Erstmals erscheint auf Deutsch Sarah Kanes viel beschriebenes Gesamtwerk in einem Band, der neben Zerbombt (1995), Phaidras Liebe (1996), Gesäubert (1998) und Gier (1998) auch das bisher unveröffentlichte, posthum uraufgeführte Stück 4.48 Psychosis enthält und um ein biographisches Nachwort ergänzt wird. Deutlich wird zugleich Kanes Spannbreite - von den spektakulären, apokalyptischen Horrorszenarien ihrer drei ersten Stücke hin zur "wunderbaren, befremdlichen Sprachkomposition aus Zustandsbeschreibung, Lebensregeln, Story-Fetzen, Liebesverlangen, Liebesekel und Todessehnsucht" (Der Spiegel) ihrer beiden letzten Werke. Mit der Wucht griechischer Tragödien, großer Schönheit und Radikalität kriesen ihre Stücke um Liebe und Gewalt, Einsamkeit und die Sehnsucht nach Nähe und Geborgenheit.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.03.20024 Uhr 48
Ein Unding der Liebe: „Sämtliche Stücke” der britischen Dramatikerin Sarah Kane
4 Uhr 48, das ist keine Zeit. Das liegt diesseits der Nacht, ganz tief. Und wenn man es nicht besser wüsste, würde man denken, es gäbe keinen Morgen danach, der aus dieser Finsternis herausführte. 4 Uhr 48, das ist die Zeit, in der Sarah Kane aus dem Schlaf stürzte, plötzlich hellwach, in Phasen, da sie an depressiven Attacken litt. Es heißt, dass dieser Sturz einen Augenblick klirrender Klarheit mit sich bringt, in der psychotisch bedrängten Psyche zumindest, während Außenstehende nichts als den Wahn erblicken, in seiner reinsten Natur. Am 20. Februar 1999 hat sich Sarah Kane erhängt.
In ihrem letzten Stück „4.48 Psychose” hört sich manches so an wie ein Epilog auf das eigene Leben, ein Schmerzensschrei, ein Aufbegehren und Ringen, ein Selbstzerstören, „Schnee und schwarze Verzweiflung”. Es ist wohl der berührendste Text, den sie jemals geschrieben hat, ohne ein einziges drastisches Bild, ganz Stimme, die einem unter die Haut kriecht. 4 Uhr 48, das heißt einerseits „Glücksmoment” für sie, andererseits aber Unheilsgewissheit. Und vielleicht schließt das eine das andere ja gar nicht aus. Denn wenn die Klarheit vorbeischaut, dann lässt sich auch die Hoffnungslosigkeit ganz klar anschauen, und womöglich zieht man eine Erkenntnis daraus: „Um 4 Uhr 48 / wenn die Verzweiflung mich überkommt / werd ich mich aufhängen / im Ohr die Atemzüge meines Geliebten”.
Jetzt, drei Jahre später, da „Sämtliche Stücke” in einem Band vorliegen, von „Zerbombt” bis „4.48 Psychose”, erliegt man leicht der Versuchung, das ganze Werk als Vorspiel zu einer Selbstauslöschung zu lesen. Und das kann man ja zunächst auch tun, solange man nicht stehen bleibt dabei und alles Ungeheuerliche wegnickt ins Biografische der Autorin. Damit nämlich wäre man fein raus aus allem – und die Gesellschaft, die hier immerzu gemeint ist, wäre es genauso. Es könnte aber auch sein, dass das bisschen Distanz seit dem Tod Sarah Kanes, seit dem Verklingen der nachtschwarzen Metaphern in den Nachrufen der Zeitungen, einen neuen, radikaleren Blick auf ihre fünf Stücke zulässt. Der ließe sich auch nicht mehr trüben durch das modische Ranschmeißen an die jungen Wilden des britischen Theaters. Denn diese Welle ist bereits verebbt.
