Sarah Kirsch zählt zu den bedeutendsten deutschsprachigen Dichterinnen des 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts. Seit sie in den sechziger Jahren mit Gedichten hervorgetreten ist, gilt ihr die Aufmerksamkeit von Lesern und Kritik. Marcel Reich-Ranicki etwa pries sie als der "Droste jüngere Schwester".
Diese schön gestaltete und preiswerte Ausgabe "Sämtlicher Gedichte" lädt zum Wiederlesen und zur Neuentdeckung ein: Vom gefeierten "Sarah-Sound" (Peter Hacks) der frühen Lyrik bis hin zu den jüngsten "Zeitansagen aus dem Norden, wunderbaren Meditationen über Dauer und Vergehen" (NZZ).
In Sarah Kirschs Lyrik ereignet sich etwas heute so Rares und Kostbares: Es spricht eine Dichterin, keine Angestellte des deutschen Literaturbetriebs. Ein Glückwunsch an die Leser!
Diese schön gestaltete und preiswerte Ausgabe "Sämtlicher Gedichte" lädt zum Wiederlesen und zur Neuentdeckung ein: Vom gefeierten "Sarah-Sound" (Peter Hacks) der frühen Lyrik bis hin zu den jüngsten "Zeitansagen aus dem Norden, wunderbaren Meditationen über Dauer und Vergehen" (NZZ).
In Sarah Kirschs Lyrik ereignet sich etwas heute so Rares und Kostbares: Es spricht eine Dichterin, keine Angestellte des deutschen Literaturbetriebs. Ein Glückwunsch an die Leser!
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.04.2005Tiger im Regen
Poetische Prankenschläge: Sarah Kirschs "Sämtliche Gedichte"
Selten hat man ein so heiteres Titelbild gesehen: leuchtende Farbflecken, die man als Blumen nehmen kann, als Pflanzlich-Blühendes jedenfalls, von kleinen Spritzern übersät, wie sie ein rasch geführter Aquarellpinsel hinterläßt. Es ist der Pinsel der Dichterin, die in einem frühen Gedicht bekennt, ich "lernte Geduld als ich klein war / bei Wasserfarben". Hier nun regiert der reine Übermut, die ungebremste Farbenlust.
"Glücksblättchen" heißt das dekorative Malwerk, das Sarah Kirschs "Sämtliche Gedichte" ziert, die aus Anlaß ihres siebzigsten Geburtstags am morgigen Samstag erschienen sind. Es ist der Talisman für eine volkstümliche Leseausgabe, die ihre zehn Einzelbände zusammenfaßt. Anders als die fünfbändige Werkausgabe aus dem Jahr 2000 hat sie keinerlei editorischen Ehrgeiz. Sogar auf die Erscheinungsdaten der Einzelbände wird verzichtet - als wolle man signalisieren, ihre Poesie sei fern von Zeit und Geschichte.
Natürlich ist das Gegenteil der Fall. So frisch die Gedichte der Sarah Kirsch auch wirken, sie sind - mit einem Ausdruck Paul Celans - "ihrer Daten eingedenk". Die Lyrikbände von "Landaufenthalt" (1967) bis "Schwanenliebe" (2001) hängen mit deutscher Geschichte zusammen - die frühen direkt, die späteren immer noch unterschwellig. Einige ihrer schönsten Liebesgedichte behandeln die deutsch-deutsche Trennung als Romeo-und-Julia-Thema.
Ihre prägenden Jahre verbrachte Sarah Kirsch in der DDR. In Halle studierte sie Biologie, in Leipzig besuchte sie zwischen 1963 und 1965 das Literaturinstitut, die Ziehstätte der gesamten Sächsischen Dichterschule. Einige Zeit war sie mit dem Lyriker Rainer Kirsch verheiratet, mit ihm zusammen veröffentlichte sie auch ein Bändchen Lyrik. Dann aber folgte sie ihrem eigenen Traum und nahm das Schreiben selbst in die Hand.
Sarah Kirsch hat 1996, in ihrer Dankrede zum Büchner-Preis, die prägnanteste Formulierung für ihren dichterischen Traum gefunden. Sie sieht sich als poetische Landschafterin. Doch ihre Wortmalerei möchte nicht bloß schöne Wortbilder erzeugen, sie möchte selbst Natur sein: "Die Lettern, die Wörter sind Bäume und Landschaften nun. Den Gebilden, welche die Dichter erschaffen, wohnt deren eigene Körperlichkeit inne." Und dann fügt sie einen Satz hinzu, der Impuls und Resultat ihres Schreibens atemhaft in eins bringt: "Mein Herzschlag, die Ungeduld, atemlos bin ich, und alles ist auffindbar in meinen Spuren."
