Viktor Jerofejew schreibt in diesen pointierten Essays von den vielen Gesichtern Russlands, den russischen Hedonisten und Patrioten und ihrem fortwährenden Kampf um Demokratie und Freiheit. Er jubiliert, prophezeit und kritisiert - nur eines tut er nicht: stillschweigen.
"Sie wissen, dass in unserem Land ein Staatsstreich stattgefunden hat? Was heißt hier: wann? Das genaue Datum zu nennen, ist unmöglich, denn es gab ja keins. Es war einfach so, dass irgendwie Wind aufkam, der Himmel sich zuzog und Regen einsetzte. Da haben Sie den ganzen Staatsstreich." So zugespitzt kommentiert Jerofejew den staatlich gelenkten Wetterumschwung in Russland, verursacht von den Unsichtbaren, die die Nation auf ein unbekanntes Ziel hinsteuern. Und wer seine Heimat dennoch liebt, muss sich die Gegenfrage gefallen lassen: Liebt sie dich auch? Während Jerofejew noch über die russischen Befindlichkeiten spottet, bleibt dem Leser das Lachen im Hals stecken, weil hinter der Provokation die Sorge um das Land spürbar wird. Ein Land, in dem nach Jerofejews Überzeugung die Apokalypse eingetreten ist. Mit seiner Sicht auf die Lebensweisen von Neureichen und Politikern wie auf ideale Gatten, Schriftsteller, Freunde oder Hausfrauen erweist er sich als Kenner der russischen Seele. Die aber schwebt unentschlossen zwischen den Erfahrungen der Vergangenheit und den Herausforderungen der Gegenwart. Viktor Jerofejew stellt erneut seine stilistische Brillanz unter Beweis, und seine Texte erzeugen gerade deshalb eine so große Wucht, weil sie trotz aller Wut und Empörung auch voller Liebe für die Literatur und Sprache seines Landes sind.
"Sie wissen, dass in unserem Land ein Staatsstreich stattgefunden hat? Was heißt hier: wann? Das genaue Datum zu nennen, ist unmöglich, denn es gab ja keins. Es war einfach so, dass irgendwie Wind aufkam, der Himmel sich zuzog und Regen einsetzte. Da haben Sie den ganzen Staatsstreich." So zugespitzt kommentiert Jerofejew den staatlich gelenkten Wetterumschwung in Russland, verursacht von den Unsichtbaren, die die Nation auf ein unbekanntes Ziel hinsteuern. Und wer seine Heimat dennoch liebt, muss sich die Gegenfrage gefallen lassen: Liebt sie dich auch? Während Jerofejew noch über die russischen Befindlichkeiten spottet, bleibt dem Leser das Lachen im Hals stecken, weil hinter der Provokation die Sorge um das Land spürbar wird. Ein Land, in dem nach Jerofejews Überzeugung die Apokalypse eingetreten ist. Mit seiner Sicht auf die Lebensweisen von Neureichen und Politikern wie auf ideale Gatten, Schriftsteller, Freunde oder Hausfrauen erweist er sich als Kenner der russischen Seele. Die aber schwebt unentschlossen zwischen den Erfahrungen der Vergangenheit und den Herausforderungen der Gegenwart. Viktor Jerofejew stellt erneut seine stilistische Brillanz unter Beweis, und seine Texte erzeugen gerade deshalb eine so große Wucht, weil sie trotz aller Wut und Empörung auch voller Liebe für die Literatur und Sprache seines Landes sind.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.07.2009Metaphysik ist Rache an der Welt
Viktor Jerofejew zeigt die "Russische Apokalypse"
Von Kerstin Holm
Russlands Mission scheint darin zu liegen, historische Erdrutsche mit uneuropäischer Härte zu durchleben, um dann im Idiom der europäischen Literatur über sie nachzudenken. Vielleicht haben deshalb klassische Literaten von Dostojewski bis Tschechow in eigentlich fortschrittlichen Geschichtsphasen das gesellschaftliche Leben wie einen Majaschleier über dem Abgrund geschildert. Aber auch der postsowjetische Weg in den Globalkapitalismus, wo Russland als Rohstoffimperium mit vergleichsweise soliden Staatsfinanzen dasteht, führte ins soziokulturelle Nichts, lautet der Befund des Schriftstellers Viktor Jerofejew, den er in seinem jetzt auf Deutsch vorliegenden Buch über die reale "Russische Apokalypse" ausbreitet. Fünfundfünfzig Essays über Künstlerkollegen, über Frauen und Männer und russische Unglücksbewältigungstechniken runden sich, obwohl über fünfzehn Jahre hinweg entstanden, zu einem Mosaikbild, das schon formal vergegenwärtigt, dass die Splitter nicht zu kitten sind.
