Alexander von Humboldt
Zum 250. Geburtstag am 14. September 2019: Das gesamte publizistische Werk erstmals bei dtv
Alexander von Humboldt, aus einer preußischen Adelsfamilie stammend, war Forschungsreisender, Naturwissenschaftler, Homme de Lettres, bekannt mit allen großen Dichtern und Denkern und der internationalste Publizist seiner Zeit. Neben zahlreichen Büchern veröffentlichte er an die 1.000 Artikel und Essays. Diese Schriften erschienen in 15 Sprachen in 1.240 internationalen Zeitungen und Journalen auf fünf Kontinenten - und wurden nach seinem Tod nie gesammelt herausgegeben und auch einzeln größtenteils nie wieder nachgedruckt.
Die von einem Team um die international renommierten Humboldt-Experten Oliver Lubrich und Thomas Nehrlich herausgegebene 'Berner Ausgabe Sämtlicher Schriften' hebt diesen ungeheuren Schatz.
Neben seinen Forschungsergebnissen enthalten Humboldts Schriften zahllose Informationen zu seinem Leben. Seine Biografie wird auf dieser Grundlage neu zu schreiben sein. Vor allem aber sind seine Schriften eine Einladung zur Reise - und zur Lektüre.
Band I: 1789-1799, herausgegeben von Sarah Bärtschi und Yvonne Wübben (96 Erstdrucke, 11 Nachdrucke, 586 S.)
Band II: 1800-1809, herausgegeben von Sarah Bärtschi und Rex Clark (77 Erstdrucke, 25 Nachdrucke, 826 S.)
Band III: 1810-1819, herausgegeben von Michael Strobl und Jobst Welge (67 Erstdrucke, 18 Nachdrucke, 735 S.)
Band IV: 1820-1829, herausgegeben von Michael Strobl und Norbert D. Wernicke (105 Erstdrucke, 30 Nachdrucke, 1104 S.)
Band V: 1830-1839, herausgegeben von Bernhard Metz und Thomas Nehrlich (87 Erstdrucke, 13 Nachdrucke, 480 S.)
Band VI: 1840-1849, herausgegeben von Jutta Müller-Tamm und Michael Strobl (129 Erstdrucke, 6 Nachdrucke, 586 S.)
Band VII: 1850-1859, herausgegeben von Joachim Eibach und Thomas Nehrlich (188 Erstdrucke, 16 Nachdrucke, 591 S.)
Band VIII: Werkzeuge, Redaktion: Norbert D. Wernicke (Personen- und Ortsregister, Glossare, Inhalts- und Quellenverzeichnis, Einführung und Editorischer Bericht, 736 S.)
Band IX: Übertragungen, Redaktion: Corinna Fiedler (127 Übersetzungen der nicht auf Deutsch erschienenen Texte, 512 S.)
Band X: Durchquerungen, Redaktion: Johannes Görbert (21 Transversalkommentare, die Fragestellungen durch das gesamte Corpus sichtbar machen, 668 S.)
Zum 250. Geburtstag am 14. September 2019: Das gesamte publizistische Werk erstmals bei dtv
Alexander von Humboldt, aus einer preußischen Adelsfamilie stammend, war Forschungsreisender, Naturwissenschaftler, Homme de Lettres, bekannt mit allen großen Dichtern und Denkern und der internationalste Publizist seiner Zeit. Neben zahlreichen Büchern veröffentlichte er an die 1.000 Artikel und Essays. Diese Schriften erschienen in 15 Sprachen in 1.240 internationalen Zeitungen und Journalen auf fünf Kontinenten - und wurden nach seinem Tod nie gesammelt herausgegeben und auch einzeln größtenteils nie wieder nachgedruckt.
Die von einem Team um die international renommierten Humboldt-Experten Oliver Lubrich und Thomas Nehrlich herausgegebene 'Berner Ausgabe Sämtlicher Schriften' hebt diesen ungeheuren Schatz.
Neben seinen Forschungsergebnissen enthalten Humboldts Schriften zahllose Informationen zu seinem Leben. Seine Biografie wird auf dieser Grundlage neu zu schreiben sein. Vor allem aber sind seine Schriften eine Einladung zur Reise - und zur Lektüre.
Band I: 1789-1799, herausgegeben von Sarah Bärtschi und Yvonne Wübben (96 Erstdrucke, 11 Nachdrucke, 586 S.)
Band II: 1800-1809, herausgegeben von Sarah Bärtschi und Rex Clark (77 Erstdrucke, 25 Nachdrucke, 826 S.)
Band III: 1810-1819, herausgegeben von Michael Strobl und Jobst Welge (67 Erstdrucke, 18 Nachdrucke, 735 S.)
Band IV: 1820-1829, herausgegeben von Michael Strobl und Norbert D. Wernicke (105 Erstdrucke, 30 Nachdrucke, 1104 S.)
Band V: 1830-1839, herausgegeben von Bernhard Metz und Thomas Nehrlich (87 Erstdrucke, 13 Nachdrucke, 480 S.)
Band VI: 1840-1849, herausgegeben von Jutta Müller-Tamm und Michael Strobl (129 Erstdrucke, 6 Nachdrucke, 586 S.)
Band VII: 1850-1859, herausgegeben von Joachim Eibach und Thomas Nehrlich (188 Erstdrucke, 16 Nachdrucke, 591 S.)
Band VIII: Werkzeuge, Redaktion: Norbert D. Wernicke (Personen- und Ortsregister, Glossare, Inhalts- und Quellenverzeichnis, Einführung und Editorischer Bericht, 736 S.)
Band IX: Übertragungen, Redaktion: Corinna Fiedler (127 Übersetzungen der nicht auf Deutsch erschienenen Texte, 512 S.)
Band X: Durchquerungen, Redaktion: Johannes Görbert (21 Transversalkommentare, die Fragestellungen durch das gesamte Corpus sichtbar machen, 668 S.)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.08.2019Auch intelligente Maultiere sind eine Betrachtung wert
Die Totalität der Natur im Sinn und der Fülle zu erforschender Tatsachen auf der Spur: Zum nahenden 250. Geburtstag Alexander von Humboldts erscheint eine Edition seiner "Sämtlichen Schriften".
Die Frage, "Wer liest noch Alexander von Humboldt?", die Ottmar Ette vor zehn Jahren stellte, scheint inzwischen beantwortet - durch eine Reihe von stattlichen Alexander-von-Humboldt-Ausgaben, oder auch durch den Erfolg der Bücher von Andrea Wulf über Humboldt. Über ihn liest man jedenfalls. Aber liest man deshalb auch Humboldt selbst? Und was sollte man von ihm lesen?
