Frankfurter Allgemeine ZeitungVor dem Ruxit?
Nach zwei Jahrzehnten russischer Mitgliedschaft im Europarat ziehen Völkerrechtler Bilanz
Seit Monaten bindet der Brexit die öffentliche Aufmerksamkeit. Indessen hört man wenig darüber, dass Russland womöglich demnächst den Europarat verlassen könnte. Dabei hätte auch ein solcher Ruxit weitreichende Folgen. Überhaupt spielt der Europarat in der öffentlichen Wahrnehmung eine untergeordnete Rolle. Die meiste Zeit ist er im Schatten der EU. Das gilt, wenn lange historische Linien gezogen werden: von der zunächst sektoralen ökonomischen Verbindung Kerneuropas über den umfassenden Binnenmarkt bis hin zur auch politischen Integration des halben Kontinents unter dem Dach der heutigen EU. Und es gilt erst recht für die Tagespolitik. Von der Pkw-Maut bis zum Upload-Filter, von den Grenzwerten für Stickoxide bis zur Verteilungsquote für Flüchtlinge - auch hier dominieren die EU-Themen.
Im Europarat geht es demgegenüber weder um ökonomische noch gar um politische Integration. Vielmehr ist die Vision seit jeher eine andere gewesen: Europa als Wertegemeinschaft, gegründet auf das Fundament der Europäischen Menschenrechtskonvention, verteidigt und entwickelt durch ihr wichtigstes Organ, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Auch dieses europäische Nachkriegsprojekt blickt auf eine bemerkenswerte Karriere zurück. Als System regionalen Menschenrechtsschutzes gilt der Europarat weltweit als vorbildlich, und seit dem Fall des Eisernen Vorhangs sind fast alle europäischen Staaten Mitglieder. Deren größtes ist Russland. Es gehört allerdings auch zu den schwierigsten. Dass zurzeit sogar ein Ausscheiden möglich ist, hat mit der Krim-Krise zu tun. In Reaktion darauf hatte man Russlands Mitgliedsrechte teilweise suspendiert, weswegen Moskau wiederum die Beitragszahlungen eingestellt hat. Eine weitere Zuspitzung erscheint möglich, obwohl sich inzwischen die Stimmen mehren, die für eine Deeskalation eintreten. Der Generalsekretär des Europarats, Jagland, hat hervorgehoben, wie wichtig ein Verbleib Russlands in der Organisation sei, um den institutionalisierten Dialog fortzusetzen und keine weitere Spaltung Europas zu riskieren. Das deutsche Interesse hieran hat auch Außenminister Maas betont.
Aber nicht alle teilen diese Sicht. Der frühere Präsident des Menschenrechtsgerichtshofs Wildhaber äußerte kürzlich, man habe sich in den neunziger Jahren falsche Hoffnungen gemacht und hätte Russland besser gar nicht erst in den Europarat aufgenommen. Probleme gibt es tatsächlich nicht erst seit dem Ukraine-Konflikt. Von Anfang an erreichten den Gerichtshof aus Russland sehr viele Beschwerden wegen Menschenrechtsverletzungen, darunter zeitweilig auch derart gravierende, wie sie in Europa ansonsten kaum vorkommen. Noch heute sind Russlands Verfahrenszahlen hoch, und auch die Umsetzung der Richtersprüche funktioniert nicht immer. Es besteht also aller Anlass, zu fragen, ob die Mitgliedschaft im Europarat überhaupt positive Auswirkungen auf die Menschenrechtslage in Russland gehabt hat. Dieser Frage nach dem "Strasbourg Effect" sind die Völkerrechtler Lauri Mälksoo und Wolfgang Benedek nachgegangen. Die Erträge ihrer breit angelegten Studie, an der viele weitere Experten, auch russische, beteiligt waren, liegen jetzt in Form eines rund vierhundertseitigen Bandes vor. Dessen Fokus liegt auf der wechselvollen Interaktion zwischen der russischen Judikative und dem Straßburger Gericht, die in ihrer Entwicklung nuanciert nachgezeichnet wird. Daneben werden exemplarisch drei gründliche Fallstudien zu konkreten Grundrechtsfragen präsentiert: die eine über die Aufarbeitung staatlicher Verbrechen im Tschetschenien-Konflikt, eine zweite zum Umgang mit Eigentumsrechten in der postsozialistischen Transformation und schließlich noch eine dritte zum sehr umkämpften Thema sexuelle Orientierung. Umrahmt wird das Ganze von Beiträgen, die den zeitgeschichtlichen und politischen Kontext weiter ausleuchten, die Studie im völkerrechtlichen Diskurs verorten und resümieren. Während für ein Fachpublikum das Buch insgesamt lesenswert ist, dürften von allgemeinem politischen Interesse der Überblicksbeitrag zur russischen Europaratsmitgliedschaft von Petra Roter und die Resümees der Herausgeber sein.
