»Ein Buch von bemerkenswerter Tiefe, das es vermag, sowohl eine Weltgeschichte Europas als auch eine europäische Geschichte der Welt nach 1945 zu sein.« Christopher Clark
1945 liegt Europa in Trümmern. Städte und Gemeinden sind durch Krieg zerstört, die Wirtschaft am Boden. Das von den Nationalsozialisten industrialisierte Morden hat ethische Werte ebenso pervertiert wie Religion, Kultur und Wissenschaft. Wie ist es gelungen, dem zerrütteten Kontinent wieder Frieden, Wohlstand und Fortschritt zu bringen? Auf der Grundlage von Originalquellen und Zeitzeugenberichten schreibt Paul Betts die vielstimmige Erzählung der Wiedergeburt Europas und zeigt, welch große Errungenschaft wir heute wieder verlieren könnten.
1945 liegt Europa in Trümmern. Städte und Gemeinden sind durch Krieg zerstört, die Wirtschaft am Boden. Das von den Nationalsozialisten industrialisierte Morden hat ethische Werte ebenso pervertiert wie Religion, Kultur und Wissenschaft. Wie ist es gelungen, dem zerrütteten Kontinent wieder Frieden, Wohlstand und Fortschritt zu bringen? Auf der Grundlage von Originalquellen und Zeitzeugenberichten schreibt Paul Betts die vielstimmige Erzählung der Wiedergeburt Europas und zeigt, welch große Errungenschaft wir heute wieder verlieren könnten.
Rezensent Knud von Harbou staunt, dass der Zeithistoriker Paul Betts sein Buch verhalten optimistisch beendet. In den "ausgewogen" und laut Rezensent übersichtlich gestalteten Kapiteln des Buches lernt Harbou zunächst anhand politischer, geistes- und kulurhistorischer Details, wie sich Europa nach 1945 zivilisatorisch entwickelte und welche Konflikte dabei auftauchten (Stichworte: Kalter Krieg, Konsumgesellschaft, Religion). Anregend findet der Rezensent Betts Ausführungen auch, da der Autor internationale Geschichte mit berücksichtigt. Was die frühe BRD angeht, stößt Harbou dagegen auf viel allzu Bekanntes.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Rezensent Otto Langels ist angetan von Paul Betts ungewöhnlicher historischer Studie, die den europäischen "fieberhaften Wiederaufbau" nach 1945 behandelt. Als roter Faden dient dem Oxford-Professor für Moderne Europäische Geschichte dabei der "vage definierte" Begriff der Zivilisation, so Langels, den er in Hinblick auf ganz verschiedene Bereiche anführt - sei es im Sinne von Wohltätigkeit bei umfangreichen internationalen Spendenaktionen der Zeit, sei es in den Bereichen der Mode und Wohlkultur: so galt im Nachkriegseuropa die US-amerikanische Konsumgüterindustrie mit ihren Kühlschränken oder Badewannen als "Maßstab für zivilisatorischen Fortschritt", lernt der Kritiker. Etwas differenzierter hätte an dieser Stelle der Preis beleuchtet werden können, der für diese Seite der Zivilisation zu zahlen ist, merkt Langels an, ebenso wie der damals wie heute zu beobachtende Missbrauch des Zivilisationsbegriffs für verbrecherische Kriegshandlungen. Trotzdem eine "originelle Politik-, Sozial- und Kulturgeschichte", die eine "bereichernde" Lektüre bietet, lobt der Kritiker.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.03.2022Im Zeichen
der Zivilisation
Paul Betts schildert das Jahr 1945, als Europa
in Trümmern lag, als Ausgangspunkt
einer „Wiedergeburt“. Recivilization war
lange ein Zauberwort – und aktuell
sieht man, was alles auf dem Spiel steht
VON KNUD VON HARBOU
Es ist ein hoher Anspruch, den der in Oxford lehrende Zeithistoriker Paul Betts in „Ruin und Erneuerung“ stellt. Ihm geht es um nichts Geringeres, als die Konstitution unserer europäischen Nachkriegszivilisation zu erklären. Der Begriff Zivilisation dient ihm dabei „als Bezugspunkt, um jenseits des Nationalstaats und der Teilung im Kalten Krieg die neue Lage Europas zu erfassen und das Verhältnis des Kontinents zu Vergangenheit, Zukunft und dem Rest der Welt neu zu denken“. Diese Definition fand ihre institutionelle Widerspiegelung in der Gründung der Vereinten Nationen im Frühjahr 1945. Von Anfang an waren die UN die Bühne, auf der das Thema Zivilisation zum Streitobjekt verschiedener Werte, Begierden und Machtansprüche wurde. Betrachtet werden dabei die verschiedensten Definitionen bis hin zur wohl am weitesten gehenden Theorie bei Claude Lévi-Strauss, der in „Traurige Tropen“ (1955) die Zivilisation als letztes und grundlegendstes Element einer Artzugehörigkeit begriff.