Dieser Herzschlag, diese schöne Ungeduld findet sich bereits 1967 in ihrem Debütband "Landaufenthalt". Er zeigt die Poetin, gleich Pallas Athene dem Haupt des Zeus entsprungen. Ihre Stimme hat sogleich ihren eigenen Ton. Man hat das - mit der Patronage männlichen Wohlwollens - den "Sarah-Sound" genannt. Ob ihr das gefallen hat? "Sound" verfehlt die Dezenz ihres Tons, verfehlt ihre Sprödigkeit gegen jede falsche Intimität, gegen jede Einvernahme. "Ich bin ein Tiger im Regen (Ich knurre: man tut was man kann)" - so selbstbewußt und aufsässig beginnt eines dieser frühen Gedichte, um noch einen kleinen Prankenschlag loszuwerden: "Ich meine es müßte hier / Noch andere Tiger geben." Gab es aber nicht.
Sarah Kirsch wußte früh um ihre Einzigartigkeit. Sie entzog sich nach Kräften allem, was sie für etwas einspannen wollte. Nicht zuletzt der Literaturbürokratie der DDR, die mit Zuckerbrot und Peitsche arbeitete. Sie hielt dagegen mit ihrem "einfältigen Schweigen" und sah sich als "Maultier, das störrisch ist". Ihre listige Dialektik schlug Funken aus scheinbar freundlichen Beteuerungen: "Keiner hat mich verlassen / Keiner ein Haus mir gezeigt / Keiner einen Stein aufgehoben / Erschlagen wollte mich keiner / Alle reden mir zu."
Freilich kam auch die Zeit, als solche "Zaubersprüche" - Titel ihres zweiten Bandes von 1972 - nicht mehr wirkten. Da wurde ihr nicht bloß zugeredet, es wurden auch Steine aufgehoben. Verbal zumindest. Da wurden auf Schriftstellerkongressen der "nackte, vergnatzte Individualismus" und die "spätbürgerliche Position der Aussichtslosigkeit" angeprangert. Da gab es die groteske Posse um das Gedicht "Schwarze Bohnen", das massive politische Verdikte auf sich zog. Solche Zeilen provozierten damals die Funktionäre: "Nachmittags fällt mir ein es gibt Krieg / Nachmittags vergesse ich jedweden Krieg / Nachmittags mahle ich Kaffee / Nachmittags setze ich den zermahlenen Kaffee / Rückwärts zusammen schöne / Schwarze Bohnen."
Einige Jahre später wurde das inkriminierte Gedicht auf einem DDR-Schriftstellerkongreß als Beispiel für die begrüßenswerte "Vielfalt unserer Poesie" gerühmt. Aber soll man an so dunkle Zeiten erinnern, wenn doch die "Schwarzen Bohnen" uns geblieben sind, dank der Magie, die selbst zermahlenen Kaffee rückwärts zusammensetzt?
Dennoch: Für die Dichterin waren die siebziger Jahre alles andere als eine leichte Zeit. Sarah Kirsch fühlte sich durchaus nicht zur Dissidentin berufen, sie war eher geneigt, dem "kleinen wärmenden Land" Solidarität, besser altmodisch Treue zu beweisen. Später hat sie fast schnoddrig davon gesprochen: "Es war mir früher in meinem Land / Soviel eingeblasen und vorgeschrieben / Daß ich die Scheißarbeit aufgenommen / Ein bißchen davon zu glauben." Aber diese Arbeit fruchtete nicht. Im Gefolge des Biermann-Protests, den sie, wie viele andere Kollegen, mit unterschrieben hatte, verließ die Dichterin mit ihrem kleinen Sohn Moritz im August 1977 die DDR.
