Sachfragen sind wahrheitsfähig. Glücksfragen nicht. Mit der Absage an dieses Theorem stellt der Autor eine grundlegende Weichenstellung im Denken der Moderne in Frage. Mit Ende des 18. Jahrhunderts beginnt sich ein Theorem, die "Asymmetrie", in das abendländisch-philosophische Denken einzuschreiben, das Glücksfragen im Gegensatz zu Sachfragen als nicht objektivierbar begreift. Mit der Folge, dass sich die Wissenschaft zu einem Ausschluss von Glücksfragen aus ihrem Beantwortungsbereich zwingt, und dadurch, weil dieser Ausschluss nicht gelingt, ihre Glücksarbeit immer tiefer in den diskursiven Untergrund treibt. Dem widerspricht Steffen Strohmenger mit guten Gründen und weitreichenden Konsequenzen.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.10.2007Alles in die zweite Klasse
So macht man Sach- und Glücksfragen gleich (un)wahr
Zumindest im Alltag und in der Forschungspolitik herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass naturwissenschaftliche Aussagen einen anderen Stellenwert haben als zum Beispiel Vorschläge, die ein glückliches Leben befördern sollen. Gelten im Vergleich mit den „exakten” Naturwissenschaften schon die empirischen Sozialwissenschaften als „weich”, verlieren sich verbindliche Ansprüche bald, geht es um Fragen der Moral, der Lebensführung, der Lebensformen oder gar der religiösen Bekenntnisse. Während die zu funktionierender Technik geronnenen Erkenntnisse der Naturwissenschaften rund um den Globus gleichermaßen als wahr gelten können, relativiert sich alles, wenn es um Fragen des richtigen Lebens geht. Wer es anders sieht, macht sich sofort des Dogmatismus und der Intoleranz verdächtig.
Das war nicht immer so. In bestimmten Traditionen des antiken und des christlichen Denkens bildeten das Wahre, Schöne und Gute nicht nur eine pädagogische, sondern auch eine epistemologische Einheit. Erst die Moderne hat diese Sphären auseinandergetrieben, die Wahrheit allein den sachlich und objektiv feststellbaren Aussagen über das So-Sein der Welt zugeschrieben, die Frage, wie die Welt sein soll, jedoch subjektiviert und relativiert. Seitdem klaffen die Welt der Tatsachen und die Welt der Werte auseinander. In Max Webers berühmter These von der prinzipiellen Wertfreiheit der Wissenschaft fand diese Entwicklung ihren prägnanten Ausdruck.
Warum dies so kam und ob dies so sein muss, untersucht der Ethnologe Steffen Strohmenger in seiner philosophischen Dissertation „Sachfragen und Glücksfragen”. Mit diesen Begriffen werden bündig die Sphären bezeichnet, denen offenbar unhinterfragt unterschiedliche „Wahrheitsfähigkeiten” zugebilligt werden: Sachfragen gelten als wahrheitsfähig, die Fragen nach dem Guten und Schönen nicht oder zumindest nicht in einem ähnlichen Maße: es gibt die „Erste-Klasse-Wahrheiten” der Wissenschaften und die „Zweite-Klasse-Wahrheiten” der Lebensberater, Glücksversprecher und Ästheten. Was das Schöne betrifft, verabschiedet sich der Autor auch gleich wieder davon, um sich ausschließlich der von ihm sogenannten „Asymmetrie” zwischen Sachfragen und Glücksfragen in Bezug auf ihre Wahrheitsfähigkeit zu widmen. Warum diese unterschiedliche Einschätzung, und wie kam es dazu?
Strohmenger kennt vor allem einen historischen Ort, an dem sich diese Differenzierung paradigmatisch ablesen lässt: den Essay „Der Skeptiker” von David Hume. In dem Text von 1741 hatte Hume den „unbezweifelbaren philosophischen Grundsatz” formuliert, dass „nichts in sich selbst wertvoll oder verächtlich, wünschenswert- oder hassenswert, schön oder missgestaltet ist”, sondern dass diese Attribute in den „menschlichen Empfindungen und Neigungen” ihren Ursprung haben. Während die Natur der Dinge sich zumindest prinzipiell erkennen lässt, weil sie menschenunabhängigen Gesetzen gehorcht, sind Fragen der Moral und der Ästhetik Ausdruck der subjektiven Präferenzen der Menschen. Darüber lassen sich nach Hume keine Wahrheiten verkündigen, aber die Frage nach dem Glück ist dennoch nicht beliebig zu beantworten, die Philosophie kann dazu sogar „indirekt” etwas beitragen, indem sie auf eher rätselhafte Weise eine „verborgene” Wirkung entfaltet.
