Has Russia turned from "Paul to Saul" in international humanitarian law (IHL)? In a first step, the book offers a comprehensive account of the Russian contributions to IHL in the 19th century. Secondly, it analyses Russia's current approach to IHL, drawing on a wide range of legislation, case law, diplomatic records, and military practice. Finally, the author contrasts the past and the present. He embeds his findings in the present context and concludes that Russia has come a long way from advancing the law to evading the law. The book is aimed at international lawyers as well as readers interested in legal history. The author is an IHL researcher and practitioner with extensive experience in the post-soviet world.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.08.2022Vom Malerpinsel zum Vorschlaghammer
Russland und sein Verhältnis zum Humanitären Völkerrecht
"Paria" ist seit dem 24. Februar 2022 ein immer häufiger verwendeter Begriff, um Russlands Rolle in der internationalen Staatengemeinschaft und seine Haltung zum Völkerrecht zu beschreiben. Zum "Paria" wird Russland nicht allein durch seine offensichtlichen Verstöße gegen das Humanitäre Völkerrecht auf dem gesamten Territorium der Ukraine. Es geht vor allem auch um Russlands augenscheinliche Strategie des Leugnens, dass es sich überhaupt in einem internationalen bewaffneten Konflikt mit der Ukraine befindet. Den Fakt des Krieges gegen die Ukraine zu bestreiten führt wiederum dazu, die Anwendbarkeit von Humanitärem Völkerrecht in Abrede und in letzter Konsequenz auch dessen Gültigkeit in infrage zu stellen.
Leicht könnte man sich an dieser Stelle eines Erklärungsmusters bedienen, das Russland in der Rolle des ewigen Rechtsbeugers und -brechers sieht. Dem ist nicht so, wie Michael Riepl eindrücklich in seiner mehr als 400 Seiten starken Monographie demonstriert, die Anfang 2022, also am Vorabend des russischen Angriffs auf die Ukraine, erschienen und auch Open Access zugänglich ist.
Im ersten Teil des Buches führt Riepl seine Leser von der Vorreiterrolle des russischen Zarenreichs für die Kodifizierung des Humanitären Völkerrechts zwischen 1850 und 1917 zu den großen Brüchen zweier Weltkriege, danach weiter zur sowjetischen Theorie und Praxis des Humanitären Völkerrechts und schließlich bis hin zum vertraglich besiegelten Ende der Sowjetunion im Jahr 1991. Der zweite Teil des Buches widmet sich in fünf Kapiteln dem Verhältnis der Russländischen Föderation zum Humanitären Völkerrecht seit 1991. Herausstechend in diesem Teil sind das dritte, vierte und fünfte Kapitel, in denen Riepl drei Techniken Russlands umreißt, dem Humanitären Völkerrecht aus dem Weg zu gehen. Die erste von Riepl herausgearbeitete "Technik des Ausweichens" besteht darin, das Vorliegen eines bewaffneten Konflikts zu leugnen; der Autor nennt sie "The Paintbrush" ("Der Malerpinsel"). Die zweite Technik ist das Outsourcing der Kriegsführung u. a. an private Sicherheitsunternehmen wie die berüchtigte Wagnergruppe; der Autor gibt ihr den Titel "The Apprentice" ("Der Lehrling" oder "Auszubildende"). Im fünften Kapitel widmet sich Riepl Russlands aktuell wohl wichtigster und einprägsamster Technik, der grundsätzlichen Leugnung von Fakten. Er nennt sie den "The Sledgehammer", also "Der Vorschlaghammer" in Russlands Umgang mit dem Humanitären Völkerrecht.
Der zweite Teil des Buches führt den Leser auch durch ein beeindruckendes Spektrum von Teilbereichen und Fallbeispielen. Diese reichen vom russischen Strafrecht zu den Tschetschenienkriegen und von "eingefrorenen Konflikten im postsowjetischen Raum" zu den aktuellen Kriegen in Syrien und weiter zu Russlands Engagement in der Ukraine ab 2014. Der dritte Teil des Buches strebt dann danach, den ersten historischen und den zweiten zeitgeschichtlichen und gegenwartsbezogenen Teil in einer Gesamtschau zu Russlands Beiträgen zum Humanitären Völkerrecht zu vereinigen. Es bleibt ein - wie der Untertitel des Buches ankündigt - kontrastreicher Vergleich zwischen den Rollen Russlands und der Sowjetunion als Vorreiter und Parvenü in Bezug auf das Humanitäre Völkerrecht und dem Agieren der Russländischen Föderation der Gegenwart, die das Humanitäre Völkerrecht, so der Schluss des Autors, "auf dem Altar der Souveränität opfert".