Man kann aus dieser Arbeit viel lernen, vor allem über die Komplexität des Themas. Einen "Strasbourg Effect" hat es natürlich gegeben, in vielen Bereichen sogar den erwünschten einer allmählichen Anpassung der russischen Rechtslage an die Standards der Menschenrechtskonvention. Die Entwicklung des Eigentumsschutzes dient hier als primäres Beispiel. Aber die Autoren konstatieren generell eine Bereitschaft Russlands, die Straßburger Rechtsprechung zu respektieren, solange es nicht um politisch sensible oder besonders belastende Anforderungen geht. Ferner fällt ihre Bilanz für die ersten Jahre der Mitgliedschaft besser aus, während sie die aktuelle Entwicklung eher negativ bewerten. Aber ob das nun Symptom einer allgemein schwindenden Achtung vor den Menschenrechten ist, wie man sie zurzeit auch andernorts beobachtet, oder aber eine russische Gegenreaktion auf den "moralischen Zeigefinger" aus Straßburg, lässt sich nicht aufklären. Dessen ungeachtet gilt es jedenfalls, auch die Stimmen der Betroffenen zu beachten: Die zahlreichen Beschwerden aus Russland zeugen ja nicht nur von einer angespannten Menschenrechtslage, sondern auch davon, dass viele den Weg nach Straßburg als lohnend erachten, und sei es manchmal vielleicht auch nur, um ihre Situation publik zu machen. Das allein würde schon reichen, um einen positiven "Strasbourg Effect" auf Russland zu verbuchen.
Eine nicht minder wichtige, im Buch jedoch nur angerissene Frage ist die nach dem "Russia Effect" auf Straßburg. Die Autorität eines internationalen Gerichts ist ein zartes Pflänzchen. Das russische Modell der Schönwetter-Compliance, wie es seit einigen Jahren nun selbst das dortige Verfassungsgericht offiziell unterstützt, kann da viel Schaden anrichten. Gewiss verhalten sich im Europarat auch noch ein paar andere Staaten ähnlich. Sollte Russlands Verhalten Schule machen, wäre der europäische Menschenrechtsschutz insgesamt gefährdet.
Sollte Russland also im Europarat bleiben? Man mag sich kaum ein Urteil zutrauen, nach der Lektüre dieser höchst differenzierten Studie eigentlich noch weniger als vorher. Eher vielleicht eine Prognose: Was dem europäischen System individualisierten Menschenrechtsschutzes langfristig zuträglich wäre, ist wahrscheinlich sekundär; entscheidend dagegen sind die "große Politik" und das aktuelle Bedürfnis, den Dialog mit Moskau nicht weiter zu belasten. Also wird Russland bleiben - und mit ihm die Herausforderungen für die Straßburger Rechtsprechung.
ALEXANDER GRASER
Lauri Mälksoo/Wolfgang Benedek (Herausgeber): Russia and the European Court of Human Rights: The Strasbourg Effect.
