"We are, all of us, everywhere, always, enmeshed in a web of rules and constraints. Rules fix the beginning and end of the working day and the school year, direct the ebb and flow of traffic on the roads, dictate who can be married to whom and how, place the fork to the right or the left of the plate, lay down the meter and rhyme scheme of a Petrarchan sonnet, and order the rites of birth and death. Cultures notoriously differ as to the content of their rules, but there is no culture without rules. In this book, historian of science Lorraine Daston adopts a long term perspective for studying rules from diverse sources, including monastic orders, cookbooks, and mathematical algorithms. She argues that in the Western tradition most rules can be characterized as one of the following: tools of measurement and calculation, models or paradigms, or laws. Moreover, they exist on spectra from specific to general, flexible to rigid and the specific-to-general, and universal-to-particular. In investigating how rules work, how they don't work, how they've changed across time, and why exceptions are necessary, Daston paints a vivid picture of Western civilization from the antiquity to the present"--
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Frankfurter Allgemeine ZeitungWas Algorithmen und Kochrezepte verbindet
Eine Chronik westlicher Praktiken und Normen: Lorraine Daston erkundet die weite Welt der Regeln
Der Ausgangspunkt dieses Buchs über Regeln ist deren Allgegenwart in unserer westlichen Zivilisation: Lorraine Daston, lange Jahre Direktorin am Berliner Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, wartet mit etlichen realen, oft skurrilen Beispielen auf. Welche Art von Handgepäck mit an Bord eines Flugzeugs darf, ist ebenso normiert wie Begrüßungsformen. Allerdings geschieht dies auf verschiedene Weise, und bereits in diesem ersten Beispiel Dastons wird ihr Wille zur Systematisierung sichtbar: Das Handgepäck unterliegt expliziten Regeln, Begrüßungsformen folgen impliziten Regeln. Freilich, diese und andere Unterscheidungen sind nicht kategorisch, die Übergänge oft fließend.
Regeln sind ubiquitär, für jede Form von Gesellschaft unverzichtbar und doch unterschiedlich strukturiert. Daston analysiert diese historische Vielfalt mit drei Gegensatzpaaren: Regeln können entweder "dick" oder "dünn" formuliert sein, sie können flexibel oder rigide angewendet werden, und schließlich sind sie generell oder spezifisch in ihrem Feld. Dicke Regeln sind nach diesem Verständnis ausstaffiert mit Beispielen, Vorbehalten und Ausnahmen. Es handelt sich um Regeln, die auf die Umstände Rücksicht nehmen und Adaptierungen vorsehen. Demgegenüber sind dünne Regeln strikt anzuwenden, und Algorithmen sind das beste Beispiel dafür.
Der kompakte Durchgang durch mehr als dreitausend Jahre Geschichte von Regeln bietet daher weit mehr als ein bloßes Panorama von Vielfalt. Es ist im Kern eine Geschichte westlicher Praktiken und Normen, die riesige Gebiete durchquert: die Astronomie, das Recht, die Mathematik, die Rechtschreibung, die Theologie, Künste und Handwerke kommen in ausgewogener und durchdachter Weise zur Geltung. Daston veranschaulicht, bietet originelle Beispiele und sucht stets praktische Anknüpfungspunkte für ihre Analysen mit dem Willen zur Thesenbildung.
Die Autorin arbeitet drei idealtypische semantische Varianten von Regeln heraus. Auch wenn die Bezeichnungen für Regeln vielfältig und inkonsistent sind, so verbergen sich doch hinter Gesetzen, Maximen, Prinzipien, Richtlinien, Instruktionen, Rezepten, Regulierungen, Aphorismen, Normen und Algorithmen wiederkehrende Typen: Sie können Instrumente von Messen und Rechnen sein ("Algorithmen"), als Modelle beziehungsweise Paradigmen für Imitation auftreten oder Gesetze sein.