Anlässlich des 250. Geburtstags Humboldts unterbreitet der Deutsche Taschenbuchverlag dazu nun einen besonderen Vorschlag. Von einem Editoren-Team um den Berner Literaturwissenschaftler Oliver Lubrich herausgegeben, erscheint eine aufwendige Ausgabe "Sämtlicher Schriften". Sie will sich Humboldt nicht über das eine große Werk, sondern über die vielen kleinen Schriften nähern. Dazu hat sie diese textkritisch ediert und nutzerfreundlich aufbereitet. Dem Autor angemessen, eine Edition der Superlative. Der Verlag verkündet stolz zehn Bände mit über 6600 Seiten, die 1000 Texte aus sieben Publikationsjahrzehnten beinhalten, verfasst in 15 Sprachen zu 30 Wissenschaftsdisziplinen. Viele dieser Texte wurden nach Humboldts Tod nie wieder editiert. Die aufwendig recherchierten, bibliographisch verarbeiteten und kommentierten Originale stammen aus 1240 Zeitungen und Journalen aus fünf Kontinenten.
Auf den ersten Blick scheinen diese Zahlen den Herausgebern recht zu geben, die von einem "Anderen Kosmos" Humboldts sprechen. Allerdings ist die schiere Menge an Seiten, Themen, Sprachen oder Wissenschaften allein von geringem Aussagewert. Zumal, wenn man das Selbstverständnis Humboldts berücksichtigt. Zwar hat der immer wieder ein Bild von sich gezeichnet - und es bis hin zum "Kosmos" bestätigt -, das ihn als Anhänger von umfassenden Datensammlungen und exakten Messungen zeigt. So belegen es auch die kleinen Schriften. Seine einzige Absicht sei es, so Humboldts Kommentar zu einer frühen Arbeit über Basalte im Jahr 1790, "Thatsachen zu sammeln".
Humboldts Wissenschaft ist darum jedoch keine datengetriebene Forschung nach heutigem Muster. Sie darf überhaupt nicht als Anhäufung empirisch gesammelter Einzelheiten missverstanden werden. Wenn Humboldt in der "Zeitung für die elegante Welt" 1808 seine eigenen "Ansichten der Natur" anonym bewirbt, dann lobt er sich "unter den Naturforschern und Naturphilosophen neuerer Zeit" als denjenigen, der "die Masse der Erscheinungen zu einer Totalität zu verbinden weiß" und dabei nie den Weg von Erfahrung und Beobachtung verlässt. Alles kommt ihm auf den Zusammenhang an. So versteht er seinen Ansatz einer Erdbeschreibung 1806 als in der Mitte stehend zwischen zwei falschen Extremen, der "kleinlichen, oft geistlosen Behandlung des Einzelnen" und der "kühnen, aber willkührlichen und naturwidrigen Behandlung des Allgemeinen". In dieser Hinsicht, so die Selbstwürdigung von 1808, sei er ein "Priester der Natur", und wer "möchte nicht, von einem solchen Führer geleitet, in die Geheimnisse der gütigen und großen Mutter eingeweiht werden, aus deren Schoß wir hervorgingen, in deren Schoß wir wieder zurückkehren!".
Damit der moderne Leser angesichts der Fülle oft sperrigen Materials, umfänglicher Zahlenkolonen und Tabellen, langer Listen lateinischer Tier- und Pflanzennamen oder kurioser Details - von galvanistischen Selbstversuchen, über Erde fressende Otomaken, intelligente Maultiere und Indianerskelette in der Höhle von Ataruipe bis hin zur anschaulichen Schilderung der Invasion blutgieriger Mosquitos - nicht den Überblick verliert, haben die Herausgeber für einen nutzerfreundlichen Erschließungsapparat in drei die Texte ergänzenden Bänden gesorgt.
Der erste, "Werkzeuge" benannt, versammelt Verzeichnisse von Personen und Orten, Glossare, Inhalts- und Quellenangaben sowie den editorischen Bericht. Ein zweiter stellt sämtliche Übersetzungen der nicht in deutscher Sprache erschienenen Texte zur Verfügung, womit in den Textbänden der polyglotte Humboldt präsent bleibt. Der Band "Durchquerungen" schließlich enthält materialreiche Kommentare zu verschiedenen Facetten von Humboldts Werk.
Wer Antworten sucht auf die Frage, "Warum Humboldt lesen?", kann etwa an die zitierte Selbstbeschreibung Humboldts als "Priester der Natur" anknüpfen. Gerade die Datenfülle aber, mit der er seine poetischen Darstellungen der Naturganzheit kombiniert, macht Humboldt heute attraktiv. Er erkannte bereits 1805 die Bedeutung langfristiger Veränderungen des Klimas, die Wechselwirkung von Lebensweisen und Umwelt und sah es als Aufgabe der Wissenschaft, die physikalischen und chemischen Grundlagen für die Bearbeitung dieser großen Fragen zu legen. Seine klimatologischen Fallstudien sprechen für eine nachhaltige Naturnutzung, Humboldts Perspektive bleibt dabei aber natürlich zeitgebunden, wie eine Einschätzung von 1807 zeigt: "Die ewigen Aequatorial-Regen hindern das Abbrennen der Waldungen, und das Menschengeschlecht muß in Menge noch sehr zunehmen, ehe es dort Herr der Pflanzenschöpfung wird."
Humboldts Ansatz ist explizit inter- oder transdisziplinär - und einige dieser Disziplinen, die er miteinander verknüpft, hat er selbst begründet. Bedeutsam dabei: Die fächerübergreifende Zusammenarbeit verblieb nicht in den Grenzen von Natur- und Ingenieurwissenschaften. Atmosphärenchemie, Meteorologie, Ozeanographie oder Geologie zur Seite stehen die Kultur- und Geisteswissenschaften. Hier hat Humboldt nicht nur an die schriftstellerische Eleganz der Darstellung gedacht, in einer Zeit, in der es immer noch "das Schicksal der meisten . . . technologischen Schriften" sei, dass "sie dunkel und widrig geschrieben sind". Humboldt geht es auch um die Eindrücke der "allverbreiteten Fülle des Lebens" auf Phantasie und Gefühlswelt der Menschen.
Dieser Einfluss der Natur auf die "moralische Stimmung der Menschheit und auf ihre Schicksale" ist für ihn ebenso bedeutsam wie die schlichte Abhängigkeit der Menschen von Naturressourcen oder deren Gefährdung durch Naturkatastrophen. Die rastlos zeugende Natur gilt ihm dabei noch als mächtige Instanz, die letztlich unbekümmert davon bleibt, wenn der Mensch "die reife Frucht zertritt". Der Forschungreisenden, der auf den Strömen von Südamerika weit ins Innere des Kontinents vordringt oder der die Hänge der Anden durchforscht, hält fest: "Hier verschwinden, gegen die mächtigere Natur, alle schwache Werke des aufkeimenden Kunstfleißes der Menschen."