Die Unmöglichkeit jeglichen Konsenses inszeniert Jerofejew in einem zweieinhalb Seiten langen Impromptu über das Geld, den wirtschaftlichen Sauerstofftransporteur. Jeder braucht und begehrt es, doch keinem wird es gegönnt. Arme Leute verachtet man als Versager, Reiche, weil sie Diebe sind. Wer sein Geld in Russland lässt, gilt als Idiot, wer es ins Ausland bringt, als Vaterlandsverräter. Den inhaftierten Exoligarchen Chodorkowski, dem derzeit ein absurder zweiter Prozess gemacht wird, porträtiert Jerofejew als den neuen "überflüssigen" Menschen - der freilich heute nicht, wie im vorrevolutionären Russland, ohne Aufgabe dasteht, sondern vielmehr mit seinen Ansprüchen an sich und andere als Zumutung empfunden wird. Der Schriftsteller überlässt die Schilderung der juristischen Maschine der Presse und lauscht dafür auf den beklemmend zustimmenden Nachklang in der Volksseele, wofür er als Talkmaster und passionierter Reiseautor prädestiniert ist. Die Figur Chodorkowskis, der selbst als Häftling gepflegt und höflich auftritt, ist eine Ohrfeige für die passive Mehrheit, die der Obrigkeit grollt, sie aber gern für alles verantwortlich macht, weiß Jerofejew. Der Mann trinkt nicht, er hat drei Hochschulabschlüsse, will die Wirtschaft modernisieren und seine Landsleute zu selbständigen Bürgern erziehen - darin liegt ein Vorwurf, der das schweigende Volk viel härter trifft als jedes Faible für Luxusjachten oder Fabergé-Eier.
Zum Status als Rohstoffimperium passt es, dass als Hauptfreiraum das Privatleben bleibt - Mode, Liebe, Familie. Da fühlt sich Jerofejew, der oft in Frankreich weilt und offenbar kein Kind von Traurigkeit ist, in seinem Element. Seinen Landsmänninnen, die, wie er zugesteht, die Länder erobert hätten wie einst die sowjetischen Soldaten, gibt er indes keine guten Noten. Sie scheinen jenem Frauentyp anzugehören, von denen Tschechow sagte, er verlange mehr vom Leben, als es geben könne. Im Gegensatz etwa zur Französin bombardiert die Russin Jerofejew zufolge das andere Geschlecht mit ihren Reizen. Dahinter stecke kaum persönliche Substanz, sondern Sponsorensuche, Torschlusspanik und Frustration.
Die russische Erotik sei extrem egozentrisch, erklärt der Schriftsteller, was umso überzeugender klingt, als er von dem Syndrom selbst nicht frei scheint. Ob es ums Kochen geht oder um sexuelle Künste: Der wahre Genuss stelle sich erst ein, wenn die Frau es mit Liebe tut, findet der Globetrotter - und fühlt sich da in bester Gesellschaft. Ein eindrucksvolles Stück, "Der dunkle Tschechow", erinnert daran, dass der Kultautor der Nichtigkeit des Lebens vom sexuellen Eroberungsdrang getrieben war, sadistische Spielchen schätzte, echte Liebe aber nie erfahren hat. Ob Tschechows Texte uns auch deswegen so nah sind?
