Auf der Beerdigung seines Vaters, eines Kunsthändlers, kommt Viggen mit einer Frau ins Gespräch. Irgendein Geheimnis umgibt diese Person. Zwei Tage nach der Trauerfeier verabredet er sich mit ihr. Viggen, der mit Filmrechten handelt und dessen fast fünfzigjähriges Leben grau und routiniert geworden ist, sieht durch Dora alles in neuen, kräftigen Farben. Er ist von dieser Frau fasziniert, die ihm so nah, so vertraut ist. Vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben fühlt er sich verstanden. Er führt sie in die Münchner Gesellschaft ein, nimmt sie mit auf seine Reisen. Auch Dora, die gleichfalls in einer Existenzkrise steckt, fällt es zunehmend schwerer, sich Viggen zu entziehen. Was sie hindert, ist etwas, das nur sie allein weiß. Nach einem gemeinsamen nächtlichen Bad im Starnberger See bemerkt Viggen, daß Dora sich verändert hat. Sie wirkt in sich gekehrt, verschlossen, beinahe abweisend. Eines Tages ist sie spurlos verschwunden. Ruin eine Liebesgeschichte, gewiß. Auch ein Gesellschaftsroman. Und ein Buch über die Mysterien von Verlust und Neubeginn. Ein Mann unter Einfluss Thomas Palzer beweist mit seinem München-Roman RUIN Mut zum Pathos Im strahlenden Azur des Golfs von Neapel beginnt, was einsam im Tresorraum einer Schweizer Bank endet: RUIN, die Schicksalssymphonie eines Mannes im biografisch gefährlichen Alter um die fünfzig ... Die fast gleichzeitige Begegnung mit dem Tod und der Liebe katapultiert Viggen in eine Abwärtsspirale, die Plazers bildmächtige Sprache kräftig beschleunigt. Dabei schreckt er auch vor kühnen Metaphern nicht zurück, was sein Buch, das Gegenwartsphänomene wie die Ökonomisierung aller Lebensbereiche thematisiert, zu einem geistigen wie sinnlichen Lesegenuss macht... Als kalter Schauer erfrischt das Wagnis RUIN von der Beliebigkeit der hartnäckigen Mainstream-Literatur, wie sie in Workshops und Lieteraturinstituten nach Art holländischer Tomaten herausgezüchtet wird. (Süddeutsche Zeitung)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.01.2006Das Lächeln der Hotline
Wachstumsstörungen: Thomas Palzer ist in schlechter Gesellschaft
Manchmal kann man zusehen, wie ein Buch an den Ansprüchen seines Schöpfers scheitert. Zunächst wiegt der Autor sich in bester Hoffnung und Schaffenslaune. Wir sehen ihn am Schreibtisch sitzen: ein Konzept in der Hand, einige Kästchen mit Formulierungen und literarischen Bildern vor sich. Im Kopf, den er nachdenklich wiegt, ein ausnehmend kritisches Bewußtsein. Thomas Palzer entwirft die Geschichte eines Mannes in der Sinnkrise der Lebensmitte, der auf der Beerdigung seines Vaters eine Frau trifft. Es ist die uneheliche Tochter des Verstorbenen, eine rätselhafte Person, in die sich der Bruder verliebt.
Schön, schön, sagt die innere Stimme des Autors, eine inzestuöse Liebesgeschichte, aber das ist doch nicht alles, was du kannst! Thomas Palzer schaut auf seinen Romanplan und beginnt auszuholen: Viggen, der Protagonist, ist ein von jeher unzufriedener Bundesbürger, der im Filmgeschäft arbeitet und sich mit dem Tod seines Vaters beschäftigt. Seine Halbschwester, eine schöngeistige Slawistin, kommt aus der DDR und ist vor den Schrecken der Wiedervereinigung nach Breslau geflüchtet. Dort bringt ihr polnischer Geliebter die verborgene Familiengeschichte ans Tageslicht, die sie dann nach München an das Grab des Vaters führt. In dieser Geschichte berühren sich Ost und West. Jede der Figuren transportiert ein Stückchen Zeitgeschichte und bemüht sich, regelmäßig auf geschichtsträchtige Vorgänge hinzuweisen.
Gut, sagt der Ehrgeiz des Autors. Aber bist du nicht auch Gesellschaftskritiker? Denk an deine Essays "Camping. Rituale des Diversen", erschienen im Jahre 2003. Auf dieses Stichwort hin versammelt Thomas Palzer zahllose kulturkritische Gemeinplätze und unterlegt sie seinem Roman. Da ist zunächst die Verachtung der Massen. Sie übermannt die Figuren bei ihren Stadtspaziergängen: "Was ins Auge sprang, waren Prallheit, gepaart mit feistem Selbstgenuß, war die Ausgelassenheit derer, die sonst mit größtem Ernst ihre Gewinnsucht befriedigten."