Dennoch gehört auch der Mensch in den Naturzusammenhang. Und insofern sind Überlegungen zur politischen und ökonomischen Ordnung mit Fragen des Naturumgangs eng verwoben. Über Kolonialismus, Sklaverei oder Welthandel informieren Humboldts kleine Schriften deshalb ebenso wie über den lebendigen Zusammenhang von Mensch und Natur. Geduldigen Lesern der neuen Ausgabe wird nicht entgehen: Hier wird das Einzelne stets im Verhältnis zum Ganzen betrachtet.
KRISTIAN KÖCHY
Alexander von Humboldt: "Sämtliche Schriften".
Hrsg. von Oliver Lubrich, Thomas Nehrlich. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2019. Zehn Bände in Kassette, zus. 6848 S., geb., 250,- [Euro] (Numerierte Vorzugsausgabe: 390,- [Euro]).
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Totalität der Natur im Sinn und der Fülle zu erforschender Tatsachen auf der Spur: Zum nahenden 250. Geburtstag Alexander von Humboldts erscheint eine Edition seiner "Sämtlichen Schriften".
Die Frage, "Wer liest noch Alexander von Humboldt?", die Ottmar Ette vor zehn Jahren stellte, scheint inzwischen beantwortet - durch eine Reihe von stattlichen Alexander-von-Humboldt-Ausgaben, oder auch durch den Erfolg der Bücher von Andrea Wulf über Humboldt. Über ihn liest man jedenfalls. Aber liest man deshalb auch Humboldt selbst? Und was sollte man von ihm lesen?
Anlässlich des 250. Geburtstags Humboldts unterbreitet der Deutsche Taschenbuchverlag dazu nun einen besonderen Vorschlag. Von einem Editoren-Team um den Berner Literaturwissenschaftler Oliver Lubrich herausgegeben, erscheint eine aufwendige Ausgabe "Sämtlicher Schriften". Sie will sich Humboldt nicht über das eine große Werk, sondern über die vielen kleinen Schriften nähern. Dazu hat sie diese textkritisch ediert und nutzerfreundlich aufbereitet. Dem Autor angemessen, eine Edition der Superlative. Der Verlag verkündet stolz zehn Bände mit über 6600 Seiten, die 1000 Texte aus sieben Publikationsjahrzehnten beinhalten, verfasst in 15 Sprachen zu 30 Wissenschaftsdisziplinen. Viele dieser Texte wurden nach Humboldts Tod nie wieder editiert. Die aufwendig recherchierten, bibliographisch verarbeiteten und kommentierten Originale stammen aus 1240 Zeitungen und Journalen aus fünf Kontinenten.
Auf den ersten Blick scheinen diese Zahlen den Herausgebern recht zu geben, die von einem "Anderen Kosmos" Humboldts sprechen. Allerdings ist die schiere Menge an Seiten, Themen, Sprachen oder Wissenschaften allein von geringem Aussagewert. Zumal, wenn man das Selbstverständnis Humboldts berücksichtigt. Zwar hat der immer wieder ein Bild von sich gezeichnet - und es bis hin zum "Kosmos" bestätigt -, das ihn als Anhänger von umfassenden Datensammlungen und exakten Messungen zeigt. So belegen es auch die kleinen Schriften. Seine einzige Absicht sei es, so Humboldts Kommentar zu einer frühen Arbeit über Basalte im Jahr 1790, "Thatsachen zu sammeln".
Humboldts Wissenschaft ist darum jedoch keine datengetriebene Forschung nach heutigem Muster. Sie darf überhaupt nicht als Anhäufung empirisch gesammelter Einzelheiten missverstanden werden. Wenn Humboldt in der "Zeitung für die elegante Welt" 1808 seine eigenen "Ansichten der Natur" anonym bewirbt, dann lobt er sich "unter den Naturforschern und Naturphilosophen neuerer Zeit" als denjenigen, der "die Masse der Erscheinungen zu einer Totalität zu verbinden weiß" und dabei nie den Weg von Erfahrung und Beobachtung verlässt. Alles kommt ihm auf den Zusammenhang an. So versteht er seinen Ansatz einer Erdbeschreibung 1806 als in der Mitte stehend zwischen zwei falschen Extremen, der "kleinlichen, oft geistlosen Behandlung des Einzelnen" und der "kühnen, aber willkührlichen und naturwidrigen Behandlung des Allgemeinen". In dieser Hinsicht, so die Selbstwürdigung von 1808, sei er ein "Priester der Natur", und wer "möchte nicht, von einem solchen Führer geleitet, in die Geheimnisse der gütigen und großen Mutter eingeweiht werden, aus deren Schoß wir hervorgingen, in deren Schoß wir wieder zurückkehren!".
Damit der moderne Leser angesichts der Fülle oft sperrigen Materials, umfänglicher Zahlenkolonen und Tabellen, langer Listen lateinischer Tier- und Pflanzennamen oder kurioser Details - von galvanistischen Selbstversuchen, über Erde fressende Otomaken, intelligente Maultiere und Indianerskelette in der Höhle von Ataruipe bis hin zur anschaulichen Schilderung der Invasion blutgieriger Mosquitos - nicht den Überblick verliert, haben die Herausgeber für einen nutzerfreundlichen Erschließungsapparat in drei die Texte ergänzenden Bänden gesorgt.
Der erste, "Werkzeuge" benannt, versammelt Verzeichnisse von Personen und Orten, Glossare, Inhalts- und Quellenangaben sowie den editorischen Bericht. Ein zweiter stellt sämtliche Übersetzungen der nicht in deutscher Sprache erschienenen Texte zur Verfügung, womit in den Textbänden der polyglotte Humboldt präsent bleibt. Der Band "Durchquerungen" schließlich enthält materialreiche Kommentare zu verschiedenen Facetten von Humboldts Werk.
Wer Antworten sucht auf die Frage, "Warum Humboldt lesen?", kann etwa an die zitierte Selbstbeschreibung Humboldts als "Priester der Natur" anknüpfen. Gerade die Datenfülle aber, mit der er seine poetischen Darstellungen der Naturganzheit kombiniert, macht Humboldt heute attraktiv. Er erkannte bereits 1805 die Bedeutung langfristiger Veränderungen des Klimas, die Wechselwirkung von Lebensweisen und Umwelt und sah es als Aufgabe der Wissenschaft, die physikalischen und chemischen Grundlagen für die Bearbeitung dieser großen Fragen zu legen. Seine klimatologischen Fallstudien sprechen für eine nachhaltige Naturnutzung, Humboldts Perspektive bleibt dabei aber natürlich zeitgebunden, wie eine Einschätzung von 1807 zeigt: "Die ewigen Aequatorial-Regen hindern das Abbrennen der Waldungen, und das Menschengeschlecht muß in Menge noch sehr zunehmen, ehe es dort Herr der Pflanzenschöpfung wird."