Strohmenger erklärt nun diesen Essay Humes zum Kardinaltext der Asymmetrisierung von Sach- und Glücksfragen und stellt, indem er sich an der argumentativen Inkonsistenz dieses Textes abarbeitet, diese Asymmetrie selbst radikal infrage. Schon bei Hume lässt sich, ebenso wie später bei Max Weber, kritisch anmerken, dass die Wahrheitsfähigkeit von Sachfragen so eindeutig nicht ist, dass auch Sachfragen stets einen nicht nur marginalen subjektiven Akzent aufweisen; und umgekehrt lässt sich schon an Hume zeigen, dass der Verzicht auf Argumentationen mit Wahrheitsanspruch im Bereich der Glücksfragen nicht wirklich schlüssig begründet werden kann. Exkurse zu Herder, Aristoteles und Kant unterstreichen diesen Befund.
Strohmenger will also die ursprüngliche Symmetrie zwischen Sachfragen und Glücksfragen wiederherstellen. Gespannt wartet der Leser auf eine Lösung, die durch den Gang der Untersuchung suggeriert wird: dass auch Glücksfragen wahrheitsfähig sind. Die Konsequenz davon wäre allerdings – dass weiß der Ethnologe Strohmenger – dass damit das Konzept der Toleranz gegenüber anderen Lebensformen und Kulturen ins Wanken geriete. Das aber kann und darf nicht sein. Ein Beibehalten der Asymmetrie führt aber dazu, dass es keine Argumente gegen eine grundsätzliche gesellschaftspolitische Indifferenz gibt. Wenn alle Lebensformen und Glücksvorstellungen gleiche Gültigkeit beanspruchen dürfen, gibt es keine Möglichkeiten, einzelne zu kritisieren oder gar gegen sie zu intervenieren. Aber auch das will Strohmenger nicht.
Der willkürliche Ausweg
Gibt es daraus einen Ausweg? Ja, indem die Symmetrie dadurch wiederhergestellt wird, dass man auch den Sachfragen ihre Wahrheitsfähigkeit abspricht. Erst eine Wissenschaft, die sich ihrer Begrenztheit bewusst ist und prinzipiell keine Erste-Klasse-Wahrheiten anzubieten hat, muss nicht mehr auf verborgene Wirkungen hoffen, sondern kann sich argumentativ und rhetorisch an den Diskussionen um wünschenswerte Lebenskonzepte angemessen beteiligen, ohne das Prinzip der Toleranz zu verletzen und ohne der Indifferenz zu huldigen.
Der Rezensent gesteht, dass ihn, nach durchaus anregender und gespannter Lektüre, diese Lösung enttäuscht hat. Dass es auch in den „harten” Wissenschaften keine Erste-Klasse-Wahrheiten gibt, ist in der Wissenschaftskritik spätestens seit Paul Feyerabend immer wieder diskutiert worden, aber alle theoretische Aushebelung der wissenschaftlichen Rationalität hat deren Siegeszug nicht aufhalten können. Die Herstellung der Symmetrie zwischen Behauptungen, die sich auf Tatsachen beziehen, und Vorstellungen, die sich auf Werte und Normen beziehen, durch die Behauptung der Wahrheitsunfähigkeit der Wissenschaften erscheint als ein letztlich doch eher willkürlicher Akt – geboren vielleicht aus einem Hang zu einem vermeintlich Guten, der eben jene Asymmetrie unterstreicht, die es zu widerlegen galt. KONRAD PAUL LIESSMANN
STEFFEN STROHMENGER: Sachfragen und Glücksfragen. Von der Asymmetrie zur Re-Symmetrisierung ihrer Wahrheitsfähigkeit. Wilhelm Fink, München 2006. 159 Seiten, 22,90 Euro.