Trotz des kontrastierenden Vergleichs im dritten Teil bleibt der Eindruck, zwei Bücher in einem gelesen zu haben. Der erste Teil ist klar rechtshistorisch orientiert. Er strebt u. a. danach, die Vorreiterrolle des russischen Zarenreichs bei der Kodifizierung eines Humanitären Völkerrechts im ausgehenden 19. Jahrhundert mit prosopographischen, personen-bezogenen Zugängen, also dem Wirken herausragender Juristen wie etwa Fyodor Martens, zu verbinden. Dieses Zusammenwirken zwischen dem Staat als Völkerrechtsubjekt und herausragenden Akteuren der juristischen Profession wird vom Autor jedoch nicht konzeptionell eingeführt und in den folgenden Kapiteln auch nicht weiterverfolgt. Im zweiten Teil richtet sich die analytische Perspektive dann allein auf die Sowjetunion und die Russländische Föderation als Staaten. Sich auf den Staat als Völkerrechtssubjekt zu konzentrieren ist eine legitime Perspektive. Sie lässt jedoch den Leser mit der unbeantworteten Frage zurück, welche Kräfte denn nun zwischen Staat und Akteuren im Wandel der russischen Beiträge und Haltungen zum Humanitären Völkerrecht zusammenwirkten, zumal der Autor stark zwischen den Perspektiven changiert, wenn er immer wieder die Sowjetunion und Russland synonym verwendet. Auch die komplexen Dynamiken von Konflikt und Kooperation im Zuge des Zusammenbruchs der Sowjetunion und der daraus resultierenden Territorialkonflikte werden vom Autor zum Teil ohne Bezug zur umfangreichen Literatur stark vereinfachend dargestellt.
Trotz konzeptioneller Inkohärenzen zwischen den Kapiteln macht der prägnante Erzählstil des Autors, den er mit der juristischen Analyse verbindet, diese umfassende Monographie auch für Leser ohne umfassende rechtswissenschaftliche Vorkenntnisse zu einer interessanten und sehr anregenden Lektüre. An manchen Stellen schießt dieser zum Teil lockere und mit Metaphern angereicherte erzählende Stil vielleicht ein wenig über das Ziel hinaus, zum Beispiel wenn der Autor wortreich auf Stereotype wie die russische Seele oder wogende Sonnenblumen- und Weizenfelder in der Ukraine rekurriert. Dennoch verbindet alle drei Teile des Buches ein großer Detail- und Kenntnisreichtum über Russland und das Humanitäre Völkerrecht. So gelingt es dem Autor, für seine Leser mit einem verbreiteten Stereotyp zu brechen, nämlich dem vom ewigen Rechtsbrecher Russland. Stattdessen zeichnet er ein weitaus komplexeres Bild der historischen Entwicklung von 1850 bis in die Gegenwart. Auf diese Weise leistet er einen wertvollen Beitrag zu wichtigen Debatten in Wissenschaft, Praxis und Gesellschaft angesichts des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Man wünscht sich, dass der Autor auch in Zukunft mit aktuellen und originellen Forschungs- und Diskussionsbeiträgen seine Leserschaft zum Nachdenken und Debattieren anregt. CINDY WITTKE
Michael Riepl: Russian Contributions to International Humanitarian Law. A contrastive analysis of Russia's historical role and its current practice.
Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2022. 447 S., 119,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Russland und sein Verhältnis zum Humanitären Völkerrecht
"Paria" ist seit dem 24. Februar 2022 ein immer häufiger verwendeter Begriff, um Russlands Rolle in der internationalen Staatengemeinschaft und seine Haltung zum Völkerrecht zu beschreiben. Zum "Paria" wird Russland nicht allein durch seine offensichtlichen Verstöße gegen das Humanitäre Völkerrecht auf dem gesamten Territorium der Ukraine. Es geht vor allem auch um Russlands augenscheinliche Strategie des Leugnens, dass es sich überhaupt in einem internationalen bewaffneten Konflikt mit der Ukraine befindet. Den Fakt des Krieges gegen die Ukraine zu bestreiten führt wiederum dazu, die Anwendbarkeit von Humanitärem Völkerrecht in Abrede und in letzter Konsequenz auch dessen Gültigkeit in infrage zu stellen.
Leicht könnte man sich an dieser Stelle eines Erklärungsmusters bedienen, das Russland in der Rolle des ewigen Rechtsbeugers und -brechers sieht. Dem ist nicht so, wie Michael Riepl eindrücklich in seiner mehr als 400 Seiten starken Monographie demonstriert, die Anfang 2022, also am Vorabend des russischen Angriffs auf die Ukraine, erschienen und auch Open Access zugänglich ist.
Im ersten Teil des Buches führt Riepl seine Leser von der Vorreiterrolle des russischen Zarenreichs für die Kodifizierung des Humanitären Völkerrechts zwischen 1850 und 1917 zu den großen Brüchen zweier Weltkriege, danach weiter zur sowjetischen Theorie und Praxis des Humanitären Völkerrechts und schließlich bis hin zum vertraglich besiegelten Ende der Sowjetunion im Jahr 1991. Der zweite Teil des Buches widmet sich in fünf Kapiteln dem Verhältnis der Russländischen Föderation zum Humanitären Völkerrecht seit 1991. Herausstechend in diesem Teil sind das dritte, vierte und fünfte Kapitel, in denen Riepl drei Techniken Russlands umreißt, dem Humanitären Völkerrecht aus dem Weg zu gehen. Die erste von Riepl herausgearbeitete "Technik des Ausweichens" besteht darin, das Vorliegen eines bewaffneten Konflikts zu leugnen; der Autor nennt sie "The Paintbrush" ("Der Malerpinsel"). Die zweite Technik ist das Outsourcing der Kriegsführung u. a. an private Sicherheitsunternehmen wie die berüchtigte Wagnergruppe; der Autor gibt ihr den Titel "The Apprentice" ("Der Lehrling" oder "Auszubildende"). Im fünften Kapitel widmet sich Riepl Russlands aktuell wohl wichtigster und einprägsamster Technik, der grundsätzlichen Leugnung von Fakten. Er nennt sie den "The Sledgehammer", also "Der Vorschlaghammer" in Russlands Umgang mit dem Humanitären Völkerrecht.