Ohne Kunst-Brunst
Liest man heute diese Stücke, sieht man sofort, wie verdammt gut sie gebaut sind, wie wenig man streichen möchte (dieses Wenige aber unbedingt) und auch wie viel Lust in der kalkulierten Grausamkeit steckt. Und man erinnert sich, dass Kane Workshops für junge Dramatiker gab, dass sie das Kunst-Technische hochhielt gegenüber aller Kunst-Brunst, dem bloßen Wollen.
Als Peter Zadek 1998 an den Hamburger Kammerspielen Kanes „Gesäubert” inszenierte, da konnte man miterleben, wie nach und nach die Zuschauer flüchteten vor den Exzessen. Verhandelt wurde der Sadismus, die Folter, die Verstümmelung, der Mord.
Unter der knalligen Oberfläche aber tauchte etwas Anderes auf: die totalitäre Sehnsucht der Liebe, die dann ebenso totalitär auf die Probe gestellt wird. Carl sagt: Ich werde dich immer lieben, dich nie verraten, dich nie betrügen. Und sein Freund Rod, der lacht bloß darüber. Jede Liebe kriegt man irgendwann klein, notfalls mit dem Hackebeil. Und so werden Carl zuerst die Hände und dann die Füße abgehackt, doch erst als ihm der Folterknecht einen Pfahl in den Anus rammt, möchte Carl nicht länger sterben für seine Liebe, sondern zieht es vor, dass diese Liebe für ihn stirbt: Tötet mich nicht, tötet Rod.
Zurzeit wird „Gesäubert” in Polen gespielt, in Warschau, Posen und Breslau, nach großer Irritation mit großem Erfolg; und so, wie es aussieht, wird diese Inszenierung im Herbst auf den Berliner Festwochen zu sehen sein.
Ein deutscher Schauspieler, Thomas Schweiberer, spielt dort den Carl, und er erzählt, auf der Durchreise in Berlin, wie schwer es dieses erste Kane- Stück im katholischen Polen anfangs gehabt habe, die schwule Liebe auf der Bühne, der ganze totalitäre Herzenskomplex. Schweiberer spielt auf Polnisch, jedenfalls solange, bis ihm in der Aufführung die Zunge herausgeschnitten wird; dann stöhnt er nur noch und lallt. Das ist es, was von der Liebe bleibt, angeschaut um 4 Uhr 48, bei klirrender Klarheit.
„Was, wenn die Liebe stirbt? Wecker klingelt, Zeit zum Aufwachen, was dann?” – Spätestens jetzt, da es dieses Fünferpack von Werken gibt, kann man nicht mehr übersehen, wie bohrend Sarah Kane nach der Liebe fragt, nach dem absoluten Gefühl, ein Unding. Man kann sehen, wie sie die Bilder und Tonlagen wechselt, von der großen bestialischen Kammeroper in den ersten drei Stücken zum Sinfonischen im vierten und fünften Stück.
Zeit zum Aufwachen
Aber kaum je gibt sie sich Blößen, denn hinter den Blößen lauert der Kitsch, höchstens das eine Mal in „Gier”, da riskiert sie dann gleich einen Kitschmonolog: „Und ich will Verstecken spielen und dir meine Kleider geben und dir sagen Ich mag deine Schuhe und auf den Stufen sitzen während du badest und deinen Nacken massieren und deine Füße küssen... und dir sagen wie sehr ich dein Haar liebe deine Augen deine Lippen deinen Hals deine Brüste deinen Arsch deine”. Hier bricht die Figur A kurzzeitig ab, bis sie sich erholt hat und erneut ansetzt zum Singsang auf das Schöne, so als sei die Schönheit der Welt, ohne zu stocken, nicht zu ertragen – und die Schönheit der Liebe erst recht nicht. Die Blößen der Kunst sind noch lang’ keine Kunst- Brunst, wenn sie in einem wurzelgenau komponierten Werk plötzlich aufblitzen. Aber sie verraten, egal ob im Film, im Theater, in der Literatur, denjenigen, der dieses Werk geschaffen hat, und vielleicht auch warum. Das Ganze ist dann wie Maske-runter und stell-dich-mal-hin zum Anschauen und Abmessen, unverhüllt, nackt. Ein Blick in die Seele ist es noch nicht.