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So macht man Sach- und Glücksfragen gleich (un)wahr
Zumindest im Alltag und in der Forschungspolitik herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass naturwissenschaftliche Aussagen einen anderen Stellenwert haben als zum Beispiel Vorschläge, die ein glückliches Leben befördern sollen. Gelten im Vergleich mit den „exakten” Naturwissenschaften schon die empirischen Sozialwissenschaften als „weich”, verlieren sich verbindliche Ansprüche bald, geht es um Fragen der Moral, der Lebensführung, der Lebensformen oder gar der religiösen Bekenntnisse. Während die zu funktionierender Technik geronnenen Erkenntnisse der Naturwissenschaften rund um den Globus gleichermaßen als wahr gelten können, relativiert sich alles, wenn es um Fragen des richtigen Lebens geht. Wer es anders sieht, macht sich sofort des Dogmatismus und der Intoleranz verdächtig.
Das war nicht immer so. In bestimmten Traditionen des antiken und des christlichen Denkens bildeten das Wahre, Schöne und Gute nicht nur eine pädagogische, sondern auch eine epistemologische Einheit. Erst die Moderne hat diese Sphären auseinandergetrieben, die Wahrheit allein den sachlich und objektiv feststellbaren Aussagen über das So-Sein der Welt zugeschrieben, die Frage, wie die Welt sein soll, jedoch subjektiviert und relativiert. Seitdem klaffen die Welt der Tatsachen und die Welt der Werte auseinander. In Max Webers berühmter These von der prinzipiellen Wertfreiheit der Wissenschaft fand diese Entwicklung ihren prägnanten Ausdruck.
Warum dies so kam und ob dies so sein muss, untersucht der Ethnologe Steffen Strohmenger in seiner philosophischen Dissertation „Sachfragen und Glücksfragen”. Mit diesen Begriffen werden bündig die Sphären bezeichnet, denen offenbar unhinterfragt unterschiedliche „Wahrheitsfähigkeiten” zugebilligt werden: Sachfragen gelten als wahrheitsfähig, die Fragen nach dem Guten und Schönen nicht oder zumindest nicht in einem ähnlichen Maße: es gibt die „Erste-Klasse-Wahrheiten” der Wissenschaften und die „Zweite-Klasse-Wahrheiten” der Lebensberater, Glücksversprecher und Ästheten. Was das Schöne betrifft, verabschiedet sich der Autor auch gleich wieder davon, um sich ausschließlich der von ihm sogenannten „Asymmetrie” zwischen Sachfragen und Glücksfragen in Bezug auf ihre Wahrheitsfähigkeit zu widmen. Warum diese unterschiedliche Einschätzung, und wie kam es dazu?
Strohmenger kennt vor allem einen historischen Ort, an dem sich diese Differenzierung paradigmatisch ablesen lässt: den Essay „Der Skeptiker” von David Hume. In dem Text von 1741 hatte Hume den „unbezweifelbaren philosophischen Grundsatz” formuliert, dass „nichts in sich selbst wertvoll oder verächtlich, wünschenswert- oder hassenswert, schön oder missgestaltet ist”, sondern dass diese Attribute in den „menschlichen Empfindungen und Neigungen” ihren Ursprung haben. Während die Natur der Dinge sich zumindest prinzipiell erkennen lässt, weil sie menschenunabhängigen Gesetzen gehorcht, sind Fragen der Moral und der Ästhetik Ausdruck der subjektiven Präferenzen der Menschen. Darüber lassen sich nach Hume keine Wahrheiten verkündigen, aber die Frage nach dem Glück ist dennoch nicht beliebig zu beantworten, die Philosophie kann dazu sogar „indirekt” etwas beitragen, indem sie auf eher rätselhafte Weise eine „verborgene” Wirkung entfaltet.
Strohmenger erklärt nun diesen Essay Humes zum Kardinaltext der Asymmetrisierung von Sach- und Glücksfragen und stellt, indem er sich an der argumentativen Inkonsistenz dieses Textes abarbeitet, diese Asymmetrie selbst radikal infrage. Schon bei Hume lässt sich, ebenso wie später bei Max Weber, kritisch anmerken, dass die Wahrheitsfähigkeit von Sachfragen so eindeutig nicht ist, dass auch Sachfragen stets einen nicht nur marginalen subjektiven Akzent aufweisen; und umgekehrt lässt sich schon an Hume zeigen, dass der Verzicht auf Argumentationen mit Wahrheitsanspruch im Bereich der Glücksfragen nicht wirklich schlüssig begründet werden kann. Exkurse zu Herder, Aristoteles und Kant unterstreichen diesen Befund.
