Die russische Gesellschaft hat einen alten Traum - den Traum von Freiheit. Sie träumt ihn immer völlig unabhängig von ihren jeweiligen Herrschern. Die große Mehrheit der Bevölkerung ist heutefreier als je zuvor, auch wenn es ungerecht im Land zugeht. Doch der Anschein, dass sich die Gesellschaft widerstandslos vom Staat beherrschen lässt, war und ist falsch. Warum, das erklärtdieser brillante Essay.Wie so vieles in Russland ist auch der russische Traum widersprüchlich. Auf der einen Seite erwartet die Gesellschaft Unterstützung vom Staat im sozialen Bereich. Auf der anderen Seite fordern die Menschen, dass sie selbst über ihr Schicksal bestimmen können. Dazu bedarf es einer Freiheit, die oft rücksichtslos ist und vor der Freiheit des Anderen nicht haltmacht. Seit Peter dem Großen ist der Staat des größten Landes der Welt in Maßen bereit, diesem Willen des Stärkeren stattzugeben - sofern politische Mitbestimmung ausgeschlossen bleibt. Wer Russland verstehen will, muss dieses Buch lesen.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Kerstin Holm stellt irritiert fest, dass bei Reinhard Krumm zivilgesellschaftliche Initiativen in Russland und ihre Verdienste sowie auch Alexej Nawalnyi gar nicht vorkommen. Der Versuch des Autors, Geschichte und soziale Struktur Russlands von innen zu erklären und das Freiheitsstreben der russischen Gesellschaft zu belegen, bleibt für Holm so leider unvollständig. Als gut lesbarer, mit Literaturhinweisen ausgestatteter "Kurzlehrgang" über die Russen taugt ihr das Buch aber schon.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.10.2020Atomisierte Individualisten
Reinhard Krumm erklärt die Russen
Russland ist für die meisten Europäer nicht das Land, wohin man reist, sondern eines, das als außen- und sicherheitspolitischer Störfaktor auftritt. Wobei nicht wenige Experten und Emigranten die russische Gesellschaft als passiv und gegenüber ihrer Staatsmacht allzu dienstfertig abtun. Dem widerspricht der Historiker Reinhard Krumm, der lange als Journalist und Leiter des Regionalbüros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Russland gearbeitet hat, in einem Essay, der die Geschichte und soziale Struktur des Landes gleichsam von innen erklärt.
Diese "andere" Gesellschaft, wie sie der Untertitel nennt, strebe nach Freiheit und Gerechtigkeit, freilich in einem Umfeld, in dem der Staat stets der Entwicklungsmotor war, ja, angesichts der Modernisierungsrückstände sein musste. Er betrachtete die Bevölkerung als Reservoir für die Armee und die innere Kolonisierung. Das zusammengebrochene Zarenreich beerbten die Bolschewiken mit Hilfe von systematischem Terror. Doch ihnen gelangen auch Modernisierungssprünge, von der Frauenemanzipation bis zum sozialen Wohnungsbau. Zugleich wurde es Tradition, dass fast alle Teile der Gesellschaft sich schlecht behandelt fühlen und das durch Beziehungen zu Problemlösern - die allgegenwärtige Korruption - abzufedern versuchen. Krumm betont, dass die Russen angesichts mangelnder Rechtsstaatlichkeit zum Improvisieren gezwungen und daher atomisierte Individualisten seien.
Das schmale Bändchen ist ein gut lesbarer Kurzlehrgang, gewürzt mit griffigen Zitaten, historische wie aktuelle Debattenlinien werden skizziert und weiterführende Literatur empfohlen. Der Autor dürfte immer noch recht haben mit seinem Befund, dass die Russen in ihrer Mehrheit loyal zu Präsident Putin stehen. Er erinnert daran, dass nach 1991 die Insiderprivatisierung und Oligarchenherrlichkeit die wohlklingende Vokabel Liberalismus rasch in ein Schimpfwort verwandelt hatten. Und dass die Menschen private Freiräume haben wie nie zuvor in ihrer Geschichte.
