Wie konnten Menschen tun, was sie ihresgleichen in den ungeheuren Gewaltgeschichten der Moderne angetan haben? Iris Därmann findet eine Antwort in der zentralen Rolle einer historisch neuen Gewaltlust. In der transatlantischen Versklavung verband sich diese Lust an der Gewalt unauflöslich mit der Folter der Auspeitschung. Der Marquis de Sade war über die Zustände in den französischen Kolonien nicht nur gut unterrichtet, er hat die koloniale Gewaltlust auch literarisch sichtbar gemacht und in pornografische Praktiken verwandelt, die auf die Aufhebung der Sklaverei zielten. In Därmanns Analyse kommt Sade daher eine Schlüsselstellung zu: Sadismus ist in dieser Perspektive eine organisierte Gewaltpraxis, ein pornografisches Genre und ein kolonialrassistischer Gebrauch der Lüste. Gegen den verharmlosenden Versuch der Sexualwissenschaften des späten 19. Jahrhunderts, »Sadismus« auf die »Perversion« von Einzeltätern zu reduzieren, untersucht Därmann augenöffnend das gezielte Wiederaufgreifen der Peitschenfolter bei der Kolonisierung Afrikas und der Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden; sie gibt dabei insbesondere jenen Raum, die der sadistischen Gewalt ausgesetzt waren, sie hellsichtig diagnostiziert und sich ihr widersetzt haben. Seit den 1930er-Jahren wurde Sadismus so auch zu einer kritischen Kategorie: Aimé Césaire, Frantz Fanon, Jean Améry, Georges Bataille und Pierre Klossowski fanden zurück zu Sades radikalpolitischem Projekt und stellten sich ihm zugleich bei der Suche nach einem anderen Begehren entgegen, das den menschlichen Körper nicht zur sadistischen Beute macht.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Im Ganzen für ergiebig hält Rezensent Maximilian Gillessen Iris Därmanns Buch über das historische Erbe des Sadismus, im Detail übt er jedoch auch Kritik. Die Autorin will aufzeigen, erfahren wir, dass Sadismus keine bloß individuelle Pathologie ist, sondern eine gesellschaftliche Dimension hat. Diese offenbart sich, referiert Gillessen weiter, insbesondere in den europäischen Kolonialregimes, die in zeitgenössischer Reiseliteratur mithilfe empathieloser gewaltpornografischer Exzesse verharmlost wurden. Nicht ganz überzeugt ist der Rezensent von Gillessens These, dass die Schriften des Marquis de Sade demgegenüber als politische Kritik zu lesen seien, weil bei ihm anstatt schwarzer weiße Körper der sadistischen Gewalt ausgesetzt werden. Weiterhin geht es, heißt es weiter, um das Motiv der Peitsche und die Frage, inwieweit die Shoah ebenfalls von sadistischen Psychodynamiken her zu verstehen ist. An dieser Stelle fragt sich Gillessen, wie Därmann zur Frage nach einer möglichen Kontinuität von Kolonialismus und der Shoah steht, kommt aber zu keinem eindeutigen Ergebnis. Auch inwieweit die skizzierte Geschichte des gesellschaftlichen Sadismus in die Gegenwart oder auch Vergangenheit fortsetzbar ist, bleibt laut Gillessen offen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.09.2023Die Nähe der Gefolterten
Die Kulturwissenschaftlerin Iris Därmann erzählt in eindrucksvollen Episoden die historische Rolle des Sadismus für den Kolonialismus nach
Die Schriften des Marquis de Sade sind, dem spektakulären Ruf ihres Verfassers zum Trotz, keine anregende Lektüre. „Lassen Sie alsdann Ihrer Einbildungskraft freien Lauf“, empfiehlt eine seiner Romanheldinnen einer Gefährtin, „auf dass sie Ihnen stufenweise die verschiedenartigsten Ausschweifungen vorführe; spielen Sie sie in allen Einzelheiten durch; lassen Sie sie nacheinander Revue passieren; stellen Sie sich vor, dass die ganze Welt Ihnen gehört, dass Sie jedes beliebige Wesen verwandeln, verstümmeln, vernichten und flachwalzen dürfen“. Gewiss, hier ist von sexualisierter Gewalt die Rede, und sie soll offenbar bis ins letzte Extrem gehen.
Aber Juliette bleibt mit ihrer Einbildungskraft allein: Der Exzess ist eine bürokratische Fantasie. Dahinter waltet, wie Horkheimer und Adorno 1944 in der „Dialektik der Aufklärung“ darlegten, das Prinzip eines von aller Moral befreiten Eigennutzes, der sein „logisches Subjekt“ in der Figur des „Sklavenhalters, freien Unternehmers, Administrators“ finden soll. In der Sprache des Marquis de Sade wird offenbar, wieviel Verwaltung und Wissenschaft in einem Motiv steckt, das man missversteht, wenn man es lediglich für eine Spielart der Sexualität hält.