Humboldts Ansatz ist explizit inter- oder transdisziplinär - und einige dieser Disziplinen, die er miteinander verknüpft, hat er selbst begründet. Bedeutsam dabei: Die fächerübergreifende Zusammenarbeit verblieb nicht in den Grenzen von Natur- und Ingenieurwissenschaften. Atmosphärenchemie, Meteorologie, Ozeanographie oder Geologie zur Seite stehen die Kultur- und Geisteswissenschaften. Hier hat Humboldt nicht nur an die schriftstellerische Eleganz der Darstellung gedacht, in einer Zeit, in der es immer noch "das Schicksal der meisten . . . technologischen Schriften" sei, dass "sie dunkel und widrig geschrieben sind". Humboldt geht es auch um die Eindrücke der "allverbreiteten Fülle des Lebens" auf Phantasie und Gefühlswelt der Menschen.
Dieser Einfluss der Natur auf die "moralische Stimmung der Menschheit und auf ihre Schicksale" ist für ihn ebenso bedeutsam wie die schlichte Abhängigkeit der Menschen von Naturressourcen oder deren Gefährdung durch Naturkatastrophen. Die rastlos zeugende Natur gilt ihm dabei noch als mächtige Instanz, die letztlich unbekümmert davon bleibt, wenn der Mensch "die reife Frucht zertritt". Der Forschungreisenden, der auf den Strömen von Südamerika weit ins Innere des Kontinents vordringt oder der die Hänge der Anden durchforscht, hält fest: "Hier verschwinden, gegen die mächtigere Natur, alle schwache Werke des aufkeimenden Kunstfleißes der Menschen."
Dennoch gehört auch der Mensch in den Naturzusammenhang. Und insofern sind Überlegungen zur politischen und ökonomischen Ordnung mit Fragen des Naturumgangs eng verwoben. Über Kolonialismus, Sklaverei oder Welthandel informieren Humboldts kleine Schriften deshalb ebenso wie über den lebendigen Zusammenhang von Mensch und Natur. Geduldigen Lesern der neuen Ausgabe wird nicht entgehen: Hier wird das Einzelne stets im Verhältnis zum Ganzen betrachtet.
KRISTIAN KÖCHY
Alexander von Humboldt: "Sämtliche Schriften".
Hrsg. von Oliver Lubrich, Thomas Nehrlich. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2019. Zehn Bände in Kassette, zus. 6848 S., geb., 250,- [Euro] (Numerierte Vorzugsausgabe: 390,- [Euro]).
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.08.2019Kanu,
Karte,
Feder
Eine Sensation:
Die Berner Ausgabe vereint
zum ersten Mal alle
Aufsätze, Artikel und
Abhandlungen
Alexander von Humboldts.
Die meisten sind
unbekannt oder vergessen
VON JENS BISKY
Um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts suchte eine spiritistische Welle Europa heim. Das Tischerücken wurde Mode. Auch der berühmteste Naturforscher der Zeit, Alexander von Humboldt, erhielt eine Anfrage, wie das vermeintlich paranormale Phänomen zu erklären sei. Im April 1853 brachte die Wiener Zeitung Die Presse seine Antwort. Er habe, hieß es, sich über das Tischerücken „mit einer gewissen Indignation ausgesprochen“. Humboldt verwies die Neugierigen an seine wissenschaftlichen Freunde, die vielleicht geneigter seien, derlei genauer zu ergründen. Er selbst beschied: „Eine ungenau beobachtete Thatsache ist schwerer zu erschüttern als eine Theorie. Wenn in einem 84jährigen Lebenslaufe man schon die periodisch wiederkehrenden Albernheiten der dogmatischen Volksphysik erlebt hat; so hat man keine Neigung, sich mit der erneuerten Untersuchung der Art zu beschäftigen“.
Der kurze Brief „über das Tischerücken“ machte rasch die Runde. Die Augsburger Postzeitung druckte ihn ebenso wie die Neue Zürcher Zeitung, man veröffentlichte ihn in Kopenhagen, Washington, Detroit. Und als im Jahr darauf Die Gartenlaube über Spiritistisches und die Gefahren der Pseudowissenschaft berichtete, zitierte das illustrierte Familienblatt selbstverständlich den klugen Satz des „geistvollen Forschers in Silberhaaren“, dass ungenaue Beobachtungen schwerer zu korrigieren seien als Theorien. Es war übrigens Humboldts Freund, der Physiker François Arago, der sich in einem Vortrag in Paris den verrückten Tischen streng wissenschaftlich näherte und das Rätsel entzauberte.
Sechsundzwanzig Veröffentlichungen des Briefes verzeichnet die Ausgabe sämtlicher Schriften Alexander von Humboldts, die in dieser Woche erschienen ist. Für die lange Zeit nach dem Tod Humboldts im Jahr 1859 wurde kein einziger Druck nachgewiesen. Und so verhält es sich mit der Mehrheit der hier versammelten unselbstständigen, also nicht in Buchform veröffentlichten Texte. Die Ausgabe erschließt eine ganze Werkgruppe, die Artikel, Aufsätze, Essays des klassischen Autors, der über die Jahrhunderte mehr gefeiert, beschworen, interpretiert und instrumentalisiert, denn gelesen wurde.
Die Berner Ausgabe
Die Ausgabe bietet über 750 Erstdrucke mit, so es sie gab, den Abbildungen der Originalpublikation. Die Bibliografie verzeichnet insgesamt 3600 Drucke und Nachdrucke. Die Texte erschienen in Zeitschriften, Zeitungen, als Beiträge zu Werken anderer Autoren. Der größte Teil dieser unselbstständigen Schriften, etwa 95 Prozent, ist nach dem Tod Alexander von Humboldts nie wieder gedruckt worden. Auch die jüngst erschienenen Biografien, etwa von Andrea Wulf oder Rüdiger Schaper, berücksichtigen sie nur am Rande. Über Jahre haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unter der Leitung von Oliver Lubrich und Thomas Nehrlich an der Universität Bern das Corpus der Schriften erarbeitet. Dazu gingen sie Hinweisen in Büchern und Briefen Humboldts nach. Hatte eine Zeitschrift oder Zeitung einen Artikel Humboldts veröffentlicht, wurde sie systematisch durchmustert. Gesucht wurde in den Metadaten und Volltexten von rund 240 Periodica-Datenbanken. Nur gedruckte und nachweislich von Humboldt verfasste Texte haben die Herausgeber aufgenommen. Die hier versammelten Schriften entstanden über sieben Jahrzehnte, auf drei Kontinenten und wurden in vielen Sprachen veröffentlicht.
