"Jeder neue Verlust wiegt schwerer als der letzte, geht eine Schicht tiefer."
Und um Verlust geht es in diesem Buch. Ob es nun eine Frau ist, die, weil ihre erste Liebe wiederkehrt, die Illusion einer glücklichen Ehe aufgeben muß, oder eine andere, die meint, dem Handeln aus dem Weg gehen zu können, indem sie sich einen Schutzschild aus Angst vor den Körper hält, oder ob es Hannah und Jonás sind, ein Zwillingspaar aus dem Hinterland Dalmatiens, deren Vater auf einer Bohrinsel verunglückt, noch bevor die beiden ihn wirklich kennengelernt haben.
All diese Figuren eint die Suche nach dem wirklichen Leben. Doch erst, als sie vom Suchen ablassen, begegnen sie einander wirklich, "nicht aus Notwehr, nicht als Mittel wider die Verlassenheit, sondern trotz der Verlassenheit".
In drei Erzählungen schreibt Jagoda MariniÊ von Momenten, vor denen man sprachlos bleibt, von Menschen, die leben und sich begegnen möchten, und auch von dem, was sie daran hindert. Der Blick dieser Autorin liegt auf dem Unsichtbaren, auf dem, was uns in rätselhafter Weise prägt.
Und um Verlust geht es in diesem Buch. Ob es nun eine Frau ist, die, weil ihre erste Liebe wiederkehrt, die Illusion einer glücklichen Ehe aufgeben muß, oder eine andere, die meint, dem Handeln aus dem Weg gehen zu können, indem sie sich einen Schutzschild aus Angst vor den Körper hält, oder ob es Hannah und Jonás sind, ein Zwillingspaar aus dem Hinterland Dalmatiens, deren Vater auf einer Bohrinsel verunglückt, noch bevor die beiden ihn wirklich kennengelernt haben.
All diese Figuren eint die Suche nach dem wirklichen Leben. Doch erst, als sie vom Suchen ablassen, begegnen sie einander wirklich, "nicht aus Notwehr, nicht als Mittel wider die Verlassenheit, sondern trotz der Verlassenheit".
In drei Erzählungen schreibt Jagoda MariniÊ von Momenten, vor denen man sprachlos bleibt, von Menschen, die leben und sich begegnen möchten, und auch von dem, was sie daran hindert. Der Blick dieser Autorin liegt auf dem Unsichtbaren, auf dem, was uns in rätselhafter Weise prägt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.10.2005Die Rettung im Bücherschrank
Scheuklappen der Tradition: Drei Erzählungen von Jagoda Marinic
Was suchen wir eigentlich in belletristischen Büchern, oder, anders ausgedrückt, warum gefällt uns die eine Geschichte mehr, die andere weniger? Das hat weitgehend mit uns selbst zu tun, denn zwangsläufig bringen wir uns ein, wenn wir ein Buch lesen. Nicht nur der Autor klappt sein Visier hoch, wenn er uns etwas erzählt, auch wir tun es, indem wir uns seiner Erzählung öffnen. Nur haben wir den Vorteil, im Verborgenen zu bleiben, uns nicht, wie der Erzähler, einem unbekannten Publikum preisgeben zu müssen.
Still in unserer Leseecke dürfen wir nach dem forschen, was uns am meisten interessiert: nach uns selbst. Der Autor von Format nämlich berichtet, obwohl er seine Leser nicht kennt, immer auch von uns, denn seine Figuren stehen, im Guten wie im Bösen, für die Menschen schlechthin, ihr Streben, ihr Scheitern, ihre Größe, ihren Jammer.
Ist Bücherlesen demnach eine ichbezogene Beschäftigung? Falls wir dabei nicht nur ein Schulpensum erledigen, trifft das zu. Was aber, wenn die dargebotene Geschichte die Neugier auf uns selbst nicht befriedigt? Dann hat das Buch uns verfehlt, und wir lesen es weniger gerne. In dieser Situation befinden wir uns angesichts eines Bandes mit drei Erzählungen, verfaßt von einer jungen Autorin namens Jagoda Marinic, Jahrgang 1977. Der Name hat Balkanklang, und in ihrer dritten Geschichte führt uns die Schriftstellerin auch ins ländliche Dalmatien, so intensiv, als sei sie dort zu Hause. Geboren und aufgewachsen aber ist sie im baden-württembergischen Waiblingen, und ganz ohne Frage ist sie in der deutschen Sprache daheim.
