Ein Roman in Fragmenten – ein literarisches Experiment
Zu Beginn klingelt ein Mobiltelefon. Gleiches passiert am Ende der letzten Episode. Das ist kein Zufall. Daniel Kehlmann parodiert in diesem aus neun Einzelgeschichten bestehenden Roman (unter anderem) die Folgen der modernen
Kommunikationstechnik auf unser Leben. Die Abhängigkeiten sind gewaltiger, als uns im Alltag bewusst…mehrEin Roman in Fragmenten – ein literarisches Experiment
Zu Beginn klingelt ein Mobiltelefon. Gleiches passiert am Ende der letzten Episode. Das ist kein Zufall. Daniel Kehlmann parodiert in diesem aus neun Einzelgeschichten bestehenden Roman (unter anderem) die Folgen der modernen Kommunikationstechnik auf unser Leben. Die Abhängigkeiten sind gewaltiger, als uns im Alltag bewusst ist.
Computertechniker Ebling wird zum Opfer eines technischen Fehlers. Aufgrund einer falschen Nummernzuordnung erhält er ständig Anrufe, die für einen gewissen Ralf bestimmt sind. Jedoch lässt sich Ebling nach kurzer Zeit auf das Spiel ein. Er entwickelt sich vom genervten passiven Opfer zum aktiven Gestalter einer Lebenswirklichkeit, die nicht die Seine ist. Mit dieser Geschichte gelingt Kehlmann ein humorvoller Einstieg in seinen verschachtelten Roman.
Fehler in der Technik können sich auch dramatisch auswirken. Maria Rubinstein, die in „Osten“ mit einer Journalistendelegation in Richtung China unterwegs ist, wäre nach einem Zwischenstopp froh, wenn sie überhaupt eine Verbindung hätte. Sie wird von der Reiseleitung vergessen und ist damit von der Außenwelt abgeschnitten.
An diesen Fragmenten des Romans wird erkennbar, dass es Autor Kehlmann nicht nur um das Versagen der Technik, sondern auch um Identitätsprobleme geht. Schauspieler Ralf Tanner weiß, was damit gemeint ist. Von einem Tag zum anderen bekommt er keine Anrufe mehr, weil die Telefongesellschaft die Anschlüsse falsch zugeordnet hat (siehe Querverbindungen zu „Stimmen“ und „Wie ich log und starb“). Sein Leben gerät aus den Fugen. Er wird zum mittelmäßigen Imitator seiner Selbst.
Eine besondere Rolle spielt der Schriftsteller Leo Richter, der in mehreren Episoden vorkommt und mindestens eine davon („Rosalie geht sterben“) selbst verfasst hat. Dies ist eine ernste Geschichte über eine todkranke ältere Frau, die sterben möchte. Seltsam ist, dass Protagonistin Rosalie Konversation mit dem Autor, also mit Leo Richter, führt. Kehlmann experimentiert mit den Erzählebenen, Realität und Fiktion werden vermischt.
Die Vermischung der Ebenen wird in der letzten Episode „In Gefahr“ auf die Spitze getrieben. Elisabeth und Leo Richter verreisen (wie auch in der ersten Episode „In Gefahr“) und treffen Lara Gaspard, eine Romanfigur von Leo Richter. Was ist Fantasie, was ist Realität? Zur Verwirrung trägt auch ein dünner Mann mit Hornbrille und fettigem Haar bei, der zweimal als Fahrer auftaucht, einmal real und einmal fiktiv in einer Geschichte von Leo Richter (S. 68 u. 185).
„Ein Beitrag zur Debatte“ wirkt auf mich nicht authentisch. Die Geschichte ist zwar unterhaltsam, jedoch klingt der Slang konstruiert. Es ist nicht die Jugendsprache, sondern Kehlmanns Vorstellung von der Jugendsprache, die hier umgesetzt wurde. Dieses Experiment ist nur mäßig gelungen.
„Ruhm“ ist laut Buchbeschreibung ein Roman in neun Geschichten. In einem Interview sprach Daniel Kehlmann von einem Roman, der aus jeweils abgeschlossenen aber eng zusammengehörenden Episoden besteht. Jede Geschichte außer der letzten funktioniere auch für sich allein.
Es gibt zahlreiche Verknüpfungen zwischen den Geschichten, jedoch überwiegt die Fragmentierung. Der Roman bietet reichlich Stoff für Interpretationen, aber er fesselt nicht. Dazu sind die Einzelgeschichten zu weit auseinander, das Gesamtwerk zu konstruiert. Abweichung von der Norm, wohl durchdachte Struktur und Variationen im Stil reichen nicht aus, es muss auch Atmosphäre geschaffen werden, wie sie eher in einem durchgängigen Gesamtwerk möglich ist.
Positiv bleibt festzuhalten: Der Roman fordert heraus. Identität ist ein großes Thema. Kehlmann betreibt ein Versteckspiel, welches man ergründen möchte. Wo liegen die Grenzen zwischen Realität und Fiktion? Wie sind die Erzählebenen aufgebaut? Wo liegen die Verbindungen zwischen den Episoden?