Der erste Artikel erschien am 5. Januar 1789 in der Gazette littéraire de Berlin, in französischer Sprache. In der Berner Ausgabe kann man ihn auch auf Deutsch nachlesen: „Brief an den Autor dieses Blattes; über den Bohon-Upas; von einem jungen Adligen aus dieser Stadt“. Darin geht es um einen giftigen Baum, über den wundersame Geschichten kursieren. Der Zögling der Berliner Aufklärung verweist auf das Interesse der Herrschenden, das einfache Volk unwissend zu lassen: „Voltaire würde sagen, dies beweise, daß die Priester sich auch unter dem Äquator nicht ändern“. Gegen den Aberglauben setzt Humboldt auf Beobachtung, auf Daten. Die Übel der Menschheit seien zahlreich genug, es sei nicht nötig, sie durch „schädliche Ideen noch zu vermehren“. Der letzte Text der Ausgabe ist der „Ruf um Hülfe“, mit dem der Greis bat, ihn nicht mit Anfragen zu überhäufen, ihm Ruhe zur eigenen Arbeit zu lassen. Er stammt aus dem März 1859.
Drei Apparatbände erschließen die Texte. Band VIII – „Werkzeuge“ – enthält Bibliografien, Register, Glossare. In Band IX – „Übertragungen“ – finden sich Übersetzungen der fremdsprachlichen Texte. „Durchquerungen“ ist der Band X überschrieben. Er vereint 21 „Transversalkommentare“, die einzelne Themen behandeln wie: „Autobiografie und Biografie“, „Schrift und Material“, „Bergwerke und Vulkane“, „Daten und Bilder“, „Politik und Engagement“. Die Bände sind bemerkenswert lesefreundlich gestaltet, man blättert und liest in ihnen mit großem Vergnügen. Im Jahr 2021 wird die gesamte Edition online gestellt. Die Seite www.humboldt.unibe.ch informiert bereits jetzt ausführlich über den Autor, sein Werk und die sämtlichen Schriften. Schon im September dieses Jahres, wenn der 250. Geburtstag Alexander von Humboldts gefeiert wird, wollen die Herausgeber beginnen, Einführungskommentare zu jedem einzelnen Text zu veröffentlichen.
Im Hörverlag ist ein zehnstündiges Feature von Hans Sarkowicz erschienen, das bestens auf die Lektüre vorbereitet (Alexander von Humboldt. Der unbekannte Kosmos. 8 CDs, 40 Euro). Ausführlich kommen die Herausgeber und andere Humboldt-Kenner zu Wort, Ulrich Noethen liest Humboldts Texte so, dass deren sprachliche Eigenart und Kraft erlebbar werden.
Affenschinken
Zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts war Humboldt, soweit das im Rückblick festzustellen ist, dank seiner Amerika-Expedition von 1799 bis 1804 der neben Napoleon berühmteste Europäer. Ende des Jahres 1807 ging er in diplomatischer Mission nach Paris und erlangte schließlich die Erlaubnis, dort zu bleiben und sich ganz der Publikation seines Reisewerks zu widmen. Die Leser hatte er schon von Südamerika aus in Briefen und Berichten auf dem Laufenden gehalten, mit jedem Detail weitere Neugier geweckt. Im Januar 1807 veröffentlichten die Allgemeinen Geographischen Ephemeriden „Auszüge aus einigen Briefen“ Humboldts an den Herausgeber. Der Maler Gottlieb Schick, der damals in Rom lebte, hatte nach Erzählungen des Reisenden die „Skizze einer nächtlichen Szene am Orinoko“ angefertigt. Humboldt fand sie „sehr genialisch“. Keiner, der dabei gewesen, könnte sie treuer machen. „Wenn ich sie betrachte, glaube ich mich an den Alten Orinoko oder Cassiquiare versetzt. Nichts gränzt an die stille Majestät jener Tropennächte. Der Wald (...) drängt sich dicht an den Fluß. Man fährt lange mit dem Canot am Ufer hin, bis man an eine Stelle trifft, wo das Pflanzengewirre Einem Raum läßt, ans Land zu steigen und seine Hamaken (Hängematten) auszuspannen. Europäer haben keinen Begriff von diesen Hindernissen, welche die Vegetation der Cultur des Menschengeschlechts im Innern von Südamerika setzt.“
Humboldt schildert, halb sich erinnernd, halb Schicks Skizze beschreibend, die Beschwerlichkeiten und Gefahren, unterbricht die stimmungsvolle Szene immer wieder einmal durch allgemeine Informationen und Bemerkungen des Forschers. In den Hängematten sei man „vor den furchtbaren Schlangen gesichert“, „die abgerechnet, welche sich von oben von den Bäumen herablassen“. Von den „Mosquitos“ wolle er gar nichts sagen, in den ersten Wochen versuche man noch, sich zu schützen und sehe dann ein, dass alle Gegenmittel umsonst seien. „Kaltes Wasser lindert die Geschwulst“, aber das Flusswasser ist warm, „und der Blutdurst der Crocodile, die man nicht mit dem Alligator verwechseln muß, wie der Biß des Caraiben-Fisches, verbieten meist das Baden“.
Jaguare streifen herum, Waldtiere schreien, gefährlich ist es, wenn der Regen das Feuer löscht. „In der Mitte des Bildes hat Hr. Schick eine Indianische Küche abgebildet. Sie sehen, sie ist sehr einfach. Ein von Baumzweigen gebildeter Rost, auf dem man den Affen, die große Simia Paniscus bratet. Affenschinken sind ein Leckerbissen dieser Welt.“
Die Texte
Bekannt sind vor allem Alexander von Humboldts „Ansichten der Natur“ und sein „Kosmos“. In den letzten Jahren wurden die Reisetagebücher, das grafische Werk und einiges mehr ediert. Die Ausgabe der Schriften profitierte vom Aufschwung der Humboldt-Philologie und ist deren vorläufige Krönung. Sie erlaubt es, so die Herausgeber, andere Seiten des Autors zu erkunden: den „meister der kleinen Formen“, den „internationalen Publizisten“, den „öffentlichen Intellektuellen“, den „postdisziplinären Forscher“. Er verfasste Reisebriefe und Feldforschungsberichte, Dank- und Empfehlungsschreiben, Reden. Er nutzte eine Vielzahl an Genres: von „Abhandlung“, „Abriß“, „Analyse“ über „Entwurf“, „Erklärung“ „Erzählung“ bis hin zu „Versuch“ und „Zuschrift“.