Die Berliner Kulturwissenschaftlerin Iris Därmann, deren große Studie zur „Undienlichkeit“ sich 2020 mit Formen des Widerstands gegen physische und politische Gewalt beschäftigte, schreibt zu Beginn ihres Buches „Sadismus mit und ohne Sade“, Sadismus sei eine „organisierte Gewaltpraxis, ein pornografisches Genre und eine Möglichkeit im Gebrauch der Lüste“. Erfunden worden sei die Gewaltlust in den „Gewalträumen des slaving“, also im Zuge einer Sklavenwirtschaft, die eine afrikanische Bevölkerung mit europäischen oder amerikanischen Händlern und Nutzern verband. Immer schon, erklärt die Autorin, sei diese Art der Sklaverei über die Verfolgung ökonomischer Absichten hinausgewesen. Immer schon sei sie mit sexuellen Interessen verbunden gewesen. Von vornherein sei dabei die Peitsche das Werkzeug gewesen, das die radikale Unterwerfung eines anderen Menschen mit den Angelegenheiten des Trieblebens verband.
Der Geschichte eines Sadismus, wie es ihn ohne Kolonialismus nicht gäbe, sind die meisten der 18 kurzen Kapitel des Buches gewidmet. Eine systematische Herleitung des Sadismus, wie sie Horkheimer und Adorno versuchten, ist von diesem Werk daher kaum zu erwarten. Um so größer ist die Bedeutung, die der Schilderung einzelner Episoden zukommt: „Nur durch eine Auseinandersetzung, die sich in der Nähe der Gefolterten aufhält und nicht einseitig am Ort der Täter, kann die Verdrängung und Wiederkehr kolonialer Gewaltlust erschüttert werden.“ Der Wille zu Nähe, und das bedeutet: Anschaulichkeit, ist dem Aktivismus einer Wissenschaft geschuldet, die die Welt erschüttern und doch auch ein wenig besser machen soll. Vor Voyeuren lässt er sich kaum schützen. Das weiß die Autorin und bedenkt es.
In welchem Maß der Kolonialismus den Sadismus befeuert, daran lassen die von Iris Därmann dargestellten Episoden keinen Zweifel. Der Marquis de Sade war ein aufmerksamer Leser von Nachrichten aus den Kolonien (und kam dabei auch auf die fantastische Idee, das Verhältnis umzukehren, so dass Weiße von schwarzen Menschen gequält wurden). Der niederländische Soldat John Gabriel Steadman veröffentlichte um 1800 einen Augenzeugenbericht über die Niederschlagung eines Aufstands in Suriname, in dem sich zum ersten Mal Pornografie mit Berichten über Folter und Sklaverei verbanden. Zwar wurde die Sklaverei dann in einem Staat nach dem anderen aufgehoben, im Jahr 1865 auch in den Vereinigten Staaten – wodurch aber der Rassismus ebenso wenig gemindert wurde wie der Sadismus. Ausführlich schildert Därmann die Gewaltpraktiken, mit denen deutsche Kolonialisten in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts ihre Herrschaft in den „Schutzgebieten“ in Afrika durchsetzten: „In den Kolonien führen Despotismus und Libertinismus das Regiment“, erklärte damals der Schriftsteller Franz Giesebrecht in einer Studie, die den Namen „Kolonialgreuel“ trug.
Aus den Kolonien kommend, so Därmann, habe sich die „Gewaltlust“ danach auch in den vermeintlich zivilisierten Nationen verbreitet, in Zucht- und Arbeitshäusern etwa, in Schulen und auch Familien. Die Autorin widerspricht der Auffassung Michel Foucaults, der dem kolonialen Sadismus den „Besitz des Körpers“ zuordnete, auf den man in den europäischen Zucht- und Strafanstalten verzichtet habe, nicht zuletzt aus ökonomischen Gründen. Die Autorin will bei der Anwendung von Körperstrafen keine wesentlichen Unterschiede erkennen, zu Recht. Indessen sei der Sadismus entpolitisiert worden, wodurch er einerseits Gegenstand der Sexual- und Kriminalwissenschaft, andererseits ein Objekt der Pathologisierung und Literarisierung habe werden können. Dem Verständnis des Sadismus sei die damit verbundene „Verschiebung“ in eine Sphäre der Perversion allerdings nicht zuträglich gewesen. Auf extreme Weise wiedergekehrt sei der „koloniale Sadismus“ dann in den Lagern der Nationalsozialisten, wofür Iris Därmann einen Zeugen in Jean Améry findet: „Die Folter war keine Erfindung des deutschen Nationalsozialismus. Aber sie war seine Apotheose.“
Alle diese Geschichten führen auf denselben Grund: Der Sadismus ist erst dann vollkommen bei sich selbst, wenn das Opfer aufhört, an seinem Willen, ja an seinem Leben festhalten zu wollen. Alles was es ist, ist es dem Anderen, seinem Peiniger. Solange es sich noch wehrt, solange es noch schreit und sich windet, ist noch Eigensinn und Widerstand in ihm. So erklärt sich die unheimliche Systematik, mit der ein Sadist zu Werke geht. So erklärt sich aber auch die Willkür, mit der er sich für dieses oder jenes Folterinstrument, für die Peinigung dieses oder jenes Körperteils entscheidet. Dem Sadisten ist das einerlei: Er will sein Opfer zum letzten Aufgeben bringen. In der gedanklichen Mitte des Sadismus herrscht daher die absolute Differenz: Sie trennt den Täter vom Opfer, bis auf den Grund ihrer jeweiligen Existenz, und der Sadist genießt diese Differenz. Deswegen ist die Verbindung zwischen Sadismus und Kolonialismus so einleuchtend: Der absolute Unterschied zwischen Herrenvolk und Untermenschen muss geschaffen werden, und die Peitsche ist zu diesem Zweck das Mittel der Wahl.