Doch dass zivilgesellschaftliche Initiativen in dem Essay nur am Rande vorkommen, muss bei diesem Experten irritieren. Zwar erwähnt Krumm einige Erfolge bei Kommunalwahlen und Nichtregierungsorganisationen, die mit dem Schandtitel "Ausländische Agenten" drangsaliert werden, allerdings ohne ihre Profile und Verdienste zu erwähnen. Noch flüchtiger streift er die vielfältigen Proteste gegen Wahlbetrug, die für viele eine Frage der Würde waren und vorigen Herbst, als das Büchlein erschien, wieder einmal eskalierten. Umso bezeichnender, dass die Figur des Korruptionsbekämpfers Alexej Nawalnyj, der seit Jahren sowohl für die Protestbewegung als auch für die Kommunalwahlerfolge eine Schlüsselrolle spielte, bei Krumm - genau wie im russischen Staatsfernsehen - überhaupt nicht vorkommt.
KERSTIN HOLM
Reinhard Krumm:
"Russlands Traum". Anleitung zum Verständnis einer anderen Gesellschaft.
Dietz-Verlag, Bonn 2019. 136 S., br., 16,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Reinhard Krumm erklärt die Russen
Russland ist für die meisten Europäer nicht das Land, wohin man reist, sondern eines, das als außen- und sicherheitspolitischer Störfaktor auftritt. Wobei nicht wenige Experten und Emigranten die russische Gesellschaft als passiv und gegenüber ihrer Staatsmacht allzu dienstfertig abtun. Dem widerspricht der Historiker Reinhard Krumm, der lange als Journalist und Leiter des Regionalbüros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Russland gearbeitet hat, in einem Essay, der die Geschichte und soziale Struktur des Landes gleichsam von innen erklärt.
Diese "andere" Gesellschaft, wie sie der Untertitel nennt, strebe nach Freiheit und Gerechtigkeit, freilich in einem Umfeld, in dem der Staat stets der Entwicklungsmotor war, ja, angesichts der Modernisierungsrückstände sein musste. Er betrachtete die Bevölkerung als Reservoir für die Armee und die innere Kolonisierung. Das zusammengebrochene Zarenreich beerbten die Bolschewiken mit Hilfe von systematischem Terror. Doch ihnen gelangen auch Modernisierungssprünge, von der Frauenemanzipation bis zum sozialen Wohnungsbau. Zugleich wurde es Tradition, dass fast alle Teile der Gesellschaft sich schlecht behandelt fühlen und das durch Beziehungen zu Problemlösern - die allgegenwärtige Korruption - abzufedern versuchen. Krumm betont, dass die Russen angesichts mangelnder Rechtsstaatlichkeit zum Improvisieren gezwungen und daher atomisierte Individualisten seien.
Das schmale Bändchen ist ein gut lesbarer Kurzlehrgang, gewürzt mit griffigen Zitaten, historische wie aktuelle Debattenlinien werden skizziert und weiterführende Literatur empfohlen. Der Autor dürfte immer noch recht haben mit seinem Befund, dass die Russen in ihrer Mehrheit loyal zu Präsident Putin stehen. Er erinnert daran, dass nach 1991 die Insiderprivatisierung und Oligarchenherrlichkeit die wohlklingende Vokabel Liberalismus rasch in ein Schimpfwort verwandelt hatten. Und dass die Menschen private Freiräume haben wie nie zuvor in ihrer Geschichte.
Doch dass zivilgesellschaftliche Initiativen in dem Essay nur am Rande vorkommen, muss bei diesem Experten irritieren. Zwar erwähnt Krumm einige Erfolge bei Kommunalwahlen und Nichtregierungsorganisationen, die mit dem Schandtitel "Ausländische Agenten" drangsaliert werden, allerdings ohne ihre Profile und Verdienste zu erwähnen. Noch flüchtiger streift er die vielfältigen Proteste gegen Wahlbetrug, die für viele eine Frage der Würde waren und vorigen Herbst, als das Büchlein erschien, wieder einmal eskalierten. Umso bezeichnender, dass die Figur des Korruptionsbekämpfers Alexej Nawalnyj, der seit Jahren sowohl für die Protestbewegung als auch für die Kommunalwahlerfolge eine Schlüsselrolle spielte, bei Krumm - genau wie im russischen Staatsfernsehen - überhaupt nicht vorkommt.
KERSTIN HOLM
Reinhard Krumm:
"Russlands Traum". Anleitung zum Verständnis einer anderen Gesellschaft.
Dietz-Verlag, Bonn 2019. 136 S., br., 16,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main