Was heute zählt, ist: Sarah Kirsch schrieb in diesen Jahren einige ihrer bedeutendsten Gedichte. "Legende über Lilja" erzählt von dem polnischen Mädchen, das sich weigert, die anderen KZ-Insassen zu verraten. "Nachricht aus Lesbos" läßt eine Lesbierin bekennen: "nachts ruht ein Bärtiger auf meinem Bett" - das offene Bekenntnis einer Abweichung, deren politische Bedeutung nicht zu übersehen war. Politisch zumindest ambivalent ist eine Passage in dem wunderbaren Zyklus "Wiepersdorf". Da klagt die Poetin in der Maske Bettinas: "Immer sind wir allein, wenn wir den Königen schreiben / Denen des Herzens und jenen / Des Staats. Und doch / Erschrickt unser Herz / Wenn auf der anderen Seite des Hauses / Ein Wagen zu hören ist."
Eines ihrer bekanntesten Gedichte gilt der Droste. Ihr hat sie die schönste Hommage gewidmet, die dem westfälischen Fräulein, der Naturdichterin und der Liebenden je zuteil wurde. "Der Droste würde ich gern Wasser reichen / In alte Spiegel mit ihr sehen, Vögel / Nennen", hebt Sarah Kirschs Gedicht an. Ein Gedicht, das wie vom Widerschein des Meersburger Turmzimmers durchglänzt ist.
Im Zeichen der Droste - also im Zeichen von Natur- und Liebeslyrik - steht die zweite, die glücklichere Phase von Leben und Poesie. Sarah Kirsch vollendet ihre bukolische Sendung mit sprechenden Titeln wie: "Erdreich", "Katzenleben", "Schneewärme", "Erlkönigs Tochter", "Bodenlos" und "Schwanenliebe". Schleswig-Holstein - in kalauernder Prosa auch einmal "Schließlich Holzbein, Meerumschlungen" genannt, wurde zu ihrem Refugium. Das aufgelassene Dorfschulhaus von Tielenhemme bot neben poetischer Muße auch eine kompensatorische Lebenspraxis, die Sorge für Landwirtschaft, für Kreaturen und Kreatürliches.
Bukolik ist für Sarah Kirsch keine harmlose Idylle. Bei ihr ist Naturlyrik - anders als bei Loerke und Lehmann - keine Suche nach dem Grünen Gott, sondern das einmalige Amalgam von Zauberei und sachlicher Nüchternheit. Die studierte Biologin hat nicht bloß die Naturkenntnisse der Droste, sie besitzt auch die Überschärfe ihrer Augen. Sie hat einen Sinn für Details, die das Bewußtsein schwindeln lassen: "Jeder Halm / War geschärft frisch angespitzt und ich zählte / Nebenäste vierundzwanzigster Ordnung / Die Welt bestand aus lauter Einzelheiten / Es war genau zu unterscheiden / Welches übriggebliebene Blatt / Um ein weniges vor oder hinter / Anderem leis sich bewegte."
Diese liebevolle Schärfe hat etwas von Andacht, wie sie einer Spätzeit zukommt, die alles noch einmal sehen will. Günter Grass hat einmal gemeint, die Lyrik sei in ihrem Bewußtsein den anderen Gattungen voraus, in ihr werde nämlich schon Abschied von der Natur genommen. Sarah Kirsch hat diese Befürchtung für ein kleines Gedicht ernst genommen. Es heißt "Bäume" und geht so: "Früher sollen sie / Wälder gebildet haben und Vögel / Auch Libellen genannt kleine / Huhnähnliche Wesen die zu / Singen vermochten schauten herab."
Sarah Kirsch singt solche Adieus nicht ohne Humor. Von Erschöpfung kann keine Rede sein. "Schwanenliebe", ihr jüngster Einzelband, ist alles andere als ein Schwanengesang. Die Gedichte, die uns aus ihm entgegentönen, werden zwar immer kleiner, Haiku-ähnlich. Dafür treten sie in wahren Schwärmen auf. "Gedichte also sind / Sonderbare kleine / Katzen denen gerade / Die Augen aufgehn", heißt ein Vierzeiler, und der müßte auch Germanisten überzeugen. Ich habe ein besonderes Faible für eine neue Neigung der Dichterin - der zum kalauerhaft Komischen, ja zum höheren Blödsinn. Da kippt Insistenz in reine Poesie um: "Zigarren werden geschickt / Natürlich werden Zigarren / Geschickt. / Immer werden Zigarren / Geschickt werden."
Das nimmt man gern als ein Versprechen Sarah Kirschs, die morgen ihren siebzigsten Geburtstag feiert. Sie wird uns noch weiter mit poetischen Rauchwaren beliefern, denen auch Nichtraucher nicht widerstehen können.