Gleich im ersten Band wird klar, dass er nicht allein der deutschen Nationalliteratur angehört: Da stehen nacheinander ein französischer, ein deutscher und ein lateinischer Text. Er wurde in ein Dutzend weitere Sprachen übersetzt und noch zu Lebzeiten auf allen Kontinenten veröffentlicht, in Mailand, Warschau, Caracas, in New York, Moskau, Bombay, Shanghai. Besonders zahlreich sind die Publikationen in englischer Sprache. Er war ein viel gedruckter Autor in den Vereinigten Staaten. Obwohl er selbst nicht auf Englisch schrieb, sei er, sagen die Herausgeber, gegen Endes seines Lebens zu einem englischsprachigen Autor geworden. In wie vielen Disziplinen und Wissensgebieten er sich tummelte – Botanik, Hüttenkunde, Geschichte, Geografie usw. – ist bekannt. Die Berner Ausgabe umfasst Texte aus allen Jahren seines produktiven Lebens. Die großen Reisen markieren Zäsuren: die 1799 begonnene Reise nach Amerika, die Reise nach Russland und Asien1829.
Mit den sämtlichen Schriften kommt man Humboldt und seiner Zeit besonders nahe, weil sie Texte aus allen Epochen seines produktiven Lebens enthalten, weil er vor allem mit diesen Texten in der Öffentlichkeit und global präsent war. Die Prachtwerke von den Reisen waren für die meisten unerschwinglich, nicht aber die Zeitungen und Zeitschriften. Einige Artikel beziehen sich direkt auf eines der Bücher, aber zwei Drittel der Schriften „haben keine Entsprechung in den Buchwerken“.
Kolonialismus und Welthandel
Nur mit Erlaubnis des spanischen Königs hatte Humboldt in dessen Kolonien reisen können. Die Idee der Kolonie selbst, ein Land in Abhängigkeit und Rückständigkeit zu halten, um es auszubeuten, hielt er für eine unmoralische. Dennoch hat ihm etwa Mary Louise Pratt vorgeworfen, er habe Südamerika mit „imperialem Blick“ ausgekundschaftet und mit seinen Darstellungen den Kontinent als Verfügungsmasse präsentiert. In den Schriften finden sich jedoch zahlreiche kolonialismuskritische Überlegungen. Scharf attackierte Humboldt die Sklaverei. Als sein Buch „Essai politique sur l’île de Cuba“ in den Vereinigten Staaten erschien und ausgerechnet um die sklavereikritischen Passagen gekürzt worden war, protestierte er öffentlich. Die Berner Ausgabe enthält auch zu diesem Thema viel interessantes Material, das Forschung anregen kann. Es ist keine Koketterie, dass der Kommentarband mit mehreren Seiten voller Fragen beginnt. Das neue Material erfordert Forschung.
Einer der schönsten Aufsätze Humboldts erschien 1826: „Ueber die künftigen Verhältnisse von Europa und Amerika“. Er entwickelt dort Vorstellungen von einem globalen Wettbewerb. „Dieser edle Wetteifer in Gesittung, Kunstfleiß und Handelsverkehr wird aber, weit entfernt, (wie vielfältig prophezeit worden ist) die Verarmung des alten Festlandes zum Vortheil des neuen herbeyzuführen, vielmehr den Verbrauchsbedarf, die Masse der produktiven Arbeit und die Thätigkeit des Tauschverkehrs steigern (…) es wäre ein verderbliches, ich möchte beynahe sagen gottloses Vorurtheil, im zunehmenden Wohlstand irgend einer andern Gegend unsers Planeten den Untergang oder das Verderben des alten Europa erblicken zu wollen. Die Unabhängigkeit der Kolonien wird keineswegs ihre Trennung und Absonderung befördern, sondern vielmehr sie den Völkern früherer Gesittung annähern. Der Handelsverkehr strebt dasjenige zu vereinbaren, was eine eifersüchtige Staatskunst lange Zeit getrennt hielt.“
Alexander von Humboldt war viel zu lange der bloß angeschwärmte Klassiker. Ihn zu lesen, bietet die unerschöpfliche Berner Ausgabe beste Gelegenheit.
Eduard Enders Gemälde aus dem Jahr 1856 zeigt Alexander von Humboldt und Aimé Bonpland am Orinoco. Die Abbildungen der Pflanzen und Tiere stammen aus verschiedenen Werken Humboldts. Mit dem Cyanometer
(unten links) maß
man die Intensität des
Himmelblaus.
Foto: imago (oben)/dtv
Alexander von Humboldt: Sämtliche Schriften.
Berner Ausgabe. Herausgegeben von Oliver Lubrich und Thomas Nehrlich.
dtv, München 2019.
10 Bände, 6320 Seiten. Limitierte Vorzugsausgabe 390 Euro. Studienausgabe
250 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Karte,
Feder
Eine Sensation:
Die Berner Ausgabe vereint
zum ersten Mal alle
Aufsätze, Artikel und
Abhandlungen
Alexander von Humboldts.
Die meisten sind
unbekannt oder vergessen
VON JENS BISKY
Um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts suchte eine spiritistische Welle Europa heim. Das Tischerücken wurde Mode. Auch der berühmteste Naturforscher der Zeit, Alexander von Humboldt, erhielt eine Anfrage, wie das vermeintlich paranormale Phänomen zu erklären sei. Im April 1853 brachte die Wiener Zeitung Die Presse seine Antwort. Er habe, hieß es, sich über das Tischerücken „mit einer gewissen Indignation ausgesprochen“. Humboldt verwies die Neugierigen an seine wissenschaftlichen Freunde, die vielleicht geneigter seien, derlei genauer zu ergründen. Er selbst beschied: „Eine ungenau beobachtete Thatsache ist schwerer zu erschüttern als eine Theorie. Wenn in einem 84jährigen Lebenslaufe man schon die periodisch wiederkehrenden Albernheiten der dogmatischen Volksphysik erlebt hat; so hat man keine Neigung, sich mit der erneuerten Untersuchung der Art zu beschäftigen“.
Der kurze Brief „über das Tischerücken“ machte rasch die Runde. Die Augsburger Postzeitung druckte ihn ebenso wie die Neue Zürcher Zeitung, man veröffentlichte ihn in Kopenhagen, Washington, Detroit. Und als im Jahr darauf Die Gartenlaube über Spiritistisches und die Gefahren der Pseudowissenschaft berichtete, zitierte das illustrierte Familienblatt selbstverständlich den klugen Satz des „geistvollen Forschers in Silberhaaren“, dass ungenaue Beobachtungen schwerer zu korrigieren seien als Theorien. Es war übrigens Humboldts Freund, der Physiker François Arago, der sich in einem Vortrag in Paris den verrückten Tischen streng wissenschaftlich näherte und das Rätsel entzauberte.