Fraglich ist, ob der Sadismus nicht ein viel allgemeineres Phänomen ist, als die Bindung an den Kolonialismus nahelegt – sowohl historisch als auch kulturell. Därmann unterscheidet zwischen Grausamkeit und Sadismus. Aber wie klar ist diese Unterscheidung, und wozu gibt es sie?
Grausam ist Dantes Hölle, wo der Teufel mit einer Peitsche herumläuft. Geißelungen waren im Römischen Reich ein übliches Mittel der Strafverfolgung, wobei die Riemen an ihren Enden oft mit Bleigewichten oder spitzen Gegenständen versehen waren. Auf zahllosen mittelalterlichen Darstellungen der Hölle werden Menschen gebraten, gesotten, zerlegt und in jeder nur denkbaren Form gequält. Im England des 16. Jahrhunderts wurden Vagabunden ausgepeitscht. Zielen solche Grausamkeiten aber nicht auch auf die Zerstörung eines fremden Willens? Waren sie nicht oft sexualisiert? Und ist diese Gewalt nicht entsetzlich gegenwärtig? Reicht es nicht aus, ein Boulevardblatt oder die vermischten Seiten in einer Tageszeitung aufzuschlagen, um zu wissen, dass der Sadismus etwas Alltägliches darstellt, auch in seinen schlimmsten Varianten? Für die Verbindung von Sadismus und Kolonialismus gibt es offensichtlich politische Gründe, und es spricht einiges dafür, in der „rassistischen Gewaltlust“ deren schärfste Variante zu erkennen. Man legt das Buch aber nicht aus der Hand ohne den Gedanken, dass da noch etwas kommen muss: zumindest eine systematische Theorie der Gewalt, mehr aber noch eine Auseinandersetzung mit dem Bösen.
THOMAS STEINFELD
Der Sadist will sein Opfer
zum letzten Aufgeben
bringen
Iris Därmann lehrt Kulturtheorie an der Humboldt-Universität.
Foto: privat
Iris Därmann: Sadismus mit und ohne Sade.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2023. 350 Seiten,
32 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Die Kulturwissenschaftlerin Iris Därmann erzählt in eindrucksvollen Episoden die historische Rolle des Sadismus für den Kolonialismus nach
Die Schriften des Marquis de Sade sind, dem spektakulären Ruf ihres Verfassers zum Trotz, keine anregende Lektüre. „Lassen Sie alsdann Ihrer Einbildungskraft freien Lauf“, empfiehlt eine seiner Romanheldinnen einer Gefährtin, „auf dass sie Ihnen stufenweise die verschiedenartigsten Ausschweifungen vorführe; spielen Sie sie in allen Einzelheiten durch; lassen Sie sie nacheinander Revue passieren; stellen Sie sich vor, dass die ganze Welt Ihnen gehört, dass Sie jedes beliebige Wesen verwandeln, verstümmeln, vernichten und flachwalzen dürfen“. Gewiss, hier ist von sexualisierter Gewalt die Rede, und sie soll offenbar bis ins letzte Extrem gehen.
Aber Juliette bleibt mit ihrer Einbildungskraft allein: Der Exzess ist eine bürokratische Fantasie. Dahinter waltet, wie Horkheimer und Adorno 1944 in der „Dialektik der Aufklärung“ darlegten, das Prinzip eines von aller Moral befreiten Eigennutzes, der sein „logisches Subjekt“ in der Figur des „Sklavenhalters, freien Unternehmers, Administrators“ finden soll. In der Sprache des Marquis de Sade wird offenbar, wieviel Verwaltung und Wissenschaft in einem Motiv steckt, das man missversteht, wenn man es lediglich für eine Spielart der Sexualität hält.
Die Berliner Kulturwissenschaftlerin Iris Därmann, deren große Studie zur „Undienlichkeit“ sich 2020 mit Formen des Widerstands gegen physische und politische Gewalt beschäftigte, schreibt zu Beginn ihres Buches „Sadismus mit und ohne Sade“, Sadismus sei eine „organisierte Gewaltpraxis, ein pornografisches Genre und eine Möglichkeit im Gebrauch der Lüste“. Erfunden worden sei die Gewaltlust in den „Gewalträumen des slaving“, also im Zuge einer Sklavenwirtschaft, die eine afrikanische Bevölkerung mit europäischen oder amerikanischen Händlern und Nutzern verband. Immer schon, erklärt die Autorin, sei diese Art der Sklaverei über die Verfolgung ökonomischer Absichten hinausgewesen. Immer schon sei sie mit sexuellen Interessen verbunden gewesen. Von vornherein sei dabei die Peitsche das Werkzeug gewesen, das die radikale Unterwerfung eines anderen Menschen mit den Angelegenheiten des Trieblebens verband.