HARALD HARTUNG
Sarah Kirsch: "Sämtliche Gedichte". Deutsche Verlagsanstalt, München 2005. 560 S., geb. 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Poetische Prankenschläge: Sarah Kirschs "Sämtliche Gedichte"
Selten hat man ein so heiteres Titelbild gesehen: leuchtende Farbflecken, die man als Blumen nehmen kann, als Pflanzlich-Blühendes jedenfalls, von kleinen Spritzern übersät, wie sie ein rasch geführter Aquarellpinsel hinterläßt. Es ist der Pinsel der Dichterin, die in einem frühen Gedicht bekennt, ich "lernte Geduld als ich klein war / bei Wasserfarben". Hier nun regiert der reine Übermut, die ungebremste Farbenlust.
"Glücksblättchen" heißt das dekorative Malwerk, das Sarah Kirschs "Sämtliche Gedichte" ziert, die aus Anlaß ihres siebzigsten Geburtstags am morgigen Samstag erschienen sind. Es ist der Talisman für eine volkstümliche Leseausgabe, die ihre zehn Einzelbände zusammenfaßt. Anders als die fünfbändige Werkausgabe aus dem Jahr 2000 hat sie keinerlei editorischen Ehrgeiz. Sogar auf die Erscheinungsdaten der Einzelbände wird verzichtet - als wolle man signalisieren, ihre Poesie sei fern von Zeit und Geschichte.
Natürlich ist das Gegenteil der Fall. So frisch die Gedichte der Sarah Kirsch auch wirken, sie sind - mit einem Ausdruck Paul Celans - "ihrer Daten eingedenk". Die Lyrikbände von "Landaufenthalt" (1967) bis "Schwanenliebe" (2001) hängen mit deutscher Geschichte zusammen - die frühen direkt, die späteren immer noch unterschwellig. Einige ihrer schönsten Liebesgedichte behandeln die deutsch-deutsche Trennung als Romeo-und-Julia-Thema.
Ihre prägenden Jahre verbrachte Sarah Kirsch in der DDR. In Halle studierte sie Biologie, in Leipzig besuchte sie zwischen 1963 und 1965 das Literaturinstitut, die Ziehstätte der gesamten Sächsischen Dichterschule. Einige Zeit war sie mit dem Lyriker Rainer Kirsch verheiratet, mit ihm zusammen veröffentlichte sie auch ein Bändchen Lyrik. Dann aber folgte sie ihrem eigenen Traum und nahm das Schreiben selbst in die Hand.
Sarah Kirsch hat 1996, in ihrer Dankrede zum Büchner-Preis, die prägnanteste Formulierung für ihren dichterischen Traum gefunden. Sie sieht sich als poetische Landschafterin. Doch ihre Wortmalerei möchte nicht bloß schöne Wortbilder erzeugen, sie möchte selbst Natur sein: "Die Lettern, die Wörter sind Bäume und Landschaften nun. Den Gebilden, welche die Dichter erschaffen, wohnt deren eigene Körperlichkeit inne." Und dann fügt sie einen Satz hinzu, der Impuls und Resultat ihres Schreibens atemhaft in eins bringt: "Mein Herzschlag, die Ungeduld, atemlos bin ich, und alles ist auffindbar in meinen Spuren."
Dieser Herzschlag, diese schöne Ungeduld findet sich bereits 1967 in ihrem Debütband "Landaufenthalt". Er zeigt die Poetin, gleich Pallas Athene dem Haupt des Zeus entsprungen. Ihre Stimme hat sogleich ihren eigenen Ton. Man hat das - mit der Patronage männlichen Wohlwollens - den "Sarah-Sound" genannt. Ob ihr das gefallen hat? "Sound" verfehlt die Dezenz ihres Tons, verfehlt ihre Sprödigkeit gegen jede falsche Intimität, gegen jede Einvernahme. "Ich bin ein Tiger im Regen (Ich knurre: man tut was man kann)" - so selbstbewußt und aufsässig beginnt eines dieser frühen Gedichte, um noch einen kleinen Prankenschlag loszuwerden: "Ich meine es müßte hier / Noch andere Tiger geben." Gab es aber nicht.
Sarah Kirsch wußte früh um ihre Einzigartigkeit. Sie entzog sich nach Kräften allem, was sie für etwas einspannen wollte. Nicht zuletzt der Literaturbürokratie der DDR, die mit Zuckerbrot und Peitsche arbeitete. Sie hielt dagegen mit ihrem "einfältigen Schweigen" und sah sich als "Maultier, das störrisch ist". Ihre listige Dialektik schlug Funken aus scheinbar freundlichen Beteuerungen: "Keiner hat mich verlassen / Keiner ein Haus mir gezeigt / Keiner einen Stein aufgehoben / Erschlagen wollte mich keiner / Alle reden mir zu."