Sechsundzwanzig Veröffentlichungen des Briefes verzeichnet die Ausgabe sämtlicher Schriften Alexander von Humboldts, die in dieser Woche erschienen ist. Für die lange Zeit nach dem Tod Humboldts im Jahr 1859 wurde kein einziger Druck nachgewiesen. Und so verhält es sich mit der Mehrheit der hier versammelten unselbstständigen, also nicht in Buchform veröffentlichten Texte. Die Ausgabe erschließt eine ganze Werkgruppe, die Artikel, Aufsätze, Essays des klassischen Autors, der über die Jahrhunderte mehr gefeiert, beschworen, interpretiert und instrumentalisiert, denn gelesen wurde.
Die Berner Ausgabe
Die Ausgabe bietet über 750 Erstdrucke mit, so es sie gab, den Abbildungen der Originalpublikation. Die Bibliografie verzeichnet insgesamt 3600 Drucke und Nachdrucke. Die Texte erschienen in Zeitschriften, Zeitungen, als Beiträge zu Werken anderer Autoren. Der größte Teil dieser unselbstständigen Schriften, etwa 95 Prozent, ist nach dem Tod Alexander von Humboldts nie wieder gedruckt worden. Auch die jüngst erschienenen Biografien, etwa von Andrea Wulf oder Rüdiger Schaper, berücksichtigen sie nur am Rande. Über Jahre haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unter der Leitung von Oliver Lubrich und Thomas Nehrlich an der Universität Bern das Corpus der Schriften erarbeitet. Dazu gingen sie Hinweisen in Büchern und Briefen Humboldts nach. Hatte eine Zeitschrift oder Zeitung einen Artikel Humboldts veröffentlicht, wurde sie systematisch durchmustert. Gesucht wurde in den Metadaten und Volltexten von rund 240 Periodica-Datenbanken. Nur gedruckte und nachweislich von Humboldt verfasste Texte haben die Herausgeber aufgenommen. Die hier versammelten Schriften entstanden über sieben Jahrzehnte, auf drei Kontinenten und wurden in vielen Sprachen veröffentlicht.
Der erste Artikel erschien am 5. Januar 1789 in der Gazette littéraire de Berlin, in französischer Sprache. In der Berner Ausgabe kann man ihn auch auf Deutsch nachlesen: „Brief an den Autor dieses Blattes; über den Bohon-Upas; von einem jungen Adligen aus dieser Stadt“. Darin geht es um einen giftigen Baum, über den wundersame Geschichten kursieren. Der Zögling der Berliner Aufklärung verweist auf das Interesse der Herrschenden, das einfache Volk unwissend zu lassen: „Voltaire würde sagen, dies beweise, daß die Priester sich auch unter dem Äquator nicht ändern“. Gegen den Aberglauben setzt Humboldt auf Beobachtung, auf Daten. Die Übel der Menschheit seien zahlreich genug, es sei nicht nötig, sie durch „schädliche Ideen noch zu vermehren“. Der letzte Text der Ausgabe ist der „Ruf um Hülfe“, mit dem der Greis bat, ihn nicht mit Anfragen zu überhäufen, ihm Ruhe zur eigenen Arbeit zu lassen. Er stammt aus dem März 1859.
Drei Apparatbände erschließen die Texte. Band VIII – „Werkzeuge“ – enthält Bibliografien, Register, Glossare. In Band IX – „Übertragungen“ – finden sich Übersetzungen der fremdsprachlichen Texte. „Durchquerungen“ ist der Band X überschrieben. Er vereint 21 „Transversalkommentare“, die einzelne Themen behandeln wie: „Autobiografie und Biografie“, „Schrift und Material“, „Bergwerke und Vulkane“, „Daten und Bilder“, „Politik und Engagement“. Die Bände sind bemerkenswert lesefreundlich gestaltet, man blättert und liest in ihnen mit großem Vergnügen. Im Jahr 2021 wird die gesamte Edition online gestellt. Die Seite www.humboldt.unibe.ch informiert bereits jetzt ausführlich über den Autor, sein Werk und die sämtlichen Schriften. Schon im September dieses Jahres, wenn der 250. Geburtstag Alexander von Humboldts gefeiert wird, wollen die Herausgeber beginnen, Einführungskommentare zu jedem einzelnen Text zu veröffentlichen.
Im Hörverlag ist ein zehnstündiges Feature von Hans Sarkowicz erschienen, das bestens auf die Lektüre vorbereitet (Alexander von Humboldt. Der unbekannte Kosmos. 8 CDs, 40 Euro). Ausführlich kommen die Herausgeber und andere Humboldt-Kenner zu Wort, Ulrich Noethen liest Humboldts Texte so, dass deren sprachliche Eigenart und Kraft erlebbar werden.
Affenschinken
Zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts war Humboldt, soweit das im Rückblick festzustellen ist, dank seiner Amerika-Expedition von 1799 bis 1804 der neben Napoleon berühmteste Europäer. Ende des Jahres 1807 ging er in diplomatischer Mission nach Paris und erlangte schließlich die Erlaubnis, dort zu bleiben und sich ganz der Publikation seines Reisewerks zu widmen. Die Leser hatte er schon von Südamerika aus in Briefen und Berichten auf dem Laufenden gehalten, mit jedem Detail weitere Neugier geweckt. Im Januar 1807 veröffentlichten die Allgemeinen Geographischen Ephemeriden „Auszüge aus einigen Briefen“ Humboldts an den Herausgeber. Der Maler Gottlieb Schick, der damals in Rom lebte, hatte nach Erzählungen des Reisenden die „Skizze einer nächtlichen Szene am Orinoko“ angefertigt. Humboldt fand sie „sehr genialisch“. Keiner, der dabei gewesen, könnte sie treuer machen. „Wenn ich sie betrachte, glaube ich mich an den Alten Orinoko oder Cassiquiare versetzt. Nichts gränzt an die stille Majestät jener Tropennächte. Der Wald (...) drängt sich dicht an den Fluß. Man fährt lange mit dem Canot am Ufer hin, bis man an eine Stelle trifft, wo das Pflanzengewirre Einem Raum läßt, ans Land zu steigen und seine Hamaken (Hängematten) auszuspannen. Europäer haben keinen Begriff von diesen Hindernissen, welche die Vegetation der Cultur des Menschengeschlechts im Innern von Südamerika setzt.“
Humboldt schildert, halb sich erinnernd, halb Schicks Skizze beschreibend, die Beschwerlichkeiten und Gefahren, unterbricht die stimmungsvolle Szene immer wieder einmal durch allgemeine Informationen und Bemerkungen des Forschers. In den Hängematten sei man „vor den furchtbaren Schlangen gesichert“, „die abgerechnet, welche sich von oben von den Bäumen herablassen“. Von den „Mosquitos“ wolle er gar nichts sagen, in den ersten Wochen versuche man noch, sich zu schützen und sehe dann ein, dass alle Gegenmittel umsonst seien. „Kaltes Wasser lindert die Geschwulst“, aber das Flusswasser ist warm, „und der Blutdurst der Crocodile, die man nicht mit dem Alligator verwechseln muß, wie der Biß des Caraiben-Fisches, verbieten meist das Baden“.