Sarah Kane ist nur 28 Jahre alt geworden, und doch wirkt das Kompendium ihrer Stücke seltsam geschlossen, gespannt von einem Pol zum anderen, kompakt. Dabei hat sie ihre Themen immer nur aufgeschlitzt und dann nicht wieder vernäht, sie hat sie nicht zu Ende gedacht, aber immer zum Ende hin. Und es ist dieser Sog, wie auf ein leuchtendes Exit-Schild zu, dem man sich nur schwer entziehen kann. Weil man insgeheim weiß, dass der Tod die schärfsten Fragen stellt an das Leben.
Es ist ein Glück, dass die Stücke auch in unvernähten Übersetzungen zu haben sind, die einen mit mehr, die anderen mit weniger Pathos, von Nils Tabert, der ganz früh für die wilden Briten gekämpft hat, vom Dramatiker Marius von Mayenburg oder vom Dichter Durs Grünbein. Der Wecker klingelt, Zeit zum Aufwachen: „Du bist tot für mich”, heißt der erste Satz in „Gier”; er wird von der Figur C gesagt, die auch den letzten Satz sagen darf: „Glücklich und frei”. Und wenn es so wäre. Wenn es so wäre um 4 Uhr 48. Dann, bitte, nicht ohne die Atemzüge der Liebe im Ohr.
RALPH HAMMERTHALER
SARAH KANE: Sämtliche Stücke. Herausgegeben von Corinna Brocher und Nils Tabert. Mit einer Einleitung von David Greig. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 2002. 252 Seiten, 13 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Ein Unding der Liebe: „Sämtliche Stücke” der britischen Dramatikerin Sarah Kane
4 Uhr 48, das ist keine Zeit. Das liegt diesseits der Nacht, ganz tief. Und wenn man es nicht besser wüsste, würde man denken, es gäbe keinen Morgen danach, der aus dieser Finsternis herausführte. 4 Uhr 48, das ist die Zeit, in der Sarah Kane aus dem Schlaf stürzte, plötzlich hellwach, in Phasen, da sie an depressiven Attacken litt. Es heißt, dass dieser Sturz einen Augenblick klirrender Klarheit mit sich bringt, in der psychotisch bedrängten Psyche zumindest, während Außenstehende nichts als den Wahn erblicken, in seiner reinsten Natur. Am 20. Februar 1999 hat sich Sarah Kane erhängt.
In ihrem letzten Stück „4.48 Psychose” hört sich manches so an wie ein Epilog auf das eigene Leben, ein Schmerzensschrei, ein Aufbegehren und Ringen, ein Selbstzerstören, „Schnee und schwarze Verzweiflung”. Es ist wohl der berührendste Text, den sie jemals geschrieben hat, ohne ein einziges drastisches Bild, ganz Stimme, die einem unter die Haut kriecht. 4 Uhr 48, das heißt einerseits „Glücksmoment” für sie, andererseits aber Unheilsgewissheit. Und vielleicht schließt das eine das andere ja gar nicht aus. Denn wenn die Klarheit vorbeischaut, dann lässt sich auch die Hoffnungslosigkeit ganz klar anschauen, und womöglich zieht man eine Erkenntnis daraus: „Um 4 Uhr 48 / wenn die Verzweiflung mich überkommt / werd ich mich aufhängen / im Ohr die Atemzüge meines Geliebten”.