Der Geschichte eines Sadismus, wie es ihn ohne Kolonialismus nicht gäbe, sind die meisten der 18 kurzen Kapitel des Buches gewidmet. Eine systematische Herleitung des Sadismus, wie sie Horkheimer und Adorno versuchten, ist von diesem Werk daher kaum zu erwarten. Um so größer ist die Bedeutung, die der Schilderung einzelner Episoden zukommt: „Nur durch eine Auseinandersetzung, die sich in der Nähe der Gefolterten aufhält und nicht einseitig am Ort der Täter, kann die Verdrängung und Wiederkehr kolonialer Gewaltlust erschüttert werden.“ Der Wille zu Nähe, und das bedeutet: Anschaulichkeit, ist dem Aktivismus einer Wissenschaft geschuldet, die die Welt erschüttern und doch auch ein wenig besser machen soll. Vor Voyeuren lässt er sich kaum schützen. Das weiß die Autorin und bedenkt es.
In welchem Maß der Kolonialismus den Sadismus befeuert, daran lassen die von Iris Därmann dargestellten Episoden keinen Zweifel. Der Marquis de Sade war ein aufmerksamer Leser von Nachrichten aus den Kolonien (und kam dabei auch auf die fantastische Idee, das Verhältnis umzukehren, so dass Weiße von schwarzen Menschen gequält wurden). Der niederländische Soldat John Gabriel Steadman veröffentlichte um 1800 einen Augenzeugenbericht über die Niederschlagung eines Aufstands in Suriname, in dem sich zum ersten Mal Pornografie mit Berichten über Folter und Sklaverei verbanden. Zwar wurde die Sklaverei dann in einem Staat nach dem anderen aufgehoben, im Jahr 1865 auch in den Vereinigten Staaten – wodurch aber der Rassismus ebenso wenig gemindert wurde wie der Sadismus. Ausführlich schildert Därmann die Gewaltpraktiken, mit denen deutsche Kolonialisten in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts ihre Herrschaft in den „Schutzgebieten“ in Afrika durchsetzten: „In den Kolonien führen Despotismus und Libertinismus das Regiment“, erklärte damals der Schriftsteller Franz Giesebrecht in einer Studie, die den Namen „Kolonialgreuel“ trug.
Aus den Kolonien kommend, so Därmann, habe sich die „Gewaltlust“ danach auch in den vermeintlich zivilisierten Nationen verbreitet, in Zucht- und Arbeitshäusern etwa, in Schulen und auch Familien. Die Autorin widerspricht der Auffassung Michel Foucaults, der dem kolonialen Sadismus den „Besitz des Körpers“ zuordnete, auf den man in den europäischen Zucht- und Strafanstalten verzichtet habe, nicht zuletzt aus ökonomischen Gründen. Die Autorin will bei der Anwendung von Körperstrafen keine wesentlichen Unterschiede erkennen, zu Recht. Indessen sei der Sadismus entpolitisiert worden, wodurch er einerseits Gegenstand der Sexual- und Kriminalwissenschaft, andererseits ein Objekt der Pathologisierung und Literarisierung habe werden können. Dem Verständnis des Sadismus sei die damit verbundene „Verschiebung“ in eine Sphäre der Perversion allerdings nicht zuträglich gewesen. Auf extreme Weise wiedergekehrt sei der „koloniale Sadismus“ dann in den Lagern der Nationalsozialisten, wofür Iris Därmann einen Zeugen in Jean Améry findet: „Die Folter war keine Erfindung des deutschen Nationalsozialismus. Aber sie war seine Apotheose.“
Alle diese Geschichten führen auf denselben Grund: Der Sadismus ist erst dann vollkommen bei sich selbst, wenn das Opfer aufhört, an seinem Willen, ja an seinem Leben festhalten zu wollen. Alles was es ist, ist es dem Anderen, seinem Peiniger. Solange es sich noch wehrt, solange es noch schreit und sich windet, ist noch Eigensinn und Widerstand in ihm. So erklärt sich die unheimliche Systematik, mit der ein Sadist zu Werke geht. So erklärt sich aber auch die Willkür, mit der er sich für dieses oder jenes Folterinstrument, für die Peinigung dieses oder jenes Körperteils entscheidet. Dem Sadisten ist das einerlei: Er will sein Opfer zum letzten Aufgeben bringen. In der gedanklichen Mitte des Sadismus herrscht daher die absolute Differenz: Sie trennt den Täter vom Opfer, bis auf den Grund ihrer jeweiligen Existenz, und der Sadist genießt diese Differenz. Deswegen ist die Verbindung zwischen Sadismus und Kolonialismus so einleuchtend: Der absolute Unterschied zwischen Herrenvolk und Untermenschen muss geschaffen werden, und die Peitsche ist zu diesem Zweck das Mittel der Wahl.