Freilich kam auch die Zeit, als solche "Zaubersprüche" - Titel ihres zweiten Bandes von 1972 - nicht mehr wirkten. Da wurde ihr nicht bloß zugeredet, es wurden auch Steine aufgehoben. Verbal zumindest. Da wurden auf Schriftstellerkongressen der "nackte, vergnatzte Individualismus" und die "spätbürgerliche Position der Aussichtslosigkeit" angeprangert. Da gab es die groteske Posse um das Gedicht "Schwarze Bohnen", das massive politische Verdikte auf sich zog. Solche Zeilen provozierten damals die Funktionäre: "Nachmittags fällt mir ein es gibt Krieg / Nachmittags vergesse ich jedweden Krieg / Nachmittags mahle ich Kaffee / Nachmittags setze ich den zermahlenen Kaffee / Rückwärts zusammen schöne / Schwarze Bohnen."
Einige Jahre später wurde das inkriminierte Gedicht auf einem DDR-Schriftstellerkongreß als Beispiel für die begrüßenswerte "Vielfalt unserer Poesie" gerühmt. Aber soll man an so dunkle Zeiten erinnern, wenn doch die "Schwarzen Bohnen" uns geblieben sind, dank der Magie, die selbst zermahlenen Kaffee rückwärts zusammensetzt?
Dennoch: Für die Dichterin waren die siebziger Jahre alles andere als eine leichte Zeit. Sarah Kirsch fühlte sich durchaus nicht zur Dissidentin berufen, sie war eher geneigt, dem "kleinen wärmenden Land" Solidarität, besser altmodisch Treue zu beweisen. Später hat sie fast schnoddrig davon gesprochen: "Es war mir früher in meinem Land / Soviel eingeblasen und vorgeschrieben / Daß ich die Scheißarbeit aufgenommen / Ein bißchen davon zu glauben." Aber diese Arbeit fruchtete nicht. Im Gefolge des Biermann-Protests, den sie, wie viele andere Kollegen, mit unterschrieben hatte, verließ die Dichterin mit ihrem kleinen Sohn Moritz im August 1977 die DDR.
Was heute zählt, ist: Sarah Kirsch schrieb in diesen Jahren einige ihrer bedeutendsten Gedichte. "Legende über Lilja" erzählt von dem polnischen Mädchen, das sich weigert, die anderen KZ-Insassen zu verraten. "Nachricht aus Lesbos" läßt eine Lesbierin bekennen: "nachts ruht ein Bärtiger auf meinem Bett" - das offene Bekenntnis einer Abweichung, deren politische Bedeutung nicht zu übersehen war. Politisch zumindest ambivalent ist eine Passage in dem wunderbaren Zyklus "Wiepersdorf". Da klagt die Poetin in der Maske Bettinas: "Immer sind wir allein, wenn wir den Königen schreiben / Denen des Herzens und jenen / Des Staats. Und doch / Erschrickt unser Herz / Wenn auf der anderen Seite des Hauses / Ein Wagen zu hören ist."
Eines ihrer bekanntesten Gedichte gilt der Droste. Ihr hat sie die schönste Hommage gewidmet, die dem westfälischen Fräulein, der Naturdichterin und der Liebenden je zuteil wurde. "Der Droste würde ich gern Wasser reichen / In alte Spiegel mit ihr sehen, Vögel / Nennen", hebt Sarah Kirschs Gedicht an. Ein Gedicht, das wie vom Widerschein des Meersburger Turmzimmers durchglänzt ist.
Im Zeichen der Droste - also im Zeichen von Natur- und Liebeslyrik - steht die zweite, die glücklichere Phase von Leben und Poesie. Sarah Kirsch vollendet ihre bukolische Sendung mit sprechenden Titeln wie: "Erdreich", "Katzenleben", "Schneewärme", "Erlkönigs Tochter", "Bodenlos" und "Schwanenliebe". Schleswig-Holstein - in kalauernder Prosa auch einmal "Schließlich Holzbein, Meerumschlungen" genannt, wurde zu ihrem Refugium. Das aufgelassene Dorfschulhaus von Tielenhemme bot neben poetischer Muße auch eine kompensatorische Lebenspraxis, die Sorge für Landwirtschaft, für Kreaturen und Kreatürliches.