Der zweite Teil des Buches führt den Leser auch durch ein beeindruckendes Spektrum von Teilbereichen und Fallbeispielen. Diese reichen vom russischen Strafrecht zu den Tschetschenienkriegen und von "eingefrorenen Konflikten im postsowjetischen Raum" zu den aktuellen Kriegen in Syrien und weiter zu Russlands Engagement in der Ukraine ab 2014. Der dritte Teil des Buches strebt dann danach, den ersten historischen und den zweiten zeitgeschichtlichen und gegenwartsbezogenen Teil in einer Gesamtschau zu Russlands Beiträgen zum Humanitären Völkerrecht zu vereinigen. Es bleibt ein - wie der Untertitel des Buches ankündigt - kontrastreicher Vergleich zwischen den Rollen Russlands und der Sowjetunion als Vorreiter und Parvenü in Bezug auf das Humanitäre Völkerrecht und dem Agieren der Russländischen Föderation der Gegenwart, die das Humanitäre Völkerrecht, so der Schluss des Autors, "auf dem Altar der Souveränität opfert".
Trotz des kontrastierenden Vergleichs im dritten Teil bleibt der Eindruck, zwei Bücher in einem gelesen zu haben. Der erste Teil ist klar rechtshistorisch orientiert. Er strebt u. a. danach, die Vorreiterrolle des russischen Zarenreichs bei der Kodifizierung eines Humanitären Völkerrechts im ausgehenden 19. Jahrhundert mit prosopographischen, personen-bezogenen Zugängen, also dem Wirken herausragender Juristen wie etwa Fyodor Martens, zu verbinden. Dieses Zusammenwirken zwischen dem Staat als Völkerrechtsubjekt und herausragenden Akteuren der juristischen Profession wird vom Autor jedoch nicht konzeptionell eingeführt und in den folgenden Kapiteln auch nicht weiterverfolgt. Im zweiten Teil richtet sich die analytische Perspektive dann allein auf die Sowjetunion und die Russländische Föderation als Staaten. Sich auf den Staat als Völkerrechtssubjekt zu konzentrieren ist eine legitime Perspektive. Sie lässt jedoch den Leser mit der unbeantworteten Frage zurück, welche Kräfte denn nun zwischen Staat und Akteuren im Wandel der russischen Beiträge und Haltungen zum Humanitären Völkerrecht zusammenwirkten, zumal der Autor stark zwischen den Perspektiven changiert, wenn er immer wieder die Sowjetunion und Russland synonym verwendet. Auch die komplexen Dynamiken von Konflikt und Kooperation im Zuge des Zusammenbruchs der Sowjetunion und der daraus resultierenden Territorialkonflikte werden vom Autor zum Teil ohne Bezug zur umfangreichen Literatur stark vereinfachend dargestellt.
Trotz konzeptioneller Inkohärenzen zwischen den Kapiteln macht der prägnante Erzählstil des Autors, den er mit der juristischen Analyse verbindet, diese umfassende Monographie auch für Leser ohne umfassende rechtswissenschaftliche Vorkenntnisse zu einer interessanten und sehr anregenden Lektüre. An manchen Stellen schießt dieser zum Teil lockere und mit Metaphern angereicherte erzählende Stil vielleicht ein wenig über das Ziel hinaus, zum Beispiel wenn der Autor wortreich auf Stereotype wie die russische Seele oder wogende Sonnenblumen- und Weizenfelder in der Ukraine rekurriert. Dennoch verbindet alle drei Teile des Buches ein großer Detail- und Kenntnisreichtum über Russland und das Humanitäre Völkerrecht. So gelingt es dem Autor, für seine Leser mit einem verbreiteten Stereotyp zu brechen, nämlich dem vom ewigen Rechtsbrecher Russland. Stattdessen zeichnet er ein weitaus komplexeres Bild der historischen Entwicklung von 1850 bis in die Gegenwart. Auf diese Weise leistet er einen wertvollen Beitrag zu wichtigen Debatten in Wissenschaft, Praxis und Gesellschaft angesichts des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Man wünscht sich, dass der Autor auch in Zukunft mit aktuellen und originellen Forschungs- und Diskussionsbeiträgen seine Leserschaft zum Nachdenken und Debattieren anregt. CINDY WITTKE
Michael Riepl: Russian Contributions to International Humanitarian Law. A contrastive analysis of Russia's historical role and its current practice.
Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2022. 447 S., 119,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main