Fraglich ist, ob der Sadismus nicht ein viel allgemeineres Phänomen ist, als die Bindung an den Kolonialismus nahelegt – sowohl historisch als auch kulturell. Därmann unterscheidet zwischen Grausamkeit und Sadismus. Aber wie klar ist diese Unterscheidung, und wozu gibt es sie?
Grausam ist Dantes Hölle, wo der Teufel mit einer Peitsche herumläuft. Geißelungen waren im Römischen Reich ein übliches Mittel der Strafverfolgung, wobei die Riemen an ihren Enden oft mit Bleigewichten oder spitzen Gegenständen versehen waren. Auf zahllosen mittelalterlichen Darstellungen der Hölle werden Menschen gebraten, gesotten, zerlegt und in jeder nur denkbaren Form gequält. Im England des 16. Jahrhunderts wurden Vagabunden ausgepeitscht. Zielen solche Grausamkeiten aber nicht auch auf die Zerstörung eines fremden Willens? Waren sie nicht oft sexualisiert? Und ist diese Gewalt nicht entsetzlich gegenwärtig? Reicht es nicht aus, ein Boulevardblatt oder die vermischten Seiten in einer Tageszeitung aufzuschlagen, um zu wissen, dass der Sadismus etwas Alltägliches darstellt, auch in seinen schlimmsten Varianten? Für die Verbindung von Sadismus und Kolonialismus gibt es offensichtlich politische Gründe, und es spricht einiges dafür, in der „rassistischen Gewaltlust“ deren schärfste Variante zu erkennen. Man legt das Buch aber nicht aus der Hand ohne den Gedanken, dass da noch etwas kommen muss: zumindest eine systematische Theorie der Gewalt, mehr aber noch eine Auseinandersetzung mit dem Bösen.
THOMAS STEINFELD
Der Sadist will sein Opfer
zum letzten Aufgeben
bringen
Iris Därmann lehrt Kulturtheorie an der Humboldt-Universität.
Foto: privat
Iris Därmann: Sadismus mit und ohne Sade.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2023. 350 Seiten,
32 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.10.2023Vergiss die Peitsche nicht
Von der transatlantischen Sklaverei bis zu den nationalsozialistischen Vernichtungslagern: Iris Därmann untersucht den Sadismus als organisierte Gewaltpraxis und erklärt, warum der Marquis de Sade ein bizarrer Abolitionist gewesen ist.
Schon früh ist der Name Donatien Alphonse François de Sade zu einem Synonym für die Lust am Leiden anderer geworden. Französische Wörterbücher verzeichnen den Gebrauch des Wortes "Sadismus" seit den 1840er Jahren, aber es war vor allem der deutsche Psychiater und Gerichtsmediziner Richard von Krafft-Ebing, der ihm in der 1891 erschienenen sechsten Auflage seiner "Psychopathia sexualis" zu fortdauernder Prominenz verhalf. Doch freilich nur um den Preis, den Sadismus auf ein individuelles Triebschicksal und das Werk Sades auf die Illustration eines klinischen Falls zu verkürzen. Die Sexualwissenschaft hatte den sadistischen Einzeltäter erfunden. Gegen diese Reduktion des Sadismus auf eine vermeintlich individuelle Pathologie wendet sich die neue Monographie von Iris Därmann.
In achtzehn lose verbundenen Kapiteln verfolgt die Berliner Kulturwissenschaftlerin zwei Argumentationslinien: Sadismus müsse zuerst als eine "organisierte Gewaltpraxis" begriffen werden, die in unterschiedlichen historischen Konstellationen wiederkehre und von der transatlantischen Sklaverei bis zu den nationalsozialistischen Vernichtungslagern reiche. Zugleich möchte Därmann das gängige, von der Sexualwissenschaft des neunzehnten Jahrhunderts geprägte Sade-Bild als eine symptomatische Entstellung entziffern: Weit davon entfernt, der Ausdruck einer individuellen Perversion zu sein, verweisen Sades literarische Phantasien auf die reale Institution der Sklaverei, die eine "neue, koloniale Gewaltlust" hervorgebracht habe.
Wie eng Sklaverei, Kolonialismus, "Plantagenpornographie" und sadesche Imagination miteinander verflochten sind, zeigt Därmann am Beispiel von John Gabriel Stedmans 1796 erschienenem "Narrative of a Five Years Expedition", dem Reisebericht eines an der Niederschlagung des Sklavenaufstandes in Suriname beteiligten schottisch-niederländischen Söldners, der ein sentimental gefärbtes, aber drastisches Bild der in der Kolonie herrschenden Zustände zeichnet. Verstümmelungen und Hinrichtungen drohten nicht nur den revoltierenden Sklaven, vielmehr wurden selbst geringste Vergehen mit maßlosen Strafen geahndet.