Hier klingt nicht nur die Beschränkung breiter Bevölkerungsschichten, sondern schon der nächste Klassiker, die Kapitalismuskritik, an. Natürlich ist "Wachstum" die einzige gesellschaftliche Utopie, die es "der Wirtschaft" ermöglicht, "ungestört maximierte Gewinne" einzustreichen. Die "Population der Schnäppchenjäger" streift derweil durch die zu "Konsumzwecken umfunktionierte Innenstadt" oder sitzt vorm Fernseher und läßt sich - getreu der guten alten Verblendungstheorie - mit der Eheschließung dänischer Prinzen abspeisen. Fehlt in einem Land, in dem der Nationalsozialismus selbstverständlich fortwirkt, noch ein ordentliches Maß an Demokratieverachtung. Hat die "historische Unterdrückung durch wenige" sich doch nur "in eine demokratische, in eine Unterdrückung durch alle" verwandelt. Gut, daß es aufrechte Menschen wie Viggen und Dora gibt - erhaben über all jene Träger von Biographien, "die der Computer ausspuckt, eingequetscht zwischen Rentabilität und Ranking".
Da meldet sich die poetische Ader des Autors. Das Ganze darf nicht nach Leitartikel klingen. Metaphern müssen her, Personifikationen und Bildbrüche. Thomas Palzer greift zu seinen Formulierungskästchen und findet eine Menge Beschreibungsmaterial für Alltagsvorgänge: "Eines der Schiffe am Hafen blökte." Ein anderes erbricht "Klumpen drängelnder Menschen". Einige Leute haben "im Gesicht das eingefrorene Lächeln einer Hotline". Und um die Mittagszeit läßt sich ein bemerkenswerter Vorgang beobachten: "Westeuropa, das Tablett vor der Brust, machte sich auf in Richtung Kantine."
Zu der erzwungenen Originalität kommt ein Hang zur Redundanz. Auch entbehrliche Vorgänge werden in diesem Roman benannt und geschildert. Gravierende Mängel tauchen auch bei der Darstellung des Figurenbewußtseins auf. Die große Menge drängender existentieller Fragen, das Leben, die Liebe, der Tod, machen es notwendig, ins Innere der empfindungsfreudigen Figuren vorzudringen. Es gelingt Thomas Palzer aber nicht, ihre Gedankenwelt zu entfalten. An die Stelle von Assoziationen treten auch hier Ausführungen und Aufsager.
Es ist für alle Beteiligten unerfreulich, wenn ein Buch mißlingt. Das ändert sich auch nicht, wenn dem Leser ein kleiner Trostpreis winkt. Denn der junge Münchner blumenbar Verlag, dessen Autor Thomas Palzer ist, verspricht bei Eintritt in den Verlags-Club mit seinen Lesungen und Konzerten, nicht nur "das unbezahlbare Gefühl, Teil eines einzigartigen Projekts zu sein", sondern auch einen silbernen Schlüsselanhänger in limitierter Auflage. Am Anhänger klimpern die Schlüssel, aber es klingt irgendwie immer nach: "Ruin".
SANDRA KERSCHBAUMER
Thomas Palzer: "Ruin". Roman. blumenbar Verlag, München 2005. 260 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wachstumsstörungen: Thomas Palzer ist in schlechter Gesellschaft
Manchmal kann man zusehen, wie ein Buch an den Ansprüchen seines Schöpfers scheitert. Zunächst wiegt der Autor sich in bester Hoffnung und Schaffenslaune. Wir sehen ihn am Schreibtisch sitzen: ein Konzept in der Hand, einige Kästchen mit Formulierungen und literarischen Bildern vor sich. Im Kopf, den er nachdenklich wiegt, ein ausnehmend kritisches Bewußtsein. Thomas Palzer entwirft die Geschichte eines Mannes in der Sinnkrise der Lebensmitte, der auf der Beerdigung seines Vaters eine Frau trifft. Es ist die uneheliche Tochter des Verstorbenen, eine rätselhafte Person, in die sich der Bruder verliebt.
Schön, schön, sagt die innere Stimme des Autors, eine inzestuöse Liebesgeschichte, aber das ist doch nicht alles, was du kannst! Thomas Palzer schaut auf seinen Romanplan und beginnt auszuholen: Viggen, der Protagonist, ist ein von jeher unzufriedener Bundesbürger, der im Filmgeschäft arbeitet und sich mit dem Tod seines Vaters beschäftigt. Seine Halbschwester, eine schöngeistige Slawistin, kommt aus der DDR und ist vor den Schrecken der Wiedervereinigung nach Breslau geflüchtet. Dort bringt ihr polnischer Geliebter die verborgene Familiengeschichte ans Tageslicht, die sie dann nach München an das Grab des Vaters führt. In dieser Geschichte berühren sich Ost und West. Jede der Figuren transportiert ein Stückchen Zeitgeschichte und bemüht sich, regelmäßig auf geschichtsträchtige Vorgänge hinzuweisen.