Dastons Interesse gilt zunächst großen historischen Verschiebungen unter diesen drei Typen. Ihrer These zufolge war über die meiste Zeit der Menschheitsgeschichte die Regel als Modell oder Muster für Imitation dominant. Die entsprechenden Anweisungen sind in Ton und Inhalt kategorisch - aber großzügige Ausnahmen folgen postwendend. Diese Ausnahmen sind eigentlich Teil der Regel. Daston hebt die schöne Kunst der Unterscheidung hervor, die diese Art Norm strukturiert. Sie bewundert in ihr eine Form von Urteilskraft, die spezifische Umstände immer berücksichtigt, geleitet von der "Weisheit der Erfahrung", welche jene Unterscheidungen würdigt, die nicht prinzipiell, sondern in der Praxis wirksam sind. Wenn man es falsch angeht, wird es Haarspalterei, und man pulverisiert die Kategorien; macht man es aber richtig, sind in diesen Unterscheidungen intellektuelle und moralische Erkenntnis vereint.
In der frühen Neuzeit wird Europa überschwemmt von Anleitungsliteratur. Handbücher formalisierten das Wissen zu Normen. Aus diesen Druckschriften konnte man lernen, wie Pferde für das Rennen vorzubereiten waren; wie man Marmelade macht, Wasser aus Minen pumpt, eine Schweinefarm beginnt, in Perspektive zeichnet. Daston macht vier Merkmale dieser Regeln aus: Der Tonfall war imperativ, das Wissen aus individueller Erfahrung gewonnen, aber als allgemein anwendbar formuliert, zudem sollten die Adressaten selbst bereits ein Mindestmaß an Lehrzeit besitzen, und zudem galt das Versprechen des Fortschritts nicht nur für das Individuum, sondern auch für das Gemeinwesen.
Auch die politischen Obrigkeiten sind in der frühen Neuzeit fleißige Normproduzenten. Daston kommt auf die wenig erfolgreichen Versuche, den Untertanen verbindliche Kleiderordnungen nahezubringen. Erfolgreicher sind die Gesetzgeber in der Regulierung des Zusammenlebens in den Städten, etwa in Fragen des Straßenverkehrs oder der Sauberkeit. Solche Normdurchsetzung findet Daston eher durch republikanische als durch autoritäre Staatswesen gewährleistet.
Zeitgleich fasziniert politische Theoretiker und Naturwissenschaftler die Analogie zwischen Naturrecht und Gesetzen der Natur, die im Englischen sprachlich noch näher beieinanderliegen: Die "Laws of Nature" erscheinen den Gelehrten des siebzehnten Jahrhunderts unverbrüchlich. Denn nur das Gesetz, nicht der Gesetzgeber - sei es Gott oder ein absoluter Monarch - soll allmächtig sein. Freilich scheinen dann doch Ausnahmen erforderlich. In der Politik sind das die Prärogativen des Souveräns, in der Natur braucht es (theologisch erläuterte) Wunder für Regelbrüche.
Im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert wird für Daston ein neuer Typus Regeln dominant: Es sind die Algorithmen. Mit ihnen geht das Versprechen mechanischer Anwendung (womöglich durch Maschinen) einher, aber auch eine Art zivilisatorischer Selbstüberschätzung. Umgekehrt findet eine Abwertung jener Paradigma-Regeln statt, deren Kennzeichen Flexibilität in der Anwendung ist. Ausnahmen von den Regeln und Gesetzen geraten unter politischen Verdacht. Aber sie bleiben unverzichtbar. Globale Institutionen mögen erfolgreich Standardisierungen herbeigeführt haben. Doch sie sind nie perfekt, und auch Computeralgorithmen müssen überwacht, ihre Exzesse korrigiert und ihre blinden Flecken geortet werden.
Wenig erfährt man bei Daston über das Verschwinden und die erfolgreiche Abschaffung von Normen. Das mag daran liegen, dass Stabilität und Vorhersehbarkeit in einer turbulenten Welt mühsam errungene Qualitäten sind. Sie bleiben abhängig von politischem Willen, technischen Infrastrukturen und der Internalisierung von Normen. Krisen, Kriege und Revolutionen etwa können sie jederzeit erschüttern. Solche Explosionen von Unsicherheit werden bezeichnenderweise als "Ausnahmezustand" bezeichnet, und manche Theoretiker zieht es zu ihm. Dieser Herrschaftswunsch verkörpert aber, hält Daston fest, die gefährliche Feindschaft gegenüber allen Regeln und Gesetzen.
