Hunderttausende von Bürgern des russischen Reiches waren nach der Oktoberrevolution und dem endgültigen Sieg der Sowjetmacht ins Deutsche Reich gekommen.
Deutschland war in der Zwischenkriegszeit eines der wichtigsten Transit- und Aufnahmeländer für russische Flüchtlinge. Berlin eine der Hauptstädte der russsischen Diaspora mit allem, was dazugehört: Zeitungs- und Verlagswesen, Theater- und Musikszene, Parteien und Fraktionskampf, Zone der Berührung deutscher und russischer Politik und Kultur.
Das "russische" Berlin war zugleich Hauptstützpunkt Moskaus in Mittel- und Westeuropa. Russische Emigranten bewegten sich hier in einer von Straßenkämpfen und Bürgerkriegserfahrungen zerissenen Republik. Berlin wurde zur exterritorialen Begegnungsstätte von weißem und rotem Rußland und zum Ort merkwürdiger deutsch-russischer Allianzen.
Das Leben der russischen Flüchtlinge in Deutschland zwischen 1918 und 1941 ist eines der vielen Kapitel des Europäischen Bürgerkriegs, das in Vergessenheit geraten ist. Die Beiträge dieses Buches sollen es für die Nachwelt noch einmal öffnen.
Deutschland war in der Zwischenkriegszeit eines der wichtigsten Transit- und Aufnahmeländer für russische Flüchtlinge. Berlin eine der Hauptstädte der russsischen Diaspora mit allem, was dazugehört: Zeitungs- und Verlagswesen, Theater- und Musikszene, Parteien und Fraktionskampf, Zone der Berührung deutscher und russischer Politik und Kultur.
Das "russische" Berlin war zugleich Hauptstützpunkt Moskaus in Mittel- und Westeuropa. Russische Emigranten bewegten sich hier in einer von Straßenkämpfen und Bürgerkriegserfahrungen zerissenen Republik. Berlin wurde zur exterritorialen Begegnungsstätte von weißem und rotem Rußland und zum Ort merkwürdiger deutsch-russischer Allianzen.
Das Leben der russischen Flüchtlinge in Deutschland zwischen 1918 und 1941 ist eines der vielen Kapitel des Europäischen Bürgerkriegs, das in Vergessenheit geraten ist. Die Beiträge dieses Buches sollen es für die Nachwelt noch einmal öffnen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.04.1996Insel im Meer der goldenen zwanziger Jahre
Russische Emigranten in der Weimarer Republik / Ein Sammelband mit Makeln
Karl Schlögel (Herausgeber): Russische Emigration in Deutschland 1918 bis 1941. Leben im europäischen Bürgerkrieg. Akademie Verlag, Berlin 1995. 550 Seiten, Abbildungen, 88,- Mark.
Nach der Oktoberrevolution erlebte Rußland den wohl schmerzlichsten kulturellen Aderlaß seiner Geschichte. Bürgerkrieg, Terror und Hungersnöte kosteten das Land in den Jahren 1918 bis 1922 nicht nur mehreren Millionen Menschen das Leben, sondern vertrieben auch einen beträchtlichen Teil der politischen, volkswirtschaftlichen und geistigen Elite. Sie suchte in den umliegenden Staaten Schutz. Die Zahl der Exilierten lag zwischen einer und drei Millionen - genau wird das nie zu ermitteln sein. Es waren darunter zaristische Offiziere und Generäle, Politiker von den Sozialrevolutionären bis zu den Konstitutionellen Demokraten und Monarchisten, Unternehmer, Verleger, Künstler, Schauspieler und Tänzerinnen sowie in besonderer Zahl Journalisten und Literaten.
Infolge der in Westeuropa grassierenden Bolschewiken-Furcht und der besonderen Beziehungen, die zwischen dem Deutschen Reich und dem Rätestaat durch den Frieden von Brest-Litowsk und dem Sondervertrag von Rapallo geknüpft waren, wurde Deutschland zum bevorzugten Ziel der russischen Emigranten. Namentlich Berlin, selbst durch Inflation und soziale Spannungen erschüttert, wurde für viele Russen zur ersten Etappe eines unsicheren Lebens im Ausland.