Cambridge University Press, Cambridge 2018. 418 S., 27,99 £.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nach zwei Jahrzehnten russischer Mitgliedschaft im Europarat ziehen Völkerrechtler Bilanz
Seit Monaten bindet der Brexit die öffentliche Aufmerksamkeit. Indessen hört man wenig darüber, dass Russland womöglich demnächst den Europarat verlassen könnte. Dabei hätte auch ein solcher Ruxit weitreichende Folgen. Überhaupt spielt der Europarat in der öffentlichen Wahrnehmung eine untergeordnete Rolle. Die meiste Zeit ist er im Schatten der EU. Das gilt, wenn lange historische Linien gezogen werden: von der zunächst sektoralen ökonomischen Verbindung Kerneuropas über den umfassenden Binnenmarkt bis hin zur auch politischen Integration des halben Kontinents unter dem Dach der heutigen EU. Und es gilt erst recht für die Tagespolitik. Von der Pkw-Maut bis zum Upload-Filter, von den Grenzwerten für Stickoxide bis zur Verteilungsquote für Flüchtlinge - auch hier dominieren die EU-Themen.
Im Europarat geht es demgegenüber weder um ökonomische noch gar um politische Integration. Vielmehr ist die Vision seit jeher eine andere gewesen: Europa als Wertegemeinschaft, gegründet auf das Fundament der Europäischen Menschenrechtskonvention, verteidigt und entwickelt durch ihr wichtigstes Organ, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Auch dieses europäische Nachkriegsprojekt blickt auf eine bemerkenswerte Karriere zurück. Als System regionalen Menschenrechtsschutzes gilt der Europarat weltweit als vorbildlich, und seit dem Fall des Eisernen Vorhangs sind fast alle europäischen Staaten Mitglieder. Deren größtes ist Russland. Es gehört allerdings auch zu den schwierigsten. Dass zurzeit sogar ein Ausscheiden möglich ist, hat mit der Krim-Krise zu tun. In Reaktion darauf hatte man Russlands Mitgliedsrechte teilweise suspendiert, weswegen Moskau wiederum die Beitragszahlungen eingestellt hat. Eine weitere Zuspitzung erscheint möglich, obwohl sich inzwischen die Stimmen mehren, die für eine Deeskalation eintreten. Der Generalsekretär des Europarats, Jagland, hat hervorgehoben, wie wichtig ein Verbleib Russlands in der Organisation sei, um den institutionalisierten Dialog fortzusetzen und keine weitere Spaltung Europas zu riskieren. Das deutsche Interesse hieran hat auch Außenminister Maas betont.
Aber nicht alle teilen diese Sicht. Der frühere Präsident des Menschenrechtsgerichtshofs Wildhaber äußerte kürzlich, man habe sich in den neunziger Jahren falsche Hoffnungen gemacht und hätte Russland besser gar nicht erst in den Europarat aufgenommen. Probleme gibt es tatsächlich nicht erst seit dem Ukraine-Konflikt. Von Anfang an erreichten den Gerichtshof aus Russland sehr viele Beschwerden wegen Menschenrechtsverletzungen, darunter zeitweilig auch derart gravierende, wie sie in Europa ansonsten kaum vorkommen. Noch heute sind Russlands Verfahrenszahlen hoch, und auch die Umsetzung der Richtersprüche funktioniert nicht immer. Es besteht also aller Anlass, zu fragen, ob die Mitgliedschaft im Europarat überhaupt positive Auswirkungen auf die Menschenrechtslage in Russland gehabt hat. Dieser Frage nach dem "Strasbourg Effect" sind die Völkerrechtler Lauri Mälksoo und Wolfgang Benedek nachgegangen. Die Erträge ihrer breit angelegten Studie, an der viele weitere Experten, auch russische, beteiligt waren, liegen jetzt in Form eines rund vierhundertseitigen Bandes vor. Dessen Fokus liegt auf der wechselvollen Interaktion zwischen der russischen Judikative und dem Straßburger Gericht, die in ihrer Entwicklung nuanciert nachgezeichnet wird. Daneben werden exemplarisch drei gründliche Fallstudien zu konkreten Grundrechtsfragen präsentiert: die eine über die Aufarbeitung staatlicher Verbrechen im Tschetschenien-Konflikt, eine zweite zum Umgang mit Eigentumsrechten in der postsozialistischen Transformation und schließlich noch eine dritte zum sehr umkämpften Thema sexuelle Orientierung. Umrahmt wird das Ganze von Beiträgen, die den zeitgeschichtlichen und politischen Kontext weiter ausleuchten, die Studie im völkerrechtlichen Diskurs verorten und resümieren. Während für ein Fachpublikum das Buch insgesamt lesenswert ist, dürften von allgemeinem politischen Interesse der Überblicksbeitrag zur russischen Europaratsmitgliedschaft von Petra Roter und die Resümees der Herausgeber sein.