Betts schildert die Entwicklung der Zivilisation aus einer breiten Perspektive verschiedenster Elemente der Politik-, Geistes- und Kulturgeschichte. Schließlich waren sie es, die neue kulturelle Landkarten Europas zeichneten, abseits herkömmlicher Studien über die Supermächte oder Nationalstaaten. Dem Autor war daran gelegen, „wie die Rede von der Zivilisation Eliten und einfache Bürger in die Lage versetzte, Sinn und Bedeutung Europas unter politischen Verhältnissen, die sie sich oftmals nicht ausgesucht hatten, umzugestalten“. Insofern liest sich Betts Studie als alternative Geschichte der Neuerschaffung Europas nach 1945.
Sehr übersichtlich anhand markanter Unterkapitelüberschriften wird man konfrontiert etwa mit einer „Geografie der Zerstörung“ als Basis der Stunde null 1945. Skizzenhaft tauchen alle wesentlichen Elemente des apokalyptischen Infernos auf, aus ihm schälen sich die überlebenden Zeugen, die „wahren Ruinen und Trümmer der Zivilisation“ heraus, später wirkungsmächtige Gestalter dieser Ödnis. Doch wer waren denn diese Menschen, Träger der europäischen Zivilisation, zumal in Deutschland? Wie mutierte dort eine „Generation des Unbedingten“ (Michael Wildt) zu einem „geduckten Opportunismus“ (Ulrich Herbert) nach dem Krieg? Dieser mentalitätshistorische Aspekt bleibt offen.
Am Leben gehalten wurden die Kriegsüberlebenden von der UNRRA (United Nations Relief and Rehabilitation Administration), einer nicht-religiösen Hilfsorganisation, in deren Fokus außer medizinischer Hilfeleistung die Verwaltung der Not stand. Das bedingte natürlich politisches Handeln, etwa bei der Rückführung der sechs Millionen russischer Bürger, die sich vehement gegen eine Repatriierung in Stalins Reich sträubten. Nur ein Beispiel für die Dimension politischer Organisation nach dem Krieg, das der Autor als Fundament für die „Recivilization“ anführt. Die Unterstützung der UN-Agentur schuf Frieden auf dem Kontinent und vermittelte zugleich eine neue Idee von Westeuropa.
Denn zunehmend schälte sich der Begriff Zivilisation als Synonym liberaler Werte heraus. In ihrem Kern bedeutete das zunächst Denazifizierung, Demilitarisierung, Demokratisierung und Dezentralisierung. Ideologisch vermittelt werden sollte die neue Kultur durch das gigantische Programm der Reeducation in den vier Besatzungszonen. Aus Angst vor Resten der NS-Herrschaft in der deutschen Bevölkerung war die Unterweisung anfangs mit einem strikten Fraternisierungsverbot belegt. Schwer tat man sich naturgemäß in der Praxis mit dem Motto: Vergebung statt Vergeltung. Eines der wirksamsten Mittel bei der Etablierung einer erhofften neuen Kultur war die Macht der Bilder; der Fotojournalismus kreierte eine neue „universalistische Sensibilität“.
In ausgewogenen Kapiteln beschreibt der Autor die Konflikte der Grundsäulen des Kalten Kriegs, die säkularen Utopien amerikanisch christlicher Freiheit und des sowjetischen Verständnisses von Gerechtigkeit, den Kampf um christliche Menschenrechte, eine christliche Zivilisation mit entsprechender Rückbesinnung auf abendländische Wurzeln. Doch das alte Denken wurde zusehends überlagert von einer materiellen Zivilisation, Stichwort Konsumgesellschaft. Deren Nutzer an die neuen Normen anzupassen, war wohl der Impetus eines einzigartigen Booms von sogenannten Anstandsbüchern. Zugleich hoffte man, damit einer verwahrlosten jungen Generation einen Halt zu geben.