Das "russische Berlin", die legendenumwobene Insel im Meer der goldenen Zwanziger, bildete ein Konzentrat russischer Kultur, wie es niemals zuvor und danach außerhalb der russischen Grenzen bestanden hat. Im Bezirk Mitte hatten sich russische Firmen, Läden, Buchhandlungen und Verlage eingenistet, in den Hotels und Pensionen des Berliner Westens wimmelte es von Russen. Den Kurfürstendamm nannte der Volksmund in Anspielung auf Lenins NEP-Politik "Neppski-Prospekt". Um 1922, vor der Einführung der Nansen-Pässe, soll sich etwa eine halbe Million Russen in Deutschland aufgehalten haben; nach der nationalsozialistischen Machtübernahme sank die Zahl auf 40000.
Was Rang und Namen in der russischen Literatur hatte, lebte zwischen 1921 und 1923 in Berlin. Im Café Landgraf (Kurfürstenstraße 75) etablierte sich das russische "Haus der Künste". Dort kamen Realisten und Symbolisten, Serapionsbrüder und Konstruktivisten, Imaginisten und Futuristen lautstark und kontrovers zu Wort. Berlin war damals das eigentliche Zentrum der russischen Literatur. Trotz mannigfaltiger Anstrengungen sind wir allerdings von einer Gesamtdarstellung der russischen Emigration in Deutschland noch weit entfernt.
Sie ist so lange nicht zu erwarten, bis der unübersichtliche "Unterbau" der Emigration freigelegt ist. Dies versucht jetzt Karl Schlögel mit dem von ihm herausgegebenen Band "Russische Emigration in Deutschland 1918-1941". Es handelt sich um die zweite große Publikation aus einem Forschungsprojekt der Universität Konstanz. Es soll mit einer "Chronik russischen Lebens in Deutschland 1918-1941" abgeschlossen werden.
Dank dieser Unternehmung tritt die russische Emigration erstmals in der vollen Breite, mit ihren soziologischen Strukturen, ihren Organisationsformen und Einrichtungen, ihren politischen Tendenzen und - eher am Rande - mit ihren kulturellen Manifestationen in den Blick. Als überaus wertvoll und aufschlußreich erweisen sich die Beiträge, die aus bislang unbeachteten Archivquellen schöpfen. Neues Licht in das Schicksal der 1,2 Millionen russischer Kriegsgefangener, die sich nach Kriegsende noch in Deutschland befanden, wirft der Beitrag von Johannes Baur. Anhand der im Bundesarchiv Koblenz und Potsdam erhaltenen Akten zeigt er, wie "Weiße" und "Rote" die Gefangenen, denen nichts mehr am Herzen lag als rasche Heimkehr, für sich zu gewinnen suchten.
Nicht weniger neu und überzeugend die erhellende Darstellung der Menschewiken, der rechten Sozialdemokraten, in der Emigration (André Liebig, Hartmut Rüdiger Peters). Die kleine Gruppe (1927 zählte sie 74 Mitglieder, fast ausschließlich Juden) schloß sich eng an die deutsche Sozialdemokratie an und konnte mit Julij Martov, Fedor (Theodor) Dan und Pavel Akselrod (Paul Axelrod) bedeutende politische Denker aufbieten. Als Marxisten und Internationalisten vom Gros der Emigranten getrennt, wurden sie zu Gewährsleuten der deutschen Sozialdemokratie für russische Angelegenheiten. Schwer war das Schicksal der russischen Anarchisten (Dittmar Dahlmann), einer Gruppe von höchstens 50 Personen, deren Hoffnung, den antibolschewistischen Kampf fortführen zu können, in der Emigration rasch dahinschwand.