Aber um das Medium Sprache allein kann es nicht gehen, schauen wir nach dem, was es befördert. Kurz gesagt, sind es drei Verlustgeschichten: In der ersten, "Der Andere" betitelt, erlebt eine Frau die Rückkehr des Mannes, den sie für ihre große Liebe hält, und gesteht sich ein, daß ihre Ehe ein Mißgriff war, der Geliebte allerdings enttäuscht nicht minder. In der zweiten Geschichte, "Lara", entdeckt die Heldin, daß sie aus Angst vor jeglichem Handeln und Entscheiden mit keinem Mann eine Beziehung knüpfen kann; sie wendet sich der Freundin Lara zu, gesteht sich die Liebe zu ihr aber erst, als Lara im Sterben liegt. Die dritte Geschichte, "Russische Bücher", zeigt Zwillingsgeschwister, ein Mädchen, einen Jungen, in einem kroatischen Nest; Mutter, Großmutter und die übrige Dorf-Personnage haben außer tradierten Scheuklappen nichts zu bieten; der weitgereiste Vater hätte vielleicht ein Lotse in die weite Welt sein können, aber er ist schon lange tot; einzig aus der klassischen russischen Literatur im heimischen Bücherschrank schöpfen die Kinder Hoffnung auf Überwindung der Enge.
Das alles ist durchaus vorstellbar. Doch kann es nicht befriedigen, daß die Autorin weitgehend nur das Innenleben ihrer Helden darbietet, ohne uns Brücken zu bauen, über die wir ins fremde Leben gelangen können. Wir würden gerne erfahren, warum diese Leute sich jeweils falsch entscheiden, unter Angst leiden, sich eingesperrt fühlen. Allein in der dritten Geschichte gibt es, freilich nur in Andeutungen, eine gesellschaftliche Umgebung, die auf sie einwirkt. Es geht nicht darum, daß jeder literarische Held uns die Tür zu einem Sozial- und Politikstudium öffnen soll. Aber wir alle sind nun einmal auch das Resultat sozialer und politischer Einflüsse, und nur, wenn die im Hintergrund erkennbar sind, verstehen wir den handelnden Helden, können uns in sein Tun und Lassen einfühlen. Derartig losgelöst vom Rest der Welt, wie die Figuren der Jagoda Marinic daherkommen, scheint jede von ihnen bloß an ganz privaten Störungen zu leiden, mit denen unser eigenes Leben und Erleben nichts zu schaffen hat.
SABINE BRANDT
Jagoda Marinic: "Russische Bücher". Erzählungen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005. 131 S., geb., 16,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Scheuklappen der Tradition: Drei Erzählungen von Jagoda Marinic
Was suchen wir eigentlich in belletristischen Büchern, oder, anders ausgedrückt, warum gefällt uns die eine Geschichte mehr, die andere weniger? Das hat weitgehend mit uns selbst zu tun, denn zwangsläufig bringen wir uns ein, wenn wir ein Buch lesen. Nicht nur der Autor klappt sein Visier hoch, wenn er uns etwas erzählt, auch wir tun es, indem wir uns seiner Erzählung öffnen. Nur haben wir den Vorteil, im Verborgenen zu bleiben, uns nicht, wie der Erzähler, einem unbekannten Publikum preisgeben zu müssen.
Still in unserer Leseecke dürfen wir nach dem forschen, was uns am meisten interessiert: nach uns selbst. Der Autor von Format nämlich berichtet, obwohl er seine Leser nicht kennt, immer auch von uns, denn seine Figuren stehen, im Guten wie im Bösen, für die Menschen schlechthin, ihr Streben, ihr Scheitern, ihre Größe, ihren Jammer.
