechenschaft gezogen wird, bis er nicht mehr widerstehen kann und seufzend umdisponiert. Eine brillante Volte, wieder einmal. Wie kommt es aber, dass Rosalies letzter Weg von einem Chauffeur gekreuzt wird, der seinem Autor bisher unbekannt war und der uns in einem anderen, keineswegs von Leo Richter erzählten Kapitel wiederbegegnet? Gleich ob er ein moderner Charon ist oder gar der Seibeiuns selbst: In ihm nimmt das Unverfügbare Gestalt an. Der Schriftsteller, der wie eine Spinne im Netz zu sitzen glaubt, wird am Ende von diesem Netz verschlungen.
So lässig wie mit Wahn und Wirklichkeit spielt diese Kunst mit ihren Vorbildern. An Salingers "Nine Stories" erinnert schon der Untertitel, Pynchon und Burroughs lassen grüßen, und an Kehlmanns Hausheilige wie Nabokov und Perutz, Thomas Mann und Borges kann sich, wer will, allenthalben erinnert fühlen. Vor allem aber erweist sich Kehlmann mit diesem Roman als ein sehr zeitgemäßer Romantiker, ein philosophischer Geschichtenerzähler aus jenen Zeiten, in denen die romantische Ironie erfunden, das Spiel von Zufall und Notwendigkeit zum Fiktionsprinzip erhoben und Spiegel, Wieder- und Doppelgänger zu Lieblingsmotiven einer Epoche wurden. Man muss nichts von solchen Bezügen bemerken, um dieses Buch mit dem größten Vergnügen zu lesen. Es gibt in der deutschen Gegenwartsliteratur keinen Autor, der eine derart virtuose Beherrschung des Handwerks mit so viel Welt- und Lebensklugheit verbindet und dabei so temporeich und pointensicher, so unverschämt unterhaltsam erzählt.
In der letzten Geschichte hat es den berühmten Schriftsteller aus dem Spiegelkabinett der Referenzen in die Schrecken der wirklichen Welt verschlagen; die Bürgerkriege in Somalia und Jugoslawien blitzen auf. So jedenfalls scheint es. "Dort draußen war der Tod", denkt Leo, "dort war die Wirklichkeit, so grell und schmerzhaft, dass man dafür keine Sätze mehr finden konnte." Er denkt das zwei Seiten vor dem Ende des Textes, der doch noch immer nichts ist als seine eigene Erfindung, miserabel recherchiert, fatal ausgedacht und unentrinnbar bis zum letzten Wort. So weist das "dort" nur noch voraus auf jenen Punkt, an dem die Fiktionen unwiderruflich enden. Die finale Pointe dieses Romans ist das leere Papier, das auf Leos letzten Satz folgt. Für den Leser ist es der Anfang der zweiten Lektüre.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Lothar Müller holt weit aus, um Daniel Kehlmann erst einmal über den grünen Klee zu loben. Kehlmann, findet er, ist ein erstklassiger Autor, wenn er Theorien in Erzählstoffe verwandelt, unterhaltsame Dialoge formt und seine Figuren leichthändig durch haarsträubende Plots schickt. Die neun miteinander verbundenen Erzählungen jedoch, die Kehlmann "auf der Höhe seines Ruhms" vorlegt, fügen sich für Müller nicht zu einem Roman. Laut Müller liegt das daran, dass die hier agierenden Figuren ihrem Autor gegenüber keine Geheimnisse haben und Kehlmann es sich diesmal mit der Theorie (es geht um moderne Kommunikationstechnologien) zu einfach macht. Dabei kann Müller den Texten ganz gut folgen. Zu gut womöglich, denn Charakter kann er bei den Figuren nicht erkennen, und die Verrätselung, vom Autor mit Aufwand betrieben, wie es heißt, verpufft und hinterlässt allenfalls Abwatsch-Figuren und, so Müller, beim Leser leider gerade keine offenen Fragen. So, ohne Dichte oder Atmosphäre, möchte der Rezensent das Buch lieber nicht als bedeutenden Roman bezeichnen. Höchstens als logisch verkettete Geschichten eines um keinen Einfall verlegenen Autors - ohne Dämonen und ohne Abgründe.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Daniel Kehlmann scheint alles zu können. Neue Zürcher Zeitung