Jetzt, drei Jahre später, da „Sämtliche Stücke” in einem Band vorliegen, von „Zerbombt” bis „4.48 Psychose”, erliegt man leicht der Versuchung, das ganze Werk als Vorspiel zu einer Selbstauslöschung zu lesen. Und das kann man ja zunächst auch tun, solange man nicht stehen bleibt dabei und alles Ungeheuerliche wegnickt ins Biografische der Autorin. Damit nämlich wäre man fein raus aus allem – und die Gesellschaft, die hier immerzu gemeint ist, wäre es genauso. Es könnte aber auch sein, dass das bisschen Distanz seit dem Tod Sarah Kanes, seit dem Verklingen der nachtschwarzen Metaphern in den Nachrufen der Zeitungen, einen neuen, radikaleren Blick auf ihre fünf Stücke zulässt. Der ließe sich auch nicht mehr trüben durch das modische Ranschmeißen an die jungen Wilden des britischen Theaters. Denn diese Welle ist bereits verebbt.
Ohne Kunst-Brunst
Liest man heute diese Stücke, sieht man sofort, wie verdammt gut sie gebaut sind, wie wenig man streichen möchte (dieses Wenige aber unbedingt) und auch wie viel Lust in der kalkulierten Grausamkeit steckt. Und man erinnert sich, dass Kane Workshops für junge Dramatiker gab, dass sie das Kunst-Technische hochhielt gegenüber aller Kunst-Brunst, dem bloßen Wollen.
Als Peter Zadek 1998 an den Hamburger Kammerspielen Kanes „Gesäubert” inszenierte, da konnte man miterleben, wie nach und nach die Zuschauer flüchteten vor den Exzessen. Verhandelt wurde der Sadismus, die Folter, die Verstümmelung, der Mord.
Unter der knalligen Oberfläche aber tauchte etwas Anderes auf: die totalitäre Sehnsucht der Liebe, die dann ebenso totalitär auf die Probe gestellt wird. Carl sagt: Ich werde dich immer lieben, dich nie verraten, dich nie betrügen. Und sein Freund Rod, der lacht bloß darüber. Jede Liebe kriegt man irgendwann klein, notfalls mit dem Hackebeil. Und so werden Carl zuerst die Hände und dann die Füße abgehackt, doch erst als ihm der Folterknecht einen Pfahl in den Anus rammt, möchte Carl nicht länger sterben für seine Liebe, sondern zieht es vor, dass diese Liebe für ihn stirbt: Tötet mich nicht, tötet Rod.
Zurzeit wird „Gesäubert” in Polen gespielt, in Warschau, Posen und Breslau, nach großer Irritation mit großem Erfolg; und so, wie es aussieht, wird diese Inszenierung im Herbst auf den Berliner Festwochen zu sehen sein.
Ein deutscher Schauspieler, Thomas Schweiberer, spielt dort den Carl, und er erzählt, auf der Durchreise in Berlin, wie schwer es dieses erste Kane- Stück im katholischen Polen anfangs gehabt habe, die schwule Liebe auf der Bühne, der ganze totalitäre Herzenskomplex. Schweiberer spielt auf Polnisch, jedenfalls solange, bis ihm in der Aufführung die Zunge herausgeschnitten wird; dann stöhnt er nur noch und lallt. Das ist es, was von der Liebe bleibt, angeschaut um 4 Uhr 48, bei klirrender Klarheit.
„Was, wenn die Liebe stirbt? Wecker klingelt, Zeit zum Aufwachen, was dann?” – Spätestens jetzt, da es dieses Fünferpack von Werken gibt, kann man nicht mehr übersehen, wie bohrend Sarah Kane nach der Liebe fragt, nach dem absoluten Gefühl, ein Unding. Man kann sehen, wie sie die Bilder und Tonlagen wechselt, von der großen bestialischen Kammeroper in den ersten drei Stücken zum Sinfonischen im vierten und fünften Stück.