Gut, sagt der Ehrgeiz des Autors. Aber bist du nicht auch Gesellschaftskritiker? Denk an deine Essays "Camping. Rituale des Diversen", erschienen im Jahre 2003. Auf dieses Stichwort hin versammelt Thomas Palzer zahllose kulturkritische Gemeinplätze und unterlegt sie seinem Roman. Da ist zunächst die Verachtung der Massen. Sie übermannt die Figuren bei ihren Stadtspaziergängen: "Was ins Auge sprang, waren Prallheit, gepaart mit feistem Selbstgenuß, war die Ausgelassenheit derer, die sonst mit größtem Ernst ihre Gewinnsucht befriedigten."
Hier klingt nicht nur die Beschränkung breiter Bevölkerungsschichten, sondern schon der nächste Klassiker, die Kapitalismuskritik, an. Natürlich ist "Wachstum" die einzige gesellschaftliche Utopie, die es "der Wirtschaft" ermöglicht, "ungestört maximierte Gewinne" einzustreichen. Die "Population der Schnäppchenjäger" streift derweil durch die zu "Konsumzwecken umfunktionierte Innenstadt" oder sitzt vorm Fernseher und läßt sich - getreu der guten alten Verblendungstheorie - mit der Eheschließung dänischer Prinzen abspeisen. Fehlt in einem Land, in dem der Nationalsozialismus selbstverständlich fortwirkt, noch ein ordentliches Maß an Demokratieverachtung. Hat die "historische Unterdrückung durch wenige" sich doch nur "in eine demokratische, in eine Unterdrückung durch alle" verwandelt. Gut, daß es aufrechte Menschen wie Viggen und Dora gibt - erhaben über all jene Träger von Biographien, "die der Computer ausspuckt, eingequetscht zwischen Rentabilität und Ranking".
Da meldet sich die poetische Ader des Autors. Das Ganze darf nicht nach Leitartikel klingen. Metaphern müssen her, Personifikationen und Bildbrüche. Thomas Palzer greift zu seinen Formulierungskästchen und findet eine Menge Beschreibungsmaterial für Alltagsvorgänge: "Eines der Schiffe am Hafen blökte." Ein anderes erbricht "Klumpen drängelnder Menschen". Einige Leute haben "im Gesicht das eingefrorene Lächeln einer Hotline". Und um die Mittagszeit läßt sich ein bemerkenswerter Vorgang beobachten: "Westeuropa, das Tablett vor der Brust, machte sich auf in Richtung Kantine."
Zu der erzwungenen Originalität kommt ein Hang zur Redundanz. Auch entbehrliche Vorgänge werden in diesem Roman benannt und geschildert. Gravierende Mängel tauchen auch bei der Darstellung des Figurenbewußtseins auf. Die große Menge drängender existentieller Fragen, das Leben, die Liebe, der Tod, machen es notwendig, ins Innere der empfindungsfreudigen Figuren vorzudringen. Es gelingt Thomas Palzer aber nicht, ihre Gedankenwelt zu entfalten. An die Stelle von Assoziationen treten auch hier Ausführungen und Aufsager.
Es ist für alle Beteiligten unerfreulich, wenn ein Buch mißlingt. Das ändert sich auch nicht, wenn dem Leser ein kleiner Trostpreis winkt. Denn der junge Münchner blumenbar Verlag, dessen Autor Thomas Palzer ist, verspricht bei Eintritt in den Verlags-Club mit seinen Lesungen und Konzerten, nicht nur "das unbezahlbare Gefühl, Teil eines einzigartigen Projekts zu sein", sondern auch einen silbernen Schlüsselanhänger in limitierter Auflage. Am Anhänger klimpern die Schlüssel, aber es klingt irgendwie immer nach: "Ruin".
SANDRA KERSCHBAUMER
Thomas Palzer: "Ruin". Roman. blumenbar Verlag, München 2005. 260 S., geb., 18,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Der Roman ist "misslungen". Palzer "scheitert" an seinen eigenen Ansprüchen meint Sandra Kerschbaumer. Die Hauptfigur, mitten in einer Sinnkrise, verliebt sich bei der Beerdigung seines Vaters in seine bis dato unbekannte Halbschwester. Doch damit nicht genug. Der Autor wolle zu viel meint die Rezensentin. Von der "inzestuösen Liebesgeschichte" ausgehend baue er nicht nur den Ost-West-Konflikt, die Verachtung der Massen sowie reichlich Gesellschafts- und Kapitalismuskritik ein, sondern versuche sich auch noch als Poet. Das findet Kerschbaumer im besten Falle nur "erzwungen originell", und die ständigen Wiederholungen tragen auch nicht unbedingt zur Verbesserung ihrer Laune bei. Und wo Palzer in die Tiefe gehen müsste, bleibe er zurück. Die Innenwelt der Figuren erscheint der Rezensentin nicht ausreichend erforscht. "Es ist für alle Beteiligten unerfreulich, wenn ein Buch misslingt."
© Perlentaucher Medien GmbH
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