Überraschende Einsichten, die über die von Walter Laqueur in seinem Buch "Deutschland und Rußland" (1965) dargestellten Beziehungen hinausgehen, eröffnen die Untersuchungen der Verquickung der russischen Emigration mit dem Nationalsozialismus. Antibolschewismus, Antisemitismus, der Gedanke der Volksgemeinschaft, wie sie von den Nationalsozialisten propagiert wurden, kamen den politischen Vorstellungen der rechten Emigranten entgegen. General Aleksej von Lampe, seit 1920 Vertreter der Wrangel-Armee in Deutschland und alsbald der führende Funktionär des "Russischen Allgemeinen Militärverbandes", sah in Hitlers aggressiver Rußland-Politik immerhin die Möglichkeit, "mit den Bolschewiki auch unsere russischen Rechnungen zu begleichen". Dennoch blieb nach Hitlers Überfall auf die Sowjetunion der Anteil russischer Altemigranten in den Fronteinheiten gering. Das Leben des Gregor Schwartz-Bostunitsch, der es vom russischen Winkelliteraten zum SS-Standartenführer brachte, wird aus russischen (Rafail Ganelin) und deutschen Quellen (Michael Hagemeister) rekonstruiert. Aus dem Verfasser pornographischer und chauvinistischer Machwerke vor der Revolution wurde in der Emigration der Warner vor der jüdisch-freimaurerischen Verschwörung. Mit Hitler persönlich bekannt, von Himmler gefördert, von Heydrich "wegen zunehmender Invalidität" seines Postens als Leiter des Berliner Freimaurermuseums enthoben, führte Schwartz-Bostunitsch bereits seit 1927 den Titel eines nationalsozialistischen "Reichsredners". Auch als Galionsfigur des Rechtsextremismus im heutigen Rußland verdient Schwartz-Bostunitsch Beachtung.
Eine Emigrantenkarriere im Zeichen des Nationalsozialismus durchlief auch der zaristische General Vasilij von Biskupskij (Bettina Dodenhoeft). Wahrscheinlich schon am Kapp-Putsch beteiligt, suchte er im Februar 1933 Kontakte zur NSDAP und wurde 1936 zum Leiter der neugegründeten, von der Gestapo kontrollierten Emigrantenorganisation "Russische Vertrauensstelle in Deutschland" ernannt. Über die schillernden Aktivitäten Biskupskijs - etwa im Zusammenhang mit dem Mord an Senator Nabokov, dem Vater des Dichters, oder der Auslieferung russischer Juden - kann vorläufig nur gemutmaßt werden.
Unbefriedigend aber bleibt die Darstellung der Literatur, also des kulturgeschichtlich bedeutsamsten Kapitels der russischen Emigration in Deutschland. (Ganz ausgespart ist gar die musikalische Emigration - zu Unrecht.) Aus dem letzten gemeinsamen Akkord der russischen Literatur vor ihrer Spaltung werden in dem vorliegenden Band lediglich einige Teilaspekte der Berlin-Aufenthalte Andrej Belyjs (Thomas R. Beyer), Ilja Êrenburgs (Ewa Bérard), Maksim Gorkijs (Rossana Platone) und Vladimir Nabokovs (Annelore Engel-Braunschmidt) behandelt. Damit wird das Thema dem Spiel des Zufalls überlassen. Neues und Wichtiges bringt hier nur der Beitrag über den Literaturkritiker Julij Ajchenwald und seine Berliner Aktivitäten (Abram Rejtbald). Obwohl sich der Herausgeber redlich bemüht, den in viele Richtungen ausufernden Stoff mittels steuernder Zwischentexte zu sechs Themenbereichen zusammenzuschließen, kann er den Sammelbandcharakter der Publikation nicht umgehen. Die überzeugenden Angebote zu einer Theorie der Emigration, die Marc Raeff in seinem einleitenden Aufsatz "Emigration - welche, wann, wo?" mit den notwendigen Begriffserklärungen unterbreitet, werden in den einzelnen Beiträgen kaum aufgenommen. Der Puschkin-Kult, von Raeff als mächtiger Bestandteil des kulturellen Konsenses der Emigration herausgestellt, oder das problemlose Sicheinfügen der von den Emigranten transferierten Kultur des Silbernen Zeitalters in die deutsche Kulturszene werden im Sammelband nicht weiter thematisiert. Die Klammern greifen nicht, jeder treibt