Anders als Zivilisationstheoretiker wie Arnold J. Toynbee, Kenneth Clark, Lucien Febvre, Norbert Elias und als Ausnahme Samuel P. Huntington („ Der Kampf der Kulturen“, 1996) dachten, mutierte der Begriff Zivilisation zu einem imperialen Vorwand („Hier kämpfen wir als Vorhut der freien Welt“), zuerst im Kolonialismus, dann als Unterstützung freier Völker, aber auch zur Unterdrückung. Erst die Unabhängigkeitsbewegungen lehnten sich gegen die Verknüpfung von Imperium und Zivilisation auf. Die so entstandene Lücke füllte etwa die Unesco, die mit dem hohen Ideal einer Weltzivilisation versuchte, neue Brücken zwischen Europa und Afrika zu bauen. In der heutigen Restitutionsdebatte kann man verfolgen, wie weit die Akzeptanz nationaler Identitäten gewachsen ist. Parallel verweist der Autor auf die Bemühungen einer Zivilisierungsmission des Sozialismus und seiner Nachfolgeideologien, in Afrika Fuß zu fassen. Nicht aus den Augen gelassen wird auch, wie eine archaisch religiöse Zivilisation in Zeiten des Multikulturalismus politisch agiert, etwa bei der Zerstörung der antiken syrischen Stadt Palmyra durch den „Islamischen Staat“ 2015.
Das Buch bleibt eine anregende historische Nacherzählung der Zeit nach 1945, eine Lesebuch über die Entstehung von Konstituanten. Dieser Aspekt bedingt seinen Reiz, zumal auch außereuropäische Geschichte einfließt. Es verfährt durchaus gewinnbringend in einer Art phänomenologischer Komprimation. Jedoch ist vieles, gerade über die frühe Bundesrepublik, zu bekannt, und das hätte man gewiss durch Rückgriff auf den jeweiligen Forschungsstand ergiebiger gestalten können.
Immerhin endet das Buch verhalten positiv. Paul Betts glaubt, dass „potenziell universale Begriffe wie Zivilisation (…) möglicherweise die einzigen sprachlichen Mittel (sind), die uns bleiben, wenn wir die Aussicht auf Frieden und internationale Zusammenarbeit erhalten wollen“.
Jedoch sehen wir, wie aktuell eine solche Studie über das Nachkriegseuropa sein kann. Denn was ist die Basis für die gesicherte Existenz der Ukraine (wenn es die je wieder geben wird) und wie wirkt das bis heute anhaltende genetische Narrativ von Lähmung, Schweigen, Unterwürfigkeit noch aus der Stalin-Zeit in Russland? Worauf kann man in der Zukunft aufbauen?
Bald galt der Begriff als
Synonym liberaler Werte, doch
der Missbrauch war nicht weit
Beginn einer neuen Zeitrechnung: Installation auf dem Roten Platz in Moskau zum Kriegsende 1945.
Foto: Sean Gallup/Getty
Paul Betts:
Ruin und Erneuerung. Die Wiedergeburt der europäischen Zivilisation 1945. Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter und Jan Martin Ogiermann. Propyläen-Verlag, Hamburg 2022. 624 Seiten, 39 Euro. E-Book: 34,99 Euro.
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der Zivilisation
Paul Betts schildert das Jahr 1945, als Europa
in Trümmern lag, als Ausgangspunkt
einer „Wiedergeburt“. Recivilization war
lange ein Zauberwort – und aktuell
sieht man, was alles auf dem Spiel steht
VON KNUD VON HARBOU
Es ist ein hoher Anspruch, den der in Oxford lehrende Zeithistoriker Paul Betts in „Ruin und Erneuerung“ stellt. Ihm geht es um nichts Geringeres, als die Konstitution unserer europäischen Nachkriegszivilisation zu erklären. Der Begriff Zivilisation dient ihm dabei „als Bezugspunkt, um jenseits des Nationalstaats und der Teilung im Kalten Krieg die neue Lage Europas zu erfassen und das Verhältnis des Kontinents zu Vergangenheit, Zukunft und dem Rest der Welt neu zu denken“. Diese Definition fand ihre institutionelle Widerspiegelung in der Gründung der Vereinten Nationen im Frühjahr 1945. Von Anfang an waren die UN die Bühne, auf der das Thema Zivilisation zum Streitobjekt verschiedener Werte, Begierden und Machtansprüche wurde. Betrachtet werden dabei die verschiedensten Definitionen bis hin zur wohl am weitesten gehenden Theorie bei Claude Lévi-Strauss, der in „Traurige Tropen“ (1955) die Zivilisation als letztes und grundlegendstes Element einer Artzugehörigkeit begriff.