Russland unterscheidet sich vom Westen durch einen Mangel an Glück. Das ist für Jerofejew auch der Schlüssel zum russischen Humor. Mit Kostproben der aktuellen Anekdotenproduktion zeigt er, dass diese Kultur, die sich gern über Tragödien amüsiert, im Grunde das Leben als bösen Witz ansieht. Praktisch erziehen die widrigen Bedingungen zugleich Konservative. Jerofejew, ein Spross der roten Aristokratie, flirtet mit dem Hedonismus, besingt jedoch, wie Tolstoi, die Geburt des neuen Familienmitglieds. Eine hedonistische Tour de force, wie sie Michel Houllebecq vormacht, der Sänger der Masturbation und der verkorksten Liebe, der mit realen Frauen nichts mehr anfangen kann, käme für den Russen nicht in Frage. Eine existentialistische Nummer wie dieser "französische Loser", so Jerofejew über den Kollegen aus seiner zweiten Heimat, fährt man nur bei luxuriösen äußeren Umständen.
Viktor Jerofejew: "Russische Apokalypse". Aus dem Russischen von Beate Rausch. Berlin Verlag, Berlin 2009. 254 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Viktor Jerofejew zeigt die "Russische Apokalypse"
Von Kerstin Holm
Russlands Mission scheint darin zu liegen, historische Erdrutsche mit uneuropäischer Härte zu durchleben, um dann im Idiom der europäischen Literatur über sie nachzudenken. Vielleicht haben deshalb klassische Literaten von Dostojewski bis Tschechow in eigentlich fortschrittlichen Geschichtsphasen das gesellschaftliche Leben wie einen Majaschleier über dem Abgrund geschildert. Aber auch der postsowjetische Weg in den Globalkapitalismus, wo Russland als Rohstoffimperium mit vergleichsweise soliden Staatsfinanzen dasteht, führte ins soziokulturelle Nichts, lautet der Befund des Schriftstellers Viktor Jerofejew, den er in seinem jetzt auf Deutsch vorliegenden Buch über die reale "Russische Apokalypse" ausbreitet. Fünfundfünfzig Essays über Künstlerkollegen, über Frauen und Männer und russische Unglücksbewältigungstechniken runden sich, obwohl über fünfzehn Jahre hinweg entstanden, zu einem Mosaikbild, das schon formal vergegenwärtigt, dass die Splitter nicht zu kitten sind.
Die Unmöglichkeit jeglichen Konsenses inszeniert Jerofejew in einem zweieinhalb Seiten langen Impromptu über das Geld, den wirtschaftlichen Sauerstofftransporteur. Jeder braucht und begehrt es, doch keinem wird es gegönnt. Arme Leute verachtet man als Versager, Reiche, weil sie Diebe sind. Wer sein Geld in Russland lässt, gilt als Idiot, wer es ins Ausland bringt, als Vaterlandsverräter. Den inhaftierten Exoligarchen Chodorkowski, dem derzeit ein absurder zweiter Prozess gemacht wird, porträtiert Jerofejew als den neuen "überflüssigen" Menschen - der freilich heute nicht, wie im vorrevolutionären Russland, ohne Aufgabe dasteht, sondern vielmehr mit seinen Ansprüchen an sich und andere als Zumutung empfunden wird. Der Schriftsteller überlässt die Schilderung der juristischen Maschine der Presse und lauscht dafür auf den beklemmend zustimmenden Nachklang in der Volksseele, wofür er als Talkmaster und passionierter Reiseautor prädestiniert ist. Die Figur Chodorkowskis, der selbst als Häftling gepflegt und höflich auftritt, ist eine Ohrfeige für die passive Mehrheit, die der Obrigkeit grollt, sie aber gern für alles verantwortlich macht, weiß Jerofejew. Der Mann trinkt nicht, er hat drei Hochschulabschlüsse, will die Wirtschaft modernisieren und seine Landsleute zu selbständigen Bürgern erziehen - darin liegt ein Vorwurf, der das schweigende Volk viel härter trifft als jedes Faible für Luxusjachten oder Fabergé-Eier.