das Seine. Dies gilt leider sogar für die Einführung und Schreibung der Namen. So ist Alfred Rosenberg bei Temira Pachmus ein Baltendeutscher, der vorgestellt werden muß als "ein Emigrant aus dem Baltikum und russischer Staatsbürger, der im Winter 1918/19 aus Tallinn in München eingetroffen war und bald in die NSDAP eintrat"; in allen anderen Beiträgen weiß man von vornherein, wer Rosenberg ist. Der weißgardistische Abenteurer Avalov-Bermondt erscheint auch als Bermont oder Bermondt-Avalov, mal als Fürst, mal als Herzog; der Völkerbund wird zur "Liga der Nationen" umkodiert, die Russische Sozialdemokratische Arbeiterpartei taucht bald in der deutschen (SDAPR), bald in der russischen Abkürzung (RSDRP) auf. Solche Unstimmigkeiten und eine ungewöhnlich große Zahl an Druck- und stilistischen Fehlern lassen auf mangelnde Koordination und unterlassene Korrekturen schließen. So wird die Freude über den neugewonnenen Wissensstand zur russischen Emigration in Deutschland leider durch einigen Leserärger geschmälert. REINHARD LAUER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Russische Emigranten in der Weimarer Republik / Ein Sammelband mit Makeln
Karl Schlögel (Herausgeber): Russische Emigration in Deutschland 1918 bis 1941. Leben im europäischen Bürgerkrieg. Akademie Verlag, Berlin 1995. 550 Seiten, Abbildungen, 88,- Mark.
Nach der Oktoberrevolution erlebte Rußland den wohl schmerzlichsten kulturellen Aderlaß seiner Geschichte. Bürgerkrieg, Terror und Hungersnöte kosteten das Land in den Jahren 1918 bis 1922 nicht nur mehreren Millionen Menschen das Leben, sondern vertrieben auch einen beträchtlichen Teil der politischen, volkswirtschaftlichen und geistigen Elite. Sie suchte in den umliegenden Staaten Schutz. Die Zahl der Exilierten lag zwischen einer und drei Millionen - genau wird das nie zu ermitteln sein. Es waren darunter zaristische Offiziere und Generäle, Politiker von den Sozialrevolutionären bis zu den Konstitutionellen Demokraten und Monarchisten, Unternehmer, Verleger, Künstler, Schauspieler und Tänzerinnen sowie in besonderer Zahl Journalisten und Literaten.
Infolge der in Westeuropa grassierenden Bolschewiken-Furcht und der besonderen Beziehungen, die zwischen dem Deutschen Reich und dem Rätestaat durch den Frieden von Brest-Litowsk und dem Sondervertrag von Rapallo geknüpft waren, wurde Deutschland zum bevorzugten Ziel der russischen Emigranten. Namentlich Berlin, selbst durch Inflation und soziale Spannungen erschüttert, wurde für viele Russen zur ersten Etappe eines unsicheren Lebens im Ausland.
Das "russische Berlin", die legendenumwobene Insel im Meer der goldenen Zwanziger, bildete ein Konzentrat russischer Kultur, wie es niemals zuvor und danach außerhalb der russischen Grenzen bestanden hat. Im Bezirk Mitte hatten sich russische Firmen, Läden, Buchhandlungen und Verlage eingenistet, in den Hotels und Pensionen des Berliner Westens wimmelte es von Russen. Den Kurfürstendamm nannte der Volksmund in Anspielung auf Lenins NEP-Politik "Neppski-Prospekt". Um 1922, vor der Einführung der Nansen-Pässe, soll sich etwa eine halbe Million Russen in Deutschland aufgehalten haben; nach der nationalsozialistischen Machtübernahme sank die Zahl auf 40000.
Was Rang und Namen in der russischen Literatur hatte, lebte zwischen 1921 und 1923 in Berlin. Im Café Landgraf (Kurfürstenstraße 75) etablierte sich das russische "Haus der Künste". Dort kamen Realisten und Symbolisten, Serapionsbrüder und Konstruktivisten, Imaginisten und Futuristen lautstark und kontrovers zu Wort. Berlin war damals das eigentliche Zentrum der russischen Literatur. Trotz mannigfaltiger Anstrengungen sind wir allerdings von einer Gesamtdarstellung der russischen Emigration in Deutschland noch weit entfernt.