Stedmans Bericht schärfte in Europa das Bewusstsein für die unmenschliche Behandlung der Sklaven. Doch indem er die hemmungslose Gewalt gegen die entblößten schwarzen Körper mit "folgenloser Empathie" schilderte, erlaubte er es seinen Lesern zugleich, sich lustvoll in die voyeuristische Rolle der Zuschauer der öffentlich exekutierten Strafen zu versetzen. So lieferten die "Gewalträume" des Kolonialismus alle Zutaten für das Genre sadistischer Pornographie.
Diese Analysen hat Därmann bereits in früheren Arbeiten entwickelt. Auch die überraschende Einsicht, dass sich der Illustrator der Werke Sades - möglicherweise sein ältester Sohn Louis-Marie - an den von William Blake und anderen Künstlern angefertigten Kupferstichen für Stedmans "Narrative" orientiert hat. Was aber macht Sades endlose Kombinatorik der Unterwerfung zu einer "der wohl eindringlichsten literarischen Formen politischer Kritik"? Die verfremdende Inversion der Rollen. An die Stelle der schwarzen Sklaven - zumeist Frauen -, die bei Stedman dem despotischen Begehren weißer Gewalttäter ausgesetzt sind, rücken bei Sade ausnahmslos weiße Opfer. Das von ihm kreierte "Körpergenre", so Därmanns nicht ganz überzeugende These, soll seine Leser in "koloniale Mittäter und Mitgenießende" verwandeln. Hatten aber nicht schon die Traktate der Anti-Sklaverei-Bewegung unter der Maske der Empörung die Straf- und Schaulust ihrer Leser befriedigt?
Jedenfalls trat Sade, woran Därmann erinnert, als entschiedener Gegner der Sklaverei auf, so wie er sich auch weigerte, als Revolutionsrichter die während der Terreur üblichen Todesstrafen zu verhängen. Afrikanische Protagonisten erscheinen in seinen Büchern stets in der Rolle des Libertins. Als Verfechter eines absoluten Egoismus plädiert Sade für eine radikale Gleichheit zwischen den Menschen. Sein oft zitiertes Pamphlet "Franzosen, noch eine Anstrengung, wenn ihr Republikaner sein wollt" fordert gar den - zeitlich begrenzten - Besitz eines jeden durch jeden, eine "punktuelle Versklavung" also, die das Gewaltregime der kolonialen Sklaverei aufhebt, gerade indem sie es universalisiert. So erweist sich Sade als ein "bizarrer Abolitionist".
Der Peitsche, Insigne der Sklaverei und des Sadismus, hat Iris Därmann minutiös recherchierte Kapitel gewidmet, die durchweg mit Gewinn zu lesen sind. Gegen Foucaults These einer modernen, gleichsam körperlosen Disziplinarmacht zeigt sie, welche zentrale Rolle physische Gewalt - sei es in Fabrik, Kaserne oder Zuchthaus - bei der Abrichtung widerspenstiger Individuen spielte. Vor allem in der Schule waren Prügelstrafen mit Stock oder Peitsche bis weit in das zwanzigste Jahrhundert hinein ein festes, vom Züchtigungsrecht legitimiertes Erziehungsmittel. Und in Frankreich bestand das elterliche "Recht auf Korrektur" mittels Ohrfeige oder Schlag auf das nackte Gesäß noch bis 2019.
Drakonische, allein nach dem Ermessen der Kolonialbeamten verhängte Auspeitschungen gehörten zur selben Zeit in den "Schutzgebieten" des Deutschen Reiches zu den alltäglichen Strafmaßnahmen. Das sogenannte Fehlverhalten einzelner Beamter provozierte in den 1890er Jahren immer wieder öffentliche Skandale. Als einen Auslöser der "antisadistischen Kriege" der Herero und Nama gegen die deutsche Siedlergesellschaft und Militärmacht nennt Därmann neben der Peitschengewalt die zahlreich dokumentierten Vergewaltigungen einheimischer Frauen.
Das Siegel des Nationalsozialismus, so zitiert Därmann Jean Améry, der von SS-Leuten in der belgischen Festung Breendonk gefoltert wurde, ist kein "schwer zu fassender Totalitarismus" gewesen, sondern der Sadismus. Tatsächlich gehörten Schlagstock und Peitsche "zur regulären Ausstattung" der SS-Mitglieder. Öffentliche Peitschenstrafen wurden ebenso in den Ghettos wie in den Arbeits- und Vernichtungslagern exekutiert. Eine durch "permissive Gesetze" beförderte sadistische Gewaltlust, das belegen alle Zeugnisse von Überlebenden der Schoa, die Därmann anführt, war keine Ausnahme, sondern eine wesentliche libidinöse Ressource der Vernichtungspolitik.
Wie ist dieser Parcours durch unterschiedliche Gewaltregime angesichts postkolonialer Debatten über die Zusammenhänge von Kolonialismus und Judenmord zu lesen? Zustimmend beruft sich Därmann auf Aimé Césaires berühmtes Diktum, das Unverzeihliche der nationalsozialistischen Verbrechen sei die Anwendung kolonialistischer Methoden auf europäischem Boden gewesen. Jedoch möchte sie damit weder einen kausalen Nexus noch eine bruchlose Kontinuität geltend machen. Lieber spricht sie in einem psychoanalytischen Vokabular von einer "durch die Arbeit der Verdrängung entstellten 'Wiederkehr' des kolonialen Sadismus" oder einer "Reaktivierung" kolonialer Gewalt in den Konzentrationslagern.