Zeit zum Aufwachen
Aber kaum je gibt sie sich Blößen, denn hinter den Blößen lauert der Kitsch, höchstens das eine Mal in „Gier”, da riskiert sie dann gleich einen Kitschmonolog: „Und ich will Verstecken spielen und dir meine Kleider geben und dir sagen Ich mag deine Schuhe und auf den Stufen sitzen während du badest und deinen Nacken massieren und deine Füße küssen... und dir sagen wie sehr ich dein Haar liebe deine Augen deine Lippen deinen Hals deine Brüste deinen Arsch deine”. Hier bricht die Figur A kurzzeitig ab, bis sie sich erholt hat und erneut ansetzt zum Singsang auf das Schöne, so als sei die Schönheit der Welt, ohne zu stocken, nicht zu ertragen – und die Schönheit der Liebe erst recht nicht. Die Blößen der Kunst sind noch lang’ keine Kunst- Brunst, wenn sie in einem wurzelgenau komponierten Werk plötzlich aufblitzen. Aber sie verraten, egal ob im Film, im Theater, in der Literatur, denjenigen, der dieses Werk geschaffen hat, und vielleicht auch warum. Das Ganze ist dann wie Maske-runter und stell-dich-mal-hin zum Anschauen und Abmessen, unverhüllt, nackt. Ein Blick in die Seele ist es noch nicht.
Sarah Kane ist nur 28 Jahre alt geworden, und doch wirkt das Kompendium ihrer Stücke seltsam geschlossen, gespannt von einem Pol zum anderen, kompakt. Dabei hat sie ihre Themen immer nur aufgeschlitzt und dann nicht wieder vernäht, sie hat sie nicht zu Ende gedacht, aber immer zum Ende hin. Und es ist dieser Sog, wie auf ein leuchtendes Exit-Schild zu, dem man sich nur schwer entziehen kann. Weil man insgeheim weiß, dass der Tod die schärfsten Fragen stellt an das Leben.
Es ist ein Glück, dass die Stücke auch in unvernähten Übersetzungen zu haben sind, die einen mit mehr, die anderen mit weniger Pathos, von Nils Tabert, der ganz früh für die wilden Briten gekämpft hat, vom Dramatiker Marius von Mayenburg oder vom Dichter Durs Grünbein. Der Wecker klingelt, Zeit zum Aufwachen: „Du bist tot für mich”, heißt der erste Satz in „Gier”; er wird von der Figur C gesagt, die auch den letzten Satz sagen darf: „Glücklich und frei”. Und wenn es so wäre. Wenn es so wäre um 4 Uhr 48. Dann, bitte, nicht ohne die Atemzüge der Liebe im Ohr.
RALPH HAMMERTHALER
SARAH KANE: Sämtliche Stücke. Herausgegeben von Corinna Brocher und Nils Tabert. Mit einer Einleitung von David Greig. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 2002. 252 Seiten, 13 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Dass Theaterstücke rezensiert werden, ist selten. Im vorliegenden Fall mag das daran liegen, dass die Autorin spektakuläre Stücke geschrieben und sich das Leben genommen hat. Katrin Bettina Müller kann der Versuchung nicht widerstehen, die Stücke im Rückblick auf eine Entwicklung und auf den Selbstmord hin zu lesen. Aber schon das Lesen stellt ein schwieriges Unterfangen dar, denn Kanes Stücke lesen und dabei still sitzen bleiben, sei ein Ding der Unmöglichkeit, meint Müller. Diese drastische, brutale, staccatohafte Sprache "will geschrieen werden", schreibt sie. Die Figuren von Kanes Stücken fürchteten nichts so sehr wie den Kontrollverlust über ihre Gefühle. Kanes Sprache ziele deswegen auf unmittelbare Schmerzerzeugung. Bloß die beiden letzten Stücke, "Gier" und "4.48 Psychose", letzteres posthum veröffentlicht und von Durs Grünbein übersetzt, erscheinen Müller zugänglicher als die früheren Stücke, die Sprache sei trotz ihrer Kürze musikalischer und poetischer. "4.48 Psychose" handele von einer Depression und der Angst, durch Therapie die Wut als produktiven Faktor zu verlieren. Für eine Nihilistin sei dies schon eine niederschmetternde Erkenntnis, schließt Müller, dass sich Wut ebenso ausbeuten lasse wie etwa der Glaube.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Keine zornige Prophetin der Gewalt, vielmehr Dichterin eines untröstlichen Liebesverlangens. Eine große Autorin des zeitgenössischen Theaters. Der Spiegel