Sie ist so lange nicht zu erwarten, bis der unübersichtliche "Unterbau" der Emigration freigelegt ist. Dies versucht jetzt Karl Schlögel mit dem von ihm herausgegebenen Band "Russische Emigration in Deutschland 1918-1941". Es handelt sich um die zweite große Publikation aus einem Forschungsprojekt der Universität Konstanz. Es soll mit einer "Chronik russischen Lebens in Deutschland 1918-1941" abgeschlossen werden.
Dank dieser Unternehmung tritt die russische Emigration erstmals in der vollen Breite, mit ihren soziologischen Strukturen, ihren Organisationsformen und Einrichtungen, ihren politischen Tendenzen und - eher am Rande - mit ihren kulturellen Manifestationen in den Blick. Als überaus wertvoll und aufschlußreich erweisen sich die Beiträge, die aus bislang unbeachteten Archivquellen schöpfen. Neues Licht in das Schicksal der 1,2 Millionen russischer Kriegsgefangener, die sich nach Kriegsende noch in Deutschland befanden, wirft der Beitrag von Johannes Baur. Anhand der im Bundesarchiv Koblenz und Potsdam erhaltenen Akten zeigt er, wie "Weiße" und "Rote" die Gefangenen, denen nichts mehr am Herzen lag als rasche Heimkehr, für sich zu gewinnen suchten.
Nicht weniger neu und überzeugend die erhellende Darstellung der Menschewiken, der rechten Sozialdemokraten, in der Emigration (André Liebig, Hartmut Rüdiger Peters). Die kleine Gruppe (1927 zählte sie 74 Mitglieder, fast ausschließlich Juden) schloß sich eng an die deutsche Sozialdemokratie an und konnte mit Julij Martov, Fedor (Theodor) Dan und Pavel Akselrod (Paul Axelrod) bedeutende politische Denker aufbieten. Als Marxisten und Internationalisten vom Gros der Emigranten getrennt, wurden sie zu Gewährsleuten der deutschen Sozialdemokratie für russische Angelegenheiten. Schwer war das Schicksal der russischen Anarchisten (Dittmar Dahlmann), einer Gruppe von höchstens 50 Personen, deren Hoffnung, den antibolschewistischen Kampf fortführen zu können, in der Emigration rasch dahinschwand.
Überraschende Einsichten, die über die von Walter Laqueur in seinem Buch "Deutschland und Rußland" (1965) dargestellten Beziehungen hinausgehen, eröffnen die Untersuchungen der Verquickung der russischen Emigration mit dem Nationalsozialismus. Antibolschewismus, Antisemitismus, der Gedanke der Volksgemeinschaft, wie sie von den Nationalsozialisten propagiert wurden, kamen den politischen Vorstellungen der rechten Emigranten entgegen. General Aleksej von Lampe, seit 1920 Vertreter der Wrangel-Armee in Deutschland und alsbald der führende Funktionär des "Russischen Allgemeinen Militärverbandes", sah in Hitlers aggressiver Rußland-Politik immerhin die Möglichkeit, "mit den Bolschewiki auch unsere russischen Rechnungen zu begleichen". Dennoch blieb nach Hitlers Überfall auf die Sowjetunion der Anteil russischer Altemigranten in den Fronteinheiten gering. Das Leben des Gregor Schwartz-Bostunitsch, der es vom russischen Winkelliteraten zum SS-Standartenführer brachte, wird aus russischen (Rafail Ganelin) und deutschen Quellen (Michael Hagemeister) rekonstruiert. Aus dem Verfasser pornographischer und chauvinistischer Machwerke vor der Revolution wurde in der Emigration der Warner vor der jüdisch-freimaurerischen Verschwörung. Mit Hitler persönlich bekannt, von Himmler gefördert, von Heydrich "wegen zunehmender Invalidität" seines Postens als Leiter des Berliner Freimaurermuseums enthoben, führte Schwartz-Bostunitsch bereits seit 1927 den Titel eines nationalsozialistischen "Reichsredners". Auch als Galionsfigur des Rechtsextremismus im heutigen Rußland verdient Schwartz-Bostunitsch Beachtung.