Über welche konkreten - materiellen, diskursiven, institutionellen - Wege sich eine solche Reaktivierung vollzogen hat, lässt sie allerdings offen. So auch die Frage, worin genau das spezifisch Neue der mit der transatlantischen Sklaverei verbundenen Gewaltlust besteht. Prägte sie bereits die von Därmann auf nur wenigen Seiten behandelte Antike? Setzt sie sich in der Gegenwart fort? So unscharf der ausgehend von Sade entwickelte Begriff bleibt, so eindrucksvoll sind die historischen Parallelen, die Iris Därmann an seinem Leitfaden in ihrem überaus material-, aber auch voraussetzungsreichen Buch entwickelt. MAXIMILIAN GILLESSEN
Iris Därmann: "Sadismus mit und ohne Sade".
Matthes & Seitz, Berlin 2023. 350 S., geb., 32,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Von der transatlantischen Sklaverei bis zu den nationalsozialistischen Vernichtungslagern: Iris Därmann untersucht den Sadismus als organisierte Gewaltpraxis und erklärt, warum der Marquis de Sade ein bizarrer Abolitionist gewesen ist.
Schon früh ist der Name Donatien Alphonse François de Sade zu einem Synonym für die Lust am Leiden anderer geworden. Französische Wörterbücher verzeichnen den Gebrauch des Wortes "Sadismus" seit den 1840er Jahren, aber es war vor allem der deutsche Psychiater und Gerichtsmediziner Richard von Krafft-Ebing, der ihm in der 1891 erschienenen sechsten Auflage seiner "Psychopathia sexualis" zu fortdauernder Prominenz verhalf. Doch freilich nur um den Preis, den Sadismus auf ein individuelles Triebschicksal und das Werk Sades auf die Illustration eines klinischen Falls zu verkürzen. Die Sexualwissenschaft hatte den sadistischen Einzeltäter erfunden. Gegen diese Reduktion des Sadismus auf eine vermeintlich individuelle Pathologie wendet sich die neue Monographie von Iris Därmann.
In achtzehn lose verbundenen Kapiteln verfolgt die Berliner Kulturwissenschaftlerin zwei Argumentationslinien: Sadismus müsse zuerst als eine "organisierte Gewaltpraxis" begriffen werden, die in unterschiedlichen historischen Konstellationen wiederkehre und von der transatlantischen Sklaverei bis zu den nationalsozialistischen Vernichtungslagern reiche. Zugleich möchte Därmann das gängige, von der Sexualwissenschaft des neunzehnten Jahrhunderts geprägte Sade-Bild als eine symptomatische Entstellung entziffern: Weit davon entfernt, der Ausdruck einer individuellen Perversion zu sein, verweisen Sades literarische Phantasien auf die reale Institution der Sklaverei, die eine "neue, koloniale Gewaltlust" hervorgebracht habe.
Wie eng Sklaverei, Kolonialismus, "Plantagenpornographie" und sadesche Imagination miteinander verflochten sind, zeigt Därmann am Beispiel von John Gabriel Stedmans 1796 erschienenem "Narrative of a Five Years Expedition", dem Reisebericht eines an der Niederschlagung des Sklavenaufstandes in Suriname beteiligten schottisch-niederländischen Söldners, der ein sentimental gefärbtes, aber drastisches Bild der in der Kolonie herrschenden Zustände zeichnet. Verstümmelungen und Hinrichtungen drohten nicht nur den revoltierenden Sklaven, vielmehr wurden selbst geringste Vergehen mit maßlosen Strafen geahndet.
Stedmans Bericht schärfte in Europa das Bewusstsein für die unmenschliche Behandlung der Sklaven. Doch indem er die hemmungslose Gewalt gegen die entblößten schwarzen Körper mit "folgenloser Empathie" schilderte, erlaubte er es seinen Lesern zugleich, sich lustvoll in die voyeuristische Rolle der Zuschauer der öffentlich exekutierten Strafen zu versetzen. So lieferten die "Gewalträume" des Kolonialismus alle Zutaten für das Genre sadistischer Pornographie.
Diese Analysen hat Därmann bereits in früheren Arbeiten entwickelt. Auch die überraschende Einsicht, dass sich der Illustrator der Werke Sades - möglicherweise sein ältester Sohn Louis-Marie - an den von William Blake und anderen Künstlern angefertigten Kupferstichen für Stedmans "Narrative" orientiert hat. Was aber macht Sades endlose Kombinatorik der Unterwerfung zu einer "der wohl eindringlichsten literarischen Formen politischer Kritik"? Die verfremdende Inversion der Rollen. An die Stelle der schwarzen Sklaven - zumeist Frauen -, die bei Stedman dem despotischen Begehren weißer Gewalttäter ausgesetzt sind, rücken bei Sade ausnahmslos weiße Opfer. Das von ihm kreierte "Körpergenre", so Därmanns nicht ganz überzeugende These, soll seine Leser in "koloniale Mittäter und Mitgenießende" verwandeln. Hatten aber nicht schon die Traktate der Anti-Sklaverei-Bewegung unter der Maske der Empörung die Straf- und Schaulust ihrer Leser befriedigt?
