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Rußland 1917 - das ist ein Staat im Krieg, eine Gesellschaft in der Krise. Der Zar wird gestürzt, der Sturm der Revolution fegt über das Reich; doch wie es mit Rußland weitergehen soll, bleibt heftig umkämpft. Ein fesselndes Panorama eines entscheidenden Jahres russischer Geschichte, ein Buch über ein Land auf der Suche nach sich selbst, einer Suche, die in vielem an das Rußland der Gegenwart erinnert.

Produktbeschreibung
Rußland 1917 - das ist ein Staat im Krieg, eine Gesellschaft in der Krise. Der Zar wird gestürzt, der Sturm der Revolution fegt über das Reich; doch wie es mit Rußland weitergehen soll, bleibt heftig umkämpft.
Ein fesselndes Panorama eines entscheidenden Jahres russischer Geschichte, ein Buch über ein Land auf der Suche nach sich selbst, einer Suche, die in vielem an das Rußland der Gegenwart erinnert.
Autorenporträt
Helmut Altrichter, Dr. phil., ist Professor für osteuropäische Geschichte an der Universität Erlangen-Nürnberg. Von ihm gibt es zahlreiche Publikationen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.10.1997

Kehrichthaufen der Geschichte
Helmut Altrichters Darstellung der russischen Revolution

Helmut Altrichter: Rußland 1917. Ein Land auf der Suche nach sich selbst. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn, München, Wien und Zürich 1997. 605 Seiten, zahlreiche Abbildungen, 78,- DM.

"Mögen sie gehen, die Sozialkompromißler, diese Menschewiki, Sozialrevolutionäre . . . Was sind sie anderes wert, als auf den Kehrichthaufen der Geschichte gefegt zu werden!" Als Leo Trotzki voller Hohn diese Worte den Delegierten hinterherrief, die am 25. Oktober 1917, dem Tag des Bolschewistenputsches, den Allrussischen Sowjetkongreß aus Protest gegen die terroristische Politik Lenins und seiner Gesinnungsgenossen verlassen hatten, ahnte er nicht, daß mehr als siebzig Jahre später dieses Verdikt auch auf den von ihm mitgeschaffenen kommunistischen Staat zutreffen wird.

Der Sturz des autokratischen Zarenregimes während des Ersten Weltkrieges und die sich in mehreren Schüben vollziehende revolutionäre Entwicklung bis zur Machtergreifung der Bolschewisten ist von Zeitzeugen und Historikern häufig beschrieben, sachkundig analysiert und kritisch reflektiert worden. Die Oktoberrevolution galt zeitweilig sogar als Geburt eines politischen Mythos, der leider, wie François Furet 1995 in seiner ernüchternden Bilanz "Das Ende der Illusion" feststellte, identitätsstiftend war. Heute, nach dem Zerfall der Sowjetunion, wird man die stürmischen Ereignisse des Epochenjahres 1917, ja den gesamten Komplex "Russische Revolution", anders beurteilen müssen, denn er kann als ein abgeschlossenes Ereignis distanziert und im Vergleich mit den großen Revolutionen des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts betrachtet werden.

Gerade auf diesen Aspekt legt Helmut Altrichter, ein ausgewiesener Experte für osteuropäische Geschichte, in seinem voluminösen Buch "Rußland 1917" besonderen Wert, indem er zuerst die Bedingungen analysiert, die eine Revolution wie die russische auszeichnen. Daraufhin entwickelt er für das komplexe Geschehen in seiner Darstellung drei thematische Ebenen, die ihm eine klare Strukturierung ermöglichen. Zuerst beschreibt er chronologisch die politischen Ereignisse vom Frühjahr bis zum Oktoberaufstand der Bolschewiki, danach fügt er eine sozialgeschichtliche Deutung der Aufruhr- und Protestbewegungen von Arbeitern, Soldaten und Bauern an, die erklären soll, welche Rolle die aufgewühlten Massen während der Revolution spielten. Die Autonomieforderungen in den Randgebieten des Riesenreiches, der Ruf nach Einheit und Selbstbestimmung in Finnland, den Ostseeprovinzen, in Polen, der Ukraine, im Transkaukasus und in den islamischen Staaten des Ostens und Südostens, überhaupt die unterschiedlichen Aktivitäten der einzelnen nationalen Gruppierungen werden im dritten Teil dargestellt, so daß insgesamt ein umfassendes Bild von einem welthistorischen Ereignis entsteht.