Wie viele Feststellungen von Daston lässt sich auch diese als politischer Kommentar verstehen - ohne dass die Autorin deshalb in eindimensionale Interpretationen abglitte. Sie demonstriert in diesem bestechenden Buch eine Unterscheidungskunst und Umsicht, die ihresgleichen suchen. MILOS VEC
Lorraine Daston: "Rules". A Short History of What We Live By.
Princeton University Press, Princeton 2022. 384 S., Abb., geb., 29,99 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine Chronik westlicher Praktiken und Normen: Lorraine Daston erkundet die weite Welt der Regeln
Der Ausgangspunkt dieses Buchs über Regeln ist deren Allgegenwart in unserer westlichen Zivilisation: Lorraine Daston, lange Jahre Direktorin am Berliner Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, wartet mit etlichen realen, oft skurrilen Beispielen auf. Welche Art von Handgepäck mit an Bord eines Flugzeugs darf, ist ebenso normiert wie Begrüßungsformen. Allerdings geschieht dies auf verschiedene Weise, und bereits in diesem ersten Beispiel Dastons wird ihr Wille zur Systematisierung sichtbar: Das Handgepäck unterliegt expliziten Regeln, Begrüßungsformen folgen impliziten Regeln. Freilich, diese und andere Unterscheidungen sind nicht kategorisch, die Übergänge oft fließend.
Regeln sind ubiquitär, für jede Form von Gesellschaft unverzichtbar und doch unterschiedlich strukturiert. Daston analysiert diese historische Vielfalt mit drei Gegensatzpaaren: Regeln können entweder "dick" oder "dünn" formuliert sein, sie können flexibel oder rigide angewendet werden, und schließlich sind sie generell oder spezifisch in ihrem Feld. Dicke Regeln sind nach diesem Verständnis ausstaffiert mit Beispielen, Vorbehalten und Ausnahmen. Es handelt sich um Regeln, die auf die Umstände Rücksicht nehmen und Adaptierungen vorsehen. Demgegenüber sind dünne Regeln strikt anzuwenden, und Algorithmen sind das beste Beispiel dafür.
Der kompakte Durchgang durch mehr als dreitausend Jahre Geschichte von Regeln bietet daher weit mehr als ein bloßes Panorama von Vielfalt. Es ist im Kern eine Geschichte westlicher Praktiken und Normen, die riesige Gebiete durchquert: die Astronomie, das Recht, die Mathematik, die Rechtschreibung, die Theologie, Künste und Handwerke kommen in ausgewogener und durchdachter Weise zur Geltung. Daston veranschaulicht, bietet originelle Beispiele und sucht stets praktische Anknüpfungspunkte für ihre Analysen mit dem Willen zur Thesenbildung.
Die Autorin arbeitet drei idealtypische semantische Varianten von Regeln heraus. Auch wenn die Bezeichnungen für Regeln vielfältig und inkonsistent sind, so verbergen sich doch hinter Gesetzen, Maximen, Prinzipien, Richtlinien, Instruktionen, Rezepten, Regulierungen, Aphorismen, Normen und Algorithmen wiederkehrende Typen: Sie können Instrumente von Messen und Rechnen sein ("Algorithmen"), als Modelle beziehungsweise Paradigmen für Imitation auftreten oder Gesetze sein.
Dastons Interesse gilt zunächst großen historischen Verschiebungen unter diesen drei Typen. Ihrer These zufolge war über die meiste Zeit der Menschheitsgeschichte die Regel als Modell oder Muster für Imitation dominant. Die entsprechenden Anweisungen sind in Ton und Inhalt kategorisch - aber großzügige Ausnahmen folgen postwendend. Diese Ausnahmen sind eigentlich Teil der Regel. Daston hebt die schöne Kunst der Unterscheidung hervor, die diese Art Norm strukturiert. Sie bewundert in ihr eine Form von Urteilskraft, die spezifische Umstände immer berücksichtigt, geleitet von der "Weisheit der Erfahrung", welche jene Unterscheidungen würdigt, die nicht prinzipiell, sondern in der Praxis wirksam sind. Wenn man es falsch angeht, wird es Haarspalterei, und man pulverisiert die Kategorien; macht man es aber richtig, sind in diesen Unterscheidungen intellektuelle und moralische Erkenntnis vereint.
