"Die ganze Welt ist eine Kette von Wundern, an die wir uns so sehr gewähnt haben, dass wir sie alltäglich finden." Die fantastische Märchenwelt des Hans Christian Andersen zieht seit Generationen weltweit Leser in ihren Bann. Als ein Zauberer der vollkommenen Illusion verliert der Märchendichter dennoch die Wirklichkeit nie aus den Augen. So haben Feen, Fabelwesen, Königinnen, kurz alle Figuren mit ihren wundersamsten Geschichten auch immer ihren festen Platz im Leben. Denn "Das hässliche Entlein", "Die Schneekönigin", "Des Kaisers neue Kleider", "Däumelinchen", "Die kleine Meerjungfrau" oder "Die Prinzessin auf der Erbse" - sie gehen uns alle an und treffen uns mitten ins Herz.
Auf die kleine Welt der dänischen Bürger, erzählt Hans Christian Andersen, schaue die Fee Sorge. Sie verwahre die Galoschen des Glücks. Die Geschichte beginnt an einem Abend auf Kopenhagens stergade, in einer Gegend, die jeder kennt, mitten in der Stadt. Sie erzählt davon, daß die Menschen nicht glücklicher werden, wenn sie sich von ihren Sorgen befreien und sein dürfen, was sie wollen. Ein "Märchen" heißt diese Geschichte, aber wie die meisten Erzählungen von Hans Christian Andersen ist sie viel mehr. Karl Kraus wollte "Satiren" in ihnen erkennen, kindlich sind sie höchstens zum Schein, und viele von ihnen, die "Kleine Meerjungfrau" zum Beispiel, mag man als Illustration einer existentialistischen Vorstellung von Verantwortung und Opfer lesen. Nur wenige von diesen hundertsechsundfünfzig Geschichten sind tatsächlich bekannt, der große Rest dieses Riesenwerks hat sich in unserer Zeit einer größeren Leserschaft nicht mehr erschlossen. Heinrich Detering hat nun "Sämtliche Märchen" in der maßgeblichen Übersetzung von Thyra Dohrenburg und mit den biedermeierlichen Illustrationen von Vilhelm Pedersen und Lorenz Frlich neu herausgegeben, kommentiert und mit einem überaus instruktiven Nachwort versehen. Wenn Detering erklärt, wie Hans Christian Andersen seine Geschichten "aus Notwehr" schrieb, wie genau er seine Umgebung beobachtete und in literarische Gestalten verwandelte, wie subtil die Techniken des Erzählens zuweilen sind, emanzipiert sich der Dichter von der Rolle des Kindsmanns und Märchenonkels. Daß der stets um sich selbst besorgte Hans Christian Andersen sich diese Rolle selbst gegeben zu haben scheint, ohne sie doch einlösen zu können, läßt die Märchen nur noch interessanter werden. (Hans Christian Andersen: "Sämtliche Märchen". Aus dem Dänischen übersetzt von Thyra Dohrenburg. Herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Heinrich Detering. Artemis und Winkler Verlag, Düsseldorf und München 1996. Zwei Bände, zusammen 1556 Seiten, geb., 138,- DM.) stei
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