Betts schildert die Entwicklung der Zivilisation aus einer breiten Perspektive verschiedenster Elemente der Politik-, Geistes- und Kulturgeschichte. Schließlich waren sie es, die neue kulturelle Landkarten Europas zeichneten, abseits herkömmlicher Studien über die Supermächte oder Nationalstaaten. Dem Autor war daran gelegen, „wie die Rede von der Zivilisation Eliten und einfache Bürger in die Lage versetzte, Sinn und Bedeutung Europas unter politischen Verhältnissen, die sie sich oftmals nicht ausgesucht hatten, umzugestalten“. Insofern liest sich Betts Studie als alternative Geschichte der Neuerschaffung Europas nach 1945.
Sehr übersichtlich anhand markanter Unterkapitelüberschriften wird man konfrontiert etwa mit einer „Geografie der Zerstörung“ als Basis der Stunde null 1945. Skizzenhaft tauchen alle wesentlichen Elemente des apokalyptischen Infernos auf, aus ihm schälen sich die überlebenden Zeugen, die „wahren Ruinen und Trümmer der Zivilisation“ heraus, später wirkungsmächtige Gestalter dieser Ödnis. Doch wer waren denn diese Menschen, Träger der europäischen Zivilisation, zumal in Deutschland? Wie mutierte dort eine „Generation des Unbedingten“ (Michael Wildt) zu einem „geduckten Opportunismus“ (Ulrich Herbert) nach dem Krieg? Dieser mentalitätshistorische Aspekt bleibt offen.
Am Leben gehalten wurden die Kriegsüberlebenden von der UNRRA (United Nations Relief and Rehabilitation Administration), einer nicht-religiösen Hilfsorganisation, in deren Fokus außer medizinischer Hilfeleistung die Verwaltung der Not stand. Das bedingte natürlich politisches Handeln, etwa bei der Rückführung der sechs Millionen russischer Bürger, die sich vehement gegen eine Repatriierung in Stalins Reich sträubten. Nur ein Beispiel für die Dimension politischer Organisation nach dem Krieg, das der Autor als Fundament für die „Recivilization“ anführt. Die Unterstützung der UN-Agentur schuf Frieden auf dem Kontinent und vermittelte zugleich eine neue Idee von Westeuropa.
Denn zunehmend schälte sich der Begriff Zivilisation als Synonym liberaler Werte heraus. In ihrem Kern bedeutete das zunächst Denazifizierung, Demilitarisierung, Demokratisierung und Dezentralisierung. Ideologisch vermittelt werden sollte die neue Kultur durch das gigantische Programm der Reeducation in den vier Besatzungszonen. Aus Angst vor Resten der NS-Herrschaft in der deutschen Bevölkerung war die Unterweisung anfangs mit einem strikten Fraternisierungsverbot belegt. Schwer tat man sich naturgemäß in der Praxis mit dem Motto: Vergebung statt Vergeltung. Eines der wirksamsten Mittel bei der Etablierung einer erhofften neuen Kultur war die Macht der Bilder; der Fotojournalismus kreierte eine neue „universalistische Sensibilität“.
In ausgewogenen Kapiteln beschreibt der Autor die Konflikte der Grundsäulen des Kalten Kriegs, die säkularen Utopien amerikanisch christlicher Freiheit und des sowjetischen Verständnisses von Gerechtigkeit, den Kampf um christliche Menschenrechte, eine christliche Zivilisation mit entsprechender Rückbesinnung auf abendländische Wurzeln. Doch das alte Denken wurde zusehends überlagert von einer materiellen Zivilisation, Stichwort Konsumgesellschaft. Deren Nutzer an die neuen Normen anzupassen, war wohl der Impetus eines einzigartigen Booms von sogenannten Anstandsbüchern. Zugleich hoffte man, damit einer verwahrlosten jungen Generation einen Halt zu geben.