Der Perspektivenwechsel, den der Autor hinsichtlich der Streik- und Aufstandsbewegungen vornimmt, führt ihn von den Auseinandersetzungen zwischen zaristischer Regierung mit den unterschiedlichen Oppositionskräften zu denen, die bisher als die "Objekte" im historischen Prozeß galten. Altrichter betont die Eigenständigkeit der unruhigen Massen in den ersten Phasen der Revolution und beschreibt detailliert die Aktionsformen und Vereinigungen, die sich Arbeiter, Soldaten und Bauern schufen, bevor die Agitatoren der Bolschewiki den sozialen Protest für ihre Ziele nutzbar machten. Die in Räten organisierte Arbeiterschaft und ihre politischen Vertretungen - Menschewiki und Sozialrevolutionäre - verloren zunehmend an Einfluß, während Lenins diktatorische Partei wegen ihres geschickten Agitierens sowohl die Arbeiter als auch die Soldaten und sogar die Bauern für sich gewann, so daß nach der Oktoberrevolution die Forderungen nach Freiheit und sozialen Rechten für eine lange Zeit verlorengingen.

Der kommunistische Erfolg beruhte nicht - wie oft behauptet - auf einer straffen Kaderorganisation der Bolschewisten und einem überzeugenden Parteiprogramm, sondern rührte daher, daß man mit suggestiven Formeln wie "Friede", "Landverteilung" und "Arbeiterkontrolle" desorientierte Masse mobilisieren konnte, wie es zum Repertoire populistischer Sammlungsbewegungen gehört. Angesichts der sich abzeichnenden Niederlage gegen die Mittelmächte befand sich auch die fast neun Millionen Soldaten umfassende russische Armee seit der Jahreswende 1916/17 in Auflösung. Die Intensität dieses Erosionsprozesses, den Altrichter plastisch schildert, war im Feldheer und in den Garnisonen des Hinterlandes, aber auch im Offizierskorps und bei den Mannschaften unterschiedlich, die Erhaltung des Status quo wollte keiner. Selbst die Generalität schloß wegen des Versagens der politischen Führung einen Putsch nicht mehr aus, und nach dem Sturz der Monarchie entstanden im März Soldatenkomitees, die von der Armeeführung als Garanten der Ordnung, vom Gros der Soldaten als Ausdruck ihrer neugewonnenen Machtstellung betrachtet wurden. Aber auch diese Komitees gerieten zunehmend unter den Einfluß bolschewistischer Funktionäre, denen es gelang, die Massenstimmungen so zu instrumentalisieren, daß sich die Radikalen beim Oktoberaufstand vor allem auf die Unterstützung der Garnisonen in der Hauptstadt Petrograd verlassen konnten.

Auch im Protestverhalten der Bauern dokumentierte sich die Eigenständigkeit einer Massenbewegung, eine Tatsache, auf die der Autor besonderen Wert legt. Lenin hatte die Forderungen der Bauern fast wörtlich übernommen, als er die entschädigungslose Enteignung der Gutsbesitzer an Grund und Boden durchsetzte. Der Einfluß der Bolschewiki auf die Dorfbewohner hielt sich jedoch in Grenzen; anstatt in die propagierten landwirtschaftlichen Genossenschaften einzutreten, entstanden Klein- und Kleinstbetriebe, die sich um Selbstversorgung kümmerten und weiterhin im traditionellen Dorfverband leben wollten. Die erzwungene Kollektivierung Ende der zwanziger Jahre beseitigte diese freie bäuerliche Wirtschaftsform endgültig. Knapp und präzise wird das unglückliche Agieren und Taktieren des russischen Bürgertums in der Staatskrise geschildert. Am Beispiel dreier Tagebuchausschnitte demonstriert Helmut Altrichter anschaulich, wie Repräsentanten aus den besitzenden und gebildeten Kreisen, zum Beispiel Vladimir Nabokov, der Vater des berühmten Autors, die Revolution erlebten: nämlich als "Untergang ihrer Vision eines liberalen Rechtsstaates".