Bukolik ist für Sarah Kirsch keine harmlose Idylle. Bei ihr ist Naturlyrik - anders als bei Loerke und Lehmann - keine Suche nach dem Grünen Gott, sondern das einmalige Amalgam von Zauberei und sachlicher Nüchternheit. Die studierte Biologin hat nicht bloß die Naturkenntnisse der Droste, sie besitzt auch die Überschärfe ihrer Augen. Sie hat einen Sinn für Details, die das Bewußtsein schwindeln lassen: "Jeder Halm / War geschärft frisch angespitzt und ich zählte / Nebenäste vierundzwanzigster Ordnung / Die Welt bestand aus lauter Einzelheiten / Es war genau zu unterscheiden / Welches übriggebliebene Blatt / Um ein weniges vor oder hinter / Anderem leis sich bewegte."
Diese liebevolle Schärfe hat etwas von Andacht, wie sie einer Spätzeit zukommt, die alles noch einmal sehen will. Günter Grass hat einmal gemeint, die Lyrik sei in ihrem Bewußtsein den anderen Gattungen voraus, in ihr werde nämlich schon Abschied von der Natur genommen. Sarah Kirsch hat diese Befürchtung für ein kleines Gedicht ernst genommen. Es heißt "Bäume" und geht so: "Früher sollen sie / Wälder gebildet haben und Vögel / Auch Libellen genannt kleine / Huhnähnliche Wesen die zu / Singen vermochten schauten herab."
Sarah Kirsch singt solche Adieus nicht ohne Humor. Von Erschöpfung kann keine Rede sein. "Schwanenliebe", ihr jüngster Einzelband, ist alles andere als ein Schwanengesang. Die Gedichte, die uns aus ihm entgegentönen, werden zwar immer kleiner, Haiku-ähnlich. Dafür treten sie in wahren Schwärmen auf. "Gedichte also sind / Sonderbare kleine / Katzen denen gerade / Die Augen aufgehn", heißt ein Vierzeiler, und der müßte auch Germanisten überzeugen. Ich habe ein besonderes Faible für eine neue Neigung der Dichterin - der zum kalauerhaft Komischen, ja zum höheren Blödsinn. Da kippt Insistenz in reine Poesie um: "Zigarren werden geschickt / Natürlich werden Zigarren / Geschickt. / Immer werden Zigarren / Geschickt werden."
Das nimmt man gern als ein Versprechen Sarah Kirschs, die morgen ihren siebzigsten Geburtstag feiert. Sie wird uns noch weiter mit poetischen Rauchwaren beliefern, denen auch Nichtraucher nicht widerstehen können.
HARALD HARTUNG
Sarah Kirsch: "Sämtliche Gedichte". Deutsche Verlagsanstalt, München 2005. 560 S., geb. 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Was bleibt Harald Hartung anderes übrig, als aus Anlass der "Sämtlichen Gedichte" noch einmal die dichterische Laufbahn der Sarah Kirsch nachzuvollziehen? Zur Edition gibt's nicht viel zu sagen: Vor ein paar Jahren erschien eine fünfbändige Werkausgabe, das vorliegende Buch ist eher "volkstümliche Leseausgabe", ohne "editorischen Ehrgeiz", dafür mit einem heiteren Aquarell der Dichterin auf dem Umschlag. Doch dass es der Daten der Einzelausgaben, die hier zusammengefasst sind, nicht bedürfe, dem widerspricht der Rezensent: Waren doch Kirschs Gedichte immer, auf ihre eigene und im zunehmenden Maße unterschwellige Art, mit der Geschichte, der deutsch-deutschen vor allem, verknüpft - vom ersten, 1967 erschienenen Band, in dem sie sogleich ihre eigene Stimme etablierte, bis zum neuesten, der kein Nachlassen erkennen lässt. Zum Glück des Lesers, findet Hartung, der sein Glas zum Siebzigsten der Dichterin erhebt: auf die "poetische Landschafterin", auf den knurrenden "Tiger im Regen", wie sie sich selbst bezeichnete, auf das "einmalige Amalgam von Zauberei und sachlicher Nüchternheit", das die Natur von der Idylle entzweit, dabei aber umso mehr ihre Schönheit betont.
© Perlentaucher Medien GmbH
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