In der frühen Neuzeit wird Europa überschwemmt von Anleitungsliteratur. Handbücher formalisierten das Wissen zu Normen. Aus diesen Druckschriften konnte man lernen, wie Pferde für das Rennen vorzubereiten waren; wie man Marmelade macht, Wasser aus Minen pumpt, eine Schweinefarm beginnt, in Perspektive zeichnet. Daston macht vier Merkmale dieser Regeln aus: Der Tonfall war imperativ, das Wissen aus individueller Erfahrung gewonnen, aber als allgemein anwendbar formuliert, zudem sollten die Adressaten selbst bereits ein Mindestmaß an Lehrzeit besitzen, und zudem galt das Versprechen des Fortschritts nicht nur für das Individuum, sondern auch für das Gemeinwesen.
Auch die politischen Obrigkeiten sind in der frühen Neuzeit fleißige Normproduzenten. Daston kommt auf die wenig erfolgreichen Versuche, den Untertanen verbindliche Kleiderordnungen nahezubringen. Erfolgreicher sind die Gesetzgeber in der Regulierung des Zusammenlebens in den Städten, etwa in Fragen des Straßenverkehrs oder der Sauberkeit. Solche Normdurchsetzung findet Daston eher durch republikanische als durch autoritäre Staatswesen gewährleistet.
Zeitgleich fasziniert politische Theoretiker und Naturwissenschaftler die Analogie zwischen Naturrecht und Gesetzen der Natur, die im Englischen sprachlich noch näher beieinanderliegen: Die "Laws of Nature" erscheinen den Gelehrten des siebzehnten Jahrhunderts unverbrüchlich. Denn nur das Gesetz, nicht der Gesetzgeber - sei es Gott oder ein absoluter Monarch - soll allmächtig sein. Freilich scheinen dann doch Ausnahmen erforderlich. In der Politik sind das die Prärogativen des Souveräns, in der Natur braucht es (theologisch erläuterte) Wunder für Regelbrüche.
Im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert wird für Daston ein neuer Typus Regeln dominant: Es sind die Algorithmen. Mit ihnen geht das Versprechen mechanischer Anwendung (womöglich durch Maschinen) einher, aber auch eine Art zivilisatorischer Selbstüberschätzung. Umgekehrt findet eine Abwertung jener Paradigma-Regeln statt, deren Kennzeichen Flexibilität in der Anwendung ist. Ausnahmen von den Regeln und Gesetzen geraten unter politischen Verdacht. Aber sie bleiben unverzichtbar. Globale Institutionen mögen erfolgreich Standardisierungen herbeigeführt haben. Doch sie sind nie perfekt, und auch Computeralgorithmen müssen überwacht, ihre Exzesse korrigiert und ihre blinden Flecken geortet werden.
Wenig erfährt man bei Daston über das Verschwinden und die erfolgreiche Abschaffung von Normen. Das mag daran liegen, dass Stabilität und Vorhersehbarkeit in einer turbulenten Welt mühsam errungene Qualitäten sind. Sie bleiben abhängig von politischem Willen, technischen Infrastrukturen und der Internalisierung von Normen. Krisen, Kriege und Revolutionen etwa können sie jederzeit erschüttern. Solche Explosionen von Unsicherheit werden bezeichnenderweise als "Ausnahmezustand" bezeichnet, und manche Theoretiker zieht es zu ihm. Dieser Herrschaftswunsch verkörpert aber, hält Daston fest, die gefährliche Feindschaft gegenüber allen Regeln und Gesetzen.
Wie viele Feststellungen von Daston lässt sich auch diese als politischer Kommentar verstehen - ohne dass die Autorin deshalb in eindimensionale Interpretationen abglitte. Sie demonstriert in diesem bestechenden Buch eine Unterscheidungskunst und Umsicht, die ihresgleichen suchen. MILOS VEC
Lorraine Daston: "Rules". A Short History of What We Live By.
Princeton University Press, Princeton 2022. 384 S., Abb., geb., 29,99 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main