Man kann aus dieser Arbeit viel lernen, vor allem über die Komplexität des Themas. Einen "Strasbourg Effect" hat es natürlich gegeben, in vielen Bereichen sogar den erwünschten einer allmählichen Anpassung der russischen Rechtslage an die Standards der Menschenrechtskonvention. Die Entwicklung des Eigentumsschutzes dient hier als primäres Beispiel. Aber die Autoren konstatieren generell eine Bereitschaft Russlands, die Straßburger Rechtsprechung zu respektieren, solange es nicht um politisch sensible oder besonders belastende Anforderungen geht. Ferner fällt ihre Bilanz für die ersten Jahre der Mitgliedschaft besser aus, während sie die aktuelle Entwicklung eher negativ bewerten. Aber ob das nun Symptom einer allgemein schwindenden Achtung vor den Menschenrechten ist, wie man sie zurzeit auch andernorts beobachtet, oder aber eine russische Gegenreaktion auf den "moralischen Zeigefinger" aus Straßburg, lässt sich nicht aufklären. Dessen ungeachtet gilt es jedenfalls, auch die Stimmen der Betroffenen zu beachten: Die zahlreichen Beschwerden aus Russland zeugen ja nicht nur von einer angespannten Menschenrechtslage, sondern auch davon, dass viele den Weg nach Straßburg als lohnend erachten, und sei es manchmal vielleicht auch nur, um ihre Situation publik zu machen. Das allein würde schon reichen, um einen positiven "Strasbourg Effect" auf Russland zu verbuchen.
Eine nicht minder wichtige, im Buch jedoch nur angerissene Frage ist die nach dem "Russia Effect" auf Straßburg. Die Autorität eines internationalen Gerichts ist ein zartes Pflänzchen. Das russische Modell der Schönwetter-Compliance, wie es seit einigen Jahren nun selbst das dortige Verfassungsgericht offiziell unterstützt, kann da viel Schaden anrichten. Gewiss verhalten sich im Europarat auch noch ein paar andere Staaten ähnlich. Sollte Russlands Verhalten Schule machen, wäre der europäische Menschenrechtsschutz insgesamt gefährdet.
Sollte Russland also im Europarat bleiben? Man mag sich kaum ein Urteil zutrauen, nach der Lektüre dieser höchst differenzierten Studie eigentlich noch weniger als vorher. Eher vielleicht eine Prognose: Was dem europäischen System individualisierten Menschenrechtsschutzes langfristig zuträglich wäre, ist wahrscheinlich sekundär; entscheidend dagegen sind die "große Politik" und das aktuelle Bedürfnis, den Dialog mit Moskau nicht weiter zu belasten. Also wird Russland bleiben - und mit ihm die Herausforderungen für die Straßburger Rechtsprechung.
ALEXANDER GRASER
Lauri Mälksoo/Wolfgang Benedek (Herausgeber): Russia and the European Court of Human Rights: The Strasbourg Effect.
Cambridge University Press, Cambridge 2018. 418 S., 27,99 £.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main