Anders als Zivilisationstheoretiker wie Arnold J. Toynbee, Kenneth Clark, Lucien Febvre, Norbert Elias und als Ausnahme Samuel P. Huntington („ Der Kampf der Kulturen“, 1996) dachten, mutierte der Begriff Zivilisation zu einem imperialen Vorwand („Hier kämpfen wir als Vorhut der freien Welt“), zuerst im Kolonialismus, dann als Unterstützung freier Völker, aber auch zur Unterdrückung. Erst die Unabhängigkeitsbewegungen lehnten sich gegen die Verknüpfung von Imperium und Zivilisation auf. Die so entstandene Lücke füllte etwa die Unesco, die mit dem hohen Ideal einer Weltzivilisation versuchte, neue Brücken zwischen Europa und Afrika zu bauen. In der heutigen Restitutionsdebatte kann man verfolgen, wie weit die Akzeptanz nationaler Identitäten gewachsen ist. Parallel verweist der Autor auf die Bemühungen einer Zivilisierungsmission des Sozialismus und seiner Nachfolgeideologien, in Afrika Fuß zu fassen. Nicht aus den Augen gelassen wird auch, wie eine archaisch religiöse Zivilisation in Zeiten des Multikulturalismus politisch agiert, etwa bei der Zerstörung der antiken syrischen Stadt Palmyra durch den „Islamischen Staat“ 2015.
Das Buch bleibt eine anregende historische Nacherzählung der Zeit nach 1945, eine Lesebuch über die Entstehung von Konstituanten. Dieser Aspekt bedingt seinen Reiz, zumal auch außereuropäische Geschichte einfließt. Es verfährt durchaus gewinnbringend in einer Art phänomenologischer Komprimation. Jedoch ist vieles, gerade über die frühe Bundesrepublik, zu bekannt, und das hätte man gewiss durch Rückgriff auf den jeweiligen Forschungsstand ergiebiger gestalten können.
Immerhin endet das Buch verhalten positiv. Paul Betts glaubt, dass „potenziell universale Begriffe wie Zivilisation (…) möglicherweise die einzigen sprachlichen Mittel (sind), die uns bleiben, wenn wir die Aussicht auf Frieden und internationale Zusammenarbeit erhalten wollen“.
Jedoch sehen wir, wie aktuell eine solche Studie über das Nachkriegseuropa sein kann. Denn was ist die Basis für die gesicherte Existenz der Ukraine (wenn es die je wieder geben wird) und wie wirkt das bis heute anhaltende genetische Narrativ von Lähmung, Schweigen, Unterwürfigkeit noch aus der Stalin-Zeit in Russland? Worauf kann man in der Zukunft aufbauen?
Bald galt der Begriff als
Synonym liberaler Werte, doch
der Missbrauch war nicht weit
Beginn einer neuen Zeitrechnung: Installation auf dem Roten Platz in Moskau zum Kriegsende 1945.
Foto: Sean Gallup/Getty
Paul Betts:
Ruin und Erneuerung. Die Wiedergeburt der europäischen Zivilisation 1945. Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter und Jan Martin Ogiermann. Propyläen-Verlag, Hamburg 2022. 624 Seiten, 39 Euro. E-Book: 34,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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"Betts schildert die Entwicklung der Zivilisation aus einer breiten Perspektive verschiedenster Elemente der Politik-, Geistes- und Kulturgeschichte. Schließlich waren sie es, die neue kulturelle Landkarten Europas zeichneten, abseits herkömmlicher Studien über die Supermächte oder Nationalstaaten. [...] eine anregende historische Nacherzählung der Zeit nach 1945.[...] Jedoch sehen wir, wie aktuell eine solche Studie über das Nachkriegseuropa sein kann. Denn was ist die Basis für die gesicherte Existenz der Ukraine (wenn es die je wieder geben wird) und wie wirkt das bis heute anhaltende genetische Narrativ von Lähmung, Schweigen, Unterwürfigkeit noch aus der Stalin-Zeit in Russland? Worauf kann man in der Zukunft aufbauen?" Knud von Harbou Süddeutsche Zeitung 20220307