Eine Emigrantenkarriere im Zeichen des Nationalsozialismus durchlief auch der zaristische General Vasilij von Biskupskij (Bettina Dodenhoeft). Wahrscheinlich schon am Kapp-Putsch beteiligt, suchte er im Februar 1933 Kontakte zur NSDAP und wurde 1936 zum Leiter der neugegründeten, von der Gestapo kontrollierten Emigrantenorganisation "Russische Vertrauensstelle in Deutschland" ernannt. Über die schillernden Aktivitäten Biskupskijs - etwa im Zusammenhang mit dem Mord an Senator Nabokov, dem Vater des Dichters, oder der Auslieferung russischer Juden - kann vorläufig nur gemutmaßt werden.
Unbefriedigend aber bleibt die Darstellung der Literatur, also des kulturgeschichtlich bedeutsamsten Kapitels der russischen Emigration in Deutschland. (Ganz ausgespart ist gar die musikalische Emigration - zu Unrecht.) Aus dem letzten gemeinsamen Akkord der russischen Literatur vor ihrer Spaltung werden in dem vorliegenden Band lediglich einige Teilaspekte der Berlin-Aufenthalte Andrej Belyjs (Thomas R. Beyer), Ilja Êrenburgs (Ewa Bérard), Maksim Gorkijs (Rossana Platone) und Vladimir Nabokovs (Annelore Engel-Braunschmidt) behandelt. Damit wird das Thema dem Spiel des Zufalls überlassen. Neues und Wichtiges bringt hier nur der Beitrag über den Literaturkritiker Julij Ajchenwald und seine Berliner Aktivitäten (Abram Rejtbald). Obwohl sich der Herausgeber redlich bemüht, den in viele Richtungen ausufernden Stoff mittels steuernder Zwischentexte zu sechs Themenbereichen zusammenzuschließen, kann er den Sammelbandcharakter der Publikation nicht umgehen. Die überzeugenden Angebote zu einer Theorie der Emigration, die Marc Raeff in seinem einleitenden Aufsatz "Emigration - welche, wann, wo?" mit den notwendigen Begriffserklärungen unterbreitet, werden in den einzelnen Beiträgen kaum aufgenommen. Der Puschkin-Kult, von Raeff als mächtiger Bestandteil des kulturellen Konsenses der Emigration herausgestellt, oder das problemlose Sicheinfügen der von den Emigranten transferierten Kultur des Silbernen Zeitalters in die deutsche Kulturszene werden im Sammelband nicht weiter thematisiert. Die Klammern greifen nicht, jeder treibt das Seine. Dies gilt leider sogar für die Einführung und Schreibung der Namen. So ist Alfred Rosenberg bei Temira Pachmus ein Baltendeutscher, der vorgestellt werden muß als "ein Emigrant aus dem Baltikum und russischer Staatsbürger, der im Winter 1918/19 aus Tallinn in München eingetroffen war und bald in die NSDAP eintrat"; in allen anderen Beiträgen weiß man von vornherein, wer Rosenberg ist. Der weißgardistische Abenteurer Avalov-Bermondt erscheint auch als Bermont oder Bermondt-Avalov, mal als Fürst, mal als Herzog; der Völkerbund wird zur "Liga der Nationen" umkodiert, die Russische Sozialdemokratische Arbeiterpartei taucht bald in der deutschen (SDAPR), bald in der russischen Abkürzung (RSDRP) auf. Solche Unstimmigkeiten und eine ungewöhnlich große Zahl an Druck- und stilistischen Fehlern lassen auf mangelnde Koordination und unterlassene Korrekturen schließen. So wird die Freude über den neugewonnenen Wissensstand zur russischen Emigration in Deutschland leider durch einigen Leserärger geschmälert. REINHARD LAUER
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