Jaguare streifen herum, Waldtiere schreien, gefährlich ist es, wenn der Regen das Feuer löscht. „In der Mitte des Bildes hat Hr. Schick eine Indianische Küche abgebildet. Sie sehen, sie ist sehr einfach. Ein von Baumzweigen gebildeter Rost, auf dem man den Affen, die große Simia Paniscus bratet. Affenschinken sind ein Leckerbissen dieser Welt.“
Die Texte
Bekannt sind vor allem Alexander von Humboldts „Ansichten der Natur“ und sein „Kosmos“. In den letzten Jahren wurden die Reisetagebücher, das grafische Werk und einiges mehr ediert. Die Ausgabe der Schriften profitierte vom Aufschwung der Humboldt-Philologie und ist deren vorläufige Krönung. Sie erlaubt es, so die Herausgeber, andere Seiten des Autors zu erkunden: den „meister der kleinen Formen“, den „internationalen Publizisten“, den „öffentlichen Intellektuellen“, den „postdisziplinären Forscher“. Er verfasste Reisebriefe und Feldforschungsberichte, Dank- und Empfehlungsschreiben, Reden. Er nutzte eine Vielzahl an Genres: von „Abhandlung“, „Abriß“, „Analyse“ über „Entwurf“, „Erklärung“ „Erzählung“ bis hin zu „Versuch“ und „Zuschrift“.
Gleich im ersten Band wird klar, dass er nicht allein der deutschen Nationalliteratur angehört: Da stehen nacheinander ein französischer, ein deutscher und ein lateinischer Text. Er wurde in ein Dutzend weitere Sprachen übersetzt und noch zu Lebzeiten auf allen Kontinenten veröffentlicht, in Mailand, Warschau, Caracas, in New York, Moskau, Bombay, Shanghai. Besonders zahlreich sind die Publikationen in englischer Sprache. Er war ein viel gedruckter Autor in den Vereinigten Staaten. Obwohl er selbst nicht auf Englisch schrieb, sei er, sagen die Herausgeber, gegen Endes seines Lebens zu einem englischsprachigen Autor geworden. In wie vielen Disziplinen und Wissensgebieten er sich tummelte – Botanik, Hüttenkunde, Geschichte, Geografie usw. – ist bekannt. Die Berner Ausgabe umfasst Texte aus allen Jahren seines produktiven Lebens. Die großen Reisen markieren Zäsuren: die 1799 begonnene Reise nach Amerika, die Reise nach Russland und Asien1829.
Mit den sämtlichen Schriften kommt man Humboldt und seiner Zeit besonders nahe, weil sie Texte aus allen Epochen seines produktiven Lebens enthalten, weil er vor allem mit diesen Texten in der Öffentlichkeit und global präsent war. Die Prachtwerke von den Reisen waren für die meisten unerschwinglich, nicht aber die Zeitungen und Zeitschriften. Einige Artikel beziehen sich direkt auf eines der Bücher, aber zwei Drittel der Schriften „haben keine Entsprechung in den Buchwerken“.
Kolonialismus und Welthandel
Nur mit Erlaubnis des spanischen Königs hatte Humboldt in dessen Kolonien reisen können. Die Idee der Kolonie selbst, ein Land in Abhängigkeit und Rückständigkeit zu halten, um es auszubeuten, hielt er für eine unmoralische. Dennoch hat ihm etwa Mary Louise Pratt vorgeworfen, er habe Südamerika mit „imperialem Blick“ ausgekundschaftet und mit seinen Darstellungen den Kontinent als Verfügungsmasse präsentiert. In den Schriften finden sich jedoch zahlreiche kolonialismuskritische Überlegungen. Scharf attackierte Humboldt die Sklaverei. Als sein Buch „Essai politique sur l’île de Cuba“ in den Vereinigten Staaten erschien und ausgerechnet um die sklavereikritischen Passagen gekürzt worden war, protestierte er öffentlich. Die Berner Ausgabe enthält auch zu diesem Thema viel interessantes Material, das Forschung anregen kann. Es ist keine Koketterie, dass der Kommentarband mit mehreren Seiten voller Fragen beginnt. Das neue Material erfordert Forschung.
Einer der schönsten Aufsätze Humboldts erschien 1826: „Ueber die künftigen Verhältnisse von Europa und Amerika“. Er entwickelt dort Vorstellungen von einem globalen Wettbewerb. „Dieser edle Wetteifer in Gesittung, Kunstfleiß und Handelsverkehr wird aber, weit entfernt, (wie vielfältig prophezeit worden ist) die Verarmung des alten Festlandes zum Vortheil des neuen herbeyzuführen, vielmehr den Verbrauchsbedarf, die Masse der produktiven Arbeit und die Thätigkeit des Tauschverkehrs steigern (…) es wäre ein verderbliches, ich möchte beynahe sagen gottloses Vorurtheil, im zunehmenden Wohlstand irgend einer andern Gegend unsers Planeten den Untergang oder das Verderben des alten Europa erblicken zu wollen. Die Unabhängigkeit der Kolonien wird keineswegs ihre Trennung und Absonderung befördern, sondern vielmehr sie den Völkern früherer Gesittung annähern. Der Handelsverkehr strebt dasjenige zu vereinbaren, was eine eifersüchtige Staatskunst lange Zeit getrennt hielt.“
Alexander von Humboldt war viel zu lange der bloß angeschwärmte Klassiker. Ihn zu lesen, bietet die unerschöpfliche Berner Ausgabe beste Gelegenheit.
Eduard Enders Gemälde aus dem Jahr 1856 zeigt Alexander von Humboldt und Aimé Bonpland am Orinoco. Die Abbildungen der Pflanzen und Tiere stammen aus verschiedenen Werken Humboldts. Mit dem Cyanometer
(unten links) maß
man die Intensität des
Himmelblaus.
Foto: imago (oben)/dtv
Alexander von Humboldt: Sämtliche Schriften.
Berner Ausgabe. Herausgegeben von Oliver Lubrich und Thomas Nehrlich.
dtv, München 2019.
10 Bände, 6320 Seiten. Limitierte Vorzugsausgabe 390 Euro. Studienausgabe
250 Euro.
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Eine Sensation: Die Berner Ausgabe vereint zum ersten Mal alle Aufsätze, Artikel und Abhandlungen Alexander von Humboldts. Jens Bisky Süddeutsche Zeitung 20190818