Mit der Krise des autokratischen Zarenregimes lebten auch die Nationalbewegungen in den Provinzen wieder auf; die Revolution forcierte das Streben nach Autonomie, ja sogar nach Unabhängigkeit von Rußland. Nach einem informativen Exkurs über die unterschiedliche Ausprägung des Nationalbewußtseins in den einzelnen Regionen skizziert Altrichter die politischen Spannungen und Auseinandersetzungen in den Regionen, die 1922/23 von der neugegründeten Sowjetunion einverleibt wurden; sie konnten sich aber ihre nationale Identität - wie die Gegenwart zeigt - weitgehend bewahren.

Helmut Altrichters Buch "Rußland 1917" besticht vor allem durch die sachliche und distanzierte Art, mit der die Revolution und die sie begleitenden Ungeheuerlichkeiten dargestellt werden; es unterscheidet sich darin von der furiosen Abrechnung mit Lenin und seiner terroristischen Politik, die der Harvard-Historiker Richard Pipes 1992 im zweiten Teil seiner mehrbändigen Revolutionsgeschichte vorgenommen hatte. Pipes' bitteres Urteil über die Zeitzeugen der Umwälzung des Jahres 1917 lautete: "Diejenigen, die die Revolution durchgemacht hatten und am Leben geblieben waren, würden eine Rückkehr zur Normalität nicht mehr erleben. Die Revolution war erst der Anfang ihrer Leiden." Während Pipes die Rolle von Personen im revolutionären Prozeß besonders hervorhebt und in der "zerstörerischen Wut" Lenins die Triebkraft für den Oktoberputsch sieht, macht Altrichter bereits mit seinem ersten Satz "Am Anfang war nicht Lenin" den Paradigmawechsel deutlich. Seine Revolutionsgeschichte konzentriert sich viel stärker auf die gesellschaftlichen Kräfte und Konflikte als auf handelnde Individuen und deren Aktivitäten. Diesem Zweck dienen auch die vielen, gut ausgewählten Bilder, die keinen rein illustrativen Charakter haben wie in manchen anderen Darstellungen, sondern an denen Altrichter durch Erläuterungen oder Interpretationen bestimmte Strukturbedingungen der Revolution oder exemplarische Ereignisse zu verdeutlichen sucht. Informatives Kartenmaterial und Statistiken im Anhang des Buches sollen nicht nur besonders relevante Aussagen belegen, sondern auch den Anspruch des Autors auf Exaktheit und Transparenz in der Darstellung dokumentieren.

Wer historische Ereignisse emotional "erleben" möchte, wird auch künftig die notwendige Stimulanz bei Pipes finden, eine rationale Auseinandersetzung mit der Geschichte garantiert dagegen die mit kühlem Kopf und distanziertem Blick verfaßte Geschichte des Revolutionsjahres 1917 von Helmut Altrichter. Ob die Zukunft Rußlands den politischen Kräften oder Ideen gehört, die Trotzki 1917 auf den Kehrichthaufen der Geschichte verwiesen hatte, diese Frage läßt sich nicht beantworten. Man kann nach der Lektüre nur die politischen Möglichkeiten, die die Akteure von einst besaßen, und die Gründe für ihre Kapitulation vor dem Bolschewismus nachvollziehen. DIETHARD HENNIG

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