Strohmenger will also die ursprüngliche Symmetrie zwischen Sachfragen und Glücksfragen wiederherstellen. Gespannt wartet der Leser auf eine Lösung, die durch den Gang der Untersuchung suggeriert wird: dass auch Glücksfragen wahrheitsfähig sind. Die Konsequenz davon wäre allerdings – dass weiß der Ethnologe Strohmenger – dass damit das Konzept der Toleranz gegenüber anderen Lebensformen und Kulturen ins Wanken geriete. Das aber kann und darf nicht sein. Ein Beibehalten der Asymmetrie führt aber dazu, dass es keine Argumente gegen eine grundsätzliche gesellschaftspolitische Indifferenz gibt. Wenn alle Lebensformen und Glücksvorstellungen gleiche Gültigkeit beanspruchen dürfen, gibt es keine Möglichkeiten, einzelne zu kritisieren oder gar gegen sie zu intervenieren. Aber auch das will Strohmenger nicht.
Der willkürliche Ausweg
Gibt es daraus einen Ausweg? Ja, indem die Symmetrie dadurch wiederhergestellt wird, dass man auch den Sachfragen ihre Wahrheitsfähigkeit abspricht. Erst eine Wissenschaft, die sich ihrer Begrenztheit bewusst ist und prinzipiell keine Erste-Klasse-Wahrheiten anzubieten hat, muss nicht mehr auf verborgene Wirkungen hoffen, sondern kann sich argumentativ und rhetorisch an den Diskussionen um wünschenswerte Lebenskonzepte angemessen beteiligen, ohne das Prinzip der Toleranz zu verletzen und ohne der Indifferenz zu huldigen.
Der Rezensent gesteht, dass ihn, nach durchaus anregender und gespannter Lektüre, diese Lösung enttäuscht hat. Dass es auch in den „harten” Wissenschaften keine Erste-Klasse-Wahrheiten gibt, ist in der Wissenschaftskritik spätestens seit Paul Feyerabend immer wieder diskutiert worden, aber alle theoretische Aushebelung der wissenschaftlichen Rationalität hat deren Siegeszug nicht aufhalten können. Die Herstellung der Symmetrie zwischen Behauptungen, die sich auf Tatsachen beziehen, und Vorstellungen, die sich auf Werte und Normen beziehen, durch die Behauptung der Wahrheitsunfähigkeit der Wissenschaften erscheint als ein letztlich doch eher willkürlicher Akt – geboren vielleicht aus einem Hang zu einem vermeintlich Guten, der eben jene Asymmetrie unterstreicht, die es zu widerlegen galt. KONRAD PAUL LIESSMANN
STEFFEN STROHMENGER: Sachfragen und Glücksfragen. Von der Asymmetrie zur Re-Symmetrisierung ihrer Wahrheitsfähigkeit. Wilhelm Fink, München 2006. 159 Seiten, 22,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Konrad Paul Liessmann hat mit Spannung Steffen Strohmengers Versuch verfolgt, das Ungleichgewicht zwischen der "Wahrheitsfähigkeit" von "Sachfragen und "Glücksfragen" aufzuheben, und ist am Ende doch ziemlich enttäuscht von der angebotenen Lösung des Problems. Der Autor hinterfrage grundsätzlich dieses Ungleichgewicht, das er in einem Schlüsseltext von David Hume aus dem Jahr 1741 begründet sieht, und mühe sich in seiner philosophischen Dissertation, die Symmetrie wiederherzustellen, erklärt der Rezensent. Es sieht sich in seiner vom Text geweckten Erwartung, Strohmenger werde die Wahrheitsfähigkeit von Glücksfragen irgendwie wieder installieren können, schwer getäuscht, denn die Lösung, die der Autor anbietet, liegt darin, dass er nun auch den Sachfragen die Wahrheitsfähigkeit abspricht. Dieser Kniff allerdings scheint Liessmann dann doch etwas gezwungen und so ist er mit dem durchaus anregenden Buch am Ende unzufrieden.
© Perlentaucher Medien GmbH
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