Ist Bücherlesen demnach eine ichbezogene Beschäftigung? Falls wir dabei nicht nur ein Schulpensum erledigen, trifft das zu. Was aber, wenn die dargebotene Geschichte die Neugier auf uns selbst nicht befriedigt? Dann hat das Buch uns verfehlt, und wir lesen es weniger gerne. In dieser Situation befinden wir uns angesichts eines Bandes mit drei Erzählungen, verfaßt von einer jungen Autorin namens Jagoda Marinic, Jahrgang 1977. Der Name hat Balkanklang, und in ihrer dritten Geschichte führt uns die Schriftstellerin auch ins ländliche Dalmatien, so intensiv, als sei sie dort zu Hause. Geboren und aufgewachsen aber ist sie im baden-württembergischen Waiblingen, und ganz ohne Frage ist sie in der deutschen Sprache daheim.
Aber um das Medium Sprache allein kann es nicht gehen, schauen wir nach dem, was es befördert. Kurz gesagt, sind es drei Verlustgeschichten: In der ersten, "Der Andere" betitelt, erlebt eine Frau die Rückkehr des Mannes, den sie für ihre große Liebe hält, und gesteht sich ein, daß ihre Ehe ein Mißgriff war, der Geliebte allerdings enttäuscht nicht minder. In der zweiten Geschichte, "Lara", entdeckt die Heldin, daß sie aus Angst vor jeglichem Handeln und Entscheiden mit keinem Mann eine Beziehung knüpfen kann; sie wendet sich der Freundin Lara zu, gesteht sich die Liebe zu ihr aber erst, als Lara im Sterben liegt. Die dritte Geschichte, "Russische Bücher", zeigt Zwillingsgeschwister, ein Mädchen, einen Jungen, in einem kroatischen Nest; Mutter, Großmutter und die übrige Dorf-Personnage haben außer tradierten Scheuklappen nichts zu bieten; der weitgereiste Vater hätte vielleicht ein Lotse in die weite Welt sein können, aber er ist schon lange tot; einzig aus der klassischen russischen Literatur im heimischen Bücherschrank schöpfen die Kinder Hoffnung auf Überwindung der Enge.
Das alles ist durchaus vorstellbar. Doch kann es nicht befriedigen, daß die Autorin weitgehend nur das Innenleben ihrer Helden darbietet, ohne uns Brücken zu bauen, über die wir ins fremde Leben gelangen können. Wir würden gerne erfahren, warum diese Leute sich jeweils falsch entscheiden, unter Angst leiden, sich eingesperrt fühlen. Allein in der dritten Geschichte gibt es, freilich nur in Andeutungen, eine gesellschaftliche Umgebung, die auf sie einwirkt. Es geht nicht darum, daß jeder literarische Held uns die Tür zu einem Sozial- und Politikstudium öffnen soll. Aber wir alle sind nun einmal auch das Resultat sozialer und politischer Einflüsse, und nur, wenn die im Hintergrund erkennbar sind, verstehen wir den handelnden Helden, können uns in sein Tun und Lassen einfühlen. Derartig losgelöst vom Rest der Welt, wie die Figuren der Jagoda Marinic daherkommen, scheint jede von ihnen bloß an ganz privaten Störungen zu leiden, mit denen unser eigenes Leben und Erleben nichts zu schaffen hat.
SABINE BRANDT
Jagoda Marinic: "Russische Bücher". Erzählungen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005. 131 S., geb., 16,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Sabine Brandt wird nicht warm mit Jagoda Marinic' Erzählungen aus dem ländlichen Dalmatien. An der Sprache liege es nicht, Marinic ist trotz ihres Namens "mit Balkanklang" im baden-württembergischen Waiblingen geboren und zweifelsohne im Deutschen "daheim". Brandts Kritik macht sich an der Isolation der Figuren fest. Man erfahre "weitgehend" nur deren Innenleben, der gesellschaftliche Hintergrund, der so wichtig für ein Verständnis und damit eine Identifikation mit den Figuren sei, bleibe aber aus. "Derart losgelöst" kann das Personal der Geschichten der Rezensentin nichts über sich selbst sagen. Das Buch habe den Leser damit "verfehlt", meint Brandt, um im Pluralis majestatis fortzufahren, "und wir lesen es weniger gerne".
© Perlentaucher Medien GmbH
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