Jedenfalls trat Sade, woran Därmann erinnert, als entschiedener Gegner der Sklaverei auf, so wie er sich auch weigerte, als Revolutionsrichter die während der Terreur üblichen Todesstrafen zu verhängen. Afrikanische Protagonisten erscheinen in seinen Büchern stets in der Rolle des Libertins. Als Verfechter eines absoluten Egoismus plädiert Sade für eine radikale Gleichheit zwischen den Menschen. Sein oft zitiertes Pamphlet "Franzosen, noch eine Anstrengung, wenn ihr Republikaner sein wollt" fordert gar den - zeitlich begrenzten - Besitz eines jeden durch jeden, eine "punktuelle Versklavung" also, die das Gewaltregime der kolonialen Sklaverei aufhebt, gerade indem sie es universalisiert. So erweist sich Sade als ein "bizarrer Abolitionist".
Der Peitsche, Insigne der Sklaverei und des Sadismus, hat Iris Därmann minutiös recherchierte Kapitel gewidmet, die durchweg mit Gewinn zu lesen sind. Gegen Foucaults These einer modernen, gleichsam körperlosen Disziplinarmacht zeigt sie, welche zentrale Rolle physische Gewalt - sei es in Fabrik, Kaserne oder Zuchthaus - bei der Abrichtung widerspenstiger Individuen spielte. Vor allem in der Schule waren Prügelstrafen mit Stock oder Peitsche bis weit in das zwanzigste Jahrhundert hinein ein festes, vom Züchtigungsrecht legitimiertes Erziehungsmittel. Und in Frankreich bestand das elterliche "Recht auf Korrektur" mittels Ohrfeige oder Schlag auf das nackte Gesäß noch bis 2019.
Drakonische, allein nach dem Ermessen der Kolonialbeamten verhängte Auspeitschungen gehörten zur selben Zeit in den "Schutzgebieten" des Deutschen Reiches zu den alltäglichen Strafmaßnahmen. Das sogenannte Fehlverhalten einzelner Beamter provozierte in den 1890er Jahren immer wieder öffentliche Skandale. Als einen Auslöser der "antisadistischen Kriege" der Herero und Nama gegen die deutsche Siedlergesellschaft und Militärmacht nennt Därmann neben der Peitschengewalt die zahlreich dokumentierten Vergewaltigungen einheimischer Frauen.
Das Siegel des Nationalsozialismus, so zitiert Därmann Jean Améry, der von SS-Leuten in der belgischen Festung Breendonk gefoltert wurde, ist kein "schwer zu fassender Totalitarismus" gewesen, sondern der Sadismus. Tatsächlich gehörten Schlagstock und Peitsche "zur regulären Ausstattung" der SS-Mitglieder. Öffentliche Peitschenstrafen wurden ebenso in den Ghettos wie in den Arbeits- und Vernichtungslagern exekutiert. Eine durch "permissive Gesetze" beförderte sadistische Gewaltlust, das belegen alle Zeugnisse von Überlebenden der Schoa, die Därmann anführt, war keine Ausnahme, sondern eine wesentliche libidinöse Ressource der Vernichtungspolitik.
Wie ist dieser Parcours durch unterschiedliche Gewaltregime angesichts postkolonialer Debatten über die Zusammenhänge von Kolonialismus und Judenmord zu lesen? Zustimmend beruft sich Därmann auf Aimé Césaires berühmtes Diktum, das Unverzeihliche der nationalsozialistischen Verbrechen sei die Anwendung kolonialistischer Methoden auf europäischem Boden gewesen. Jedoch möchte sie damit weder einen kausalen Nexus noch eine bruchlose Kontinuität geltend machen. Lieber spricht sie in einem psychoanalytischen Vokabular von einer "durch die Arbeit der Verdrängung entstellten 'Wiederkehr' des kolonialen Sadismus" oder einer "Reaktivierung" kolonialer Gewalt in den Konzentrationslagern.
Über welche konkreten - materiellen, diskursiven, institutionellen - Wege sich eine solche Reaktivierung vollzogen hat, lässt sie allerdings offen. So auch die Frage, worin genau das spezifisch Neue der mit der transatlantischen Sklaverei verbundenen Gewaltlust besteht. Prägte sie bereits die von Därmann auf nur wenigen Seiten behandelte Antike? Setzt sie sich in der Gegenwart fort? So unscharf der ausgehend von Sade entwickelte Begriff bleibt, so eindrucksvoll sind die historischen Parallelen, die Iris Därmann an seinem Leitfaden in ihrem überaus material-, aber auch voraussetzungsreichen Buch entwickelt. MAXIMILIAN GILLESSEN
Iris Därmann: "Sadismus mit und ohne Sade".
Matthes & Seitz, Berlin 2023. 350 S., geb., 32,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main