Zum Status als Rohstoffimperium passt es, dass als Hauptfreiraum das Privatleben bleibt - Mode, Liebe, Familie. Da fühlt sich Jerofejew, der oft in Frankreich weilt und offenbar kein Kind von Traurigkeit ist, in seinem Element. Seinen Landsmänninnen, die, wie er zugesteht, die Länder erobert hätten wie einst die sowjetischen Soldaten, gibt er indes keine guten Noten. Sie scheinen jenem Frauentyp anzugehören, von denen Tschechow sagte, er verlange mehr vom Leben, als es geben könne. Im Gegensatz etwa zur Französin bombardiert die Russin Jerofejew zufolge das andere Geschlecht mit ihren Reizen. Dahinter stecke kaum persönliche Substanz, sondern Sponsorensuche, Torschlusspanik und Frustration.
Die russische Erotik sei extrem egozentrisch, erklärt der Schriftsteller, was umso überzeugender klingt, als er von dem Syndrom selbst nicht frei scheint. Ob es ums Kochen geht oder um sexuelle Künste: Der wahre Genuss stelle sich erst ein, wenn die Frau es mit Liebe tut, findet der Globetrotter - und fühlt sich da in bester Gesellschaft. Ein eindrucksvolles Stück, "Der dunkle Tschechow", erinnert daran, dass der Kultautor der Nichtigkeit des Lebens vom sexuellen Eroberungsdrang getrieben war, sadistische Spielchen schätzte, echte Liebe aber nie erfahren hat. Ob Tschechows Texte uns auch deswegen so nah sind?
Russland unterscheidet sich vom Westen durch einen Mangel an Glück. Das ist für Jerofejew auch der Schlüssel zum russischen Humor. Mit Kostproben der aktuellen Anekdotenproduktion zeigt er, dass diese Kultur, die sich gern über Tragödien amüsiert, im Grunde das Leben als bösen Witz ansieht. Praktisch erziehen die widrigen Bedingungen zugleich Konservative. Jerofejew, ein Spross der roten Aristokratie, flirtet mit dem Hedonismus, besingt jedoch, wie Tolstoi, die Geburt des neuen Familienmitglieds. Eine hedonistische Tour de force, wie sie Michel Houllebecq vormacht, der Sänger der Masturbation und der verkorksten Liebe, der mit realen Frauen nichts mehr anfangen kann, käme für den Russen nicht in Frage. Eine existentialistische Nummer wie dieser "französische Loser", so Jerofejew über den Kollegen aus seiner zweiten Heimat, fährt man nur bei luxuriösen äußeren Umständen.
Viktor Jerofejew: "Russische Apokalypse". Aus dem Russischen von Beate Rausch. Berlin Verlag, Berlin 2009. 254 S., geb., 22,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Nicht ganz unironisch, aber mit merklicher Sympathie setzt sich Rezensent Ulrich M. Schmid für diesen Band mit neuen Essays des russischen Autors ein. Manches ist Jerofejew ein bisschen oberflächlich geraten, berichtet Schmid, der ein paar Fehler aufzählt, manches ist auch widersprüchlich. Dennoch bietet sich Schmid aus den Essays ein anschauliches Bild der aktuellen russischen Szenerie. Schmid entfaltet es etwa an Jerofejews Essay über das Fluchen, das seinen Reiz verloren habe, einfach weil der "Substandard" der Sprache heute zum Alltag geworden sei. Mit Interesse hat Schmid auch Jerofejews Ausführungen zur russischen Literaturszene gelesen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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