Auch die neue Ausgabe geht von dieser Textgrundlage aus, indes ermöglicht ein eigens verfasster Anhang den Nachvollzug der intensiven Bemühungen Georges um die Texte. So lässt sich daraus auch die Reihenfolge, in der George seine Umdichtungen vorgenommen hat, nachvollziehen. Denn für George war die zehnjährige Arbeit an der Übertragung der »Fleurs du Mal« weniger von der Absicht getragen, Baudelaire dem deutschen Leser näherzubringen, als von dem Versuch, seinen eigenen poetischen Stil in der Auseinandersetzung mit dem Werk des bewunderten Franzosen zu entwickeln.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.01.1995Neue Überzeugung gesucht
Claude Pichois und Jean Ziegler kennen ihren Baudelaire
Als Baudelaire 1867, mit sechsundvierzig Jahren, starb, war er in Paris als eine Mischung aus Dandy und Bohemien bekannt, nicht als Dichter. Die "Fleurs du mal" hatten nur einen Skandalerfolg erzielt. Daß er dann in wenigen Jahren vom verkannten Genie zum Klassiker aufstieg, verdankt er der Anhänglichkeit und Hartnäckigkeit seiner Freunde: Schon 1870 war die erste siebenbändige Gesamtausgabe abgeschlossen, schon kurz vor seinem Tod erschien die erste Biographie. Ein unermüdlicher später Freund war Eugène Crépet, der seine Baudelaire-Leidenschaft auf seinen Sohn Jacques übertrug.
Genau hundert Jahre nach Eugènes "Étude biographique" von 1887 erschien die Standardbiographie von Claude Pichois und Jean Ziegler. Sie ist den beiden Crépets gewidmet. Ziegler ist ein Enkel von Eugène. Pichois wiederum ist heute für die Baudelaire-Forschung, was einmal Figaro für die Haarpracht seiner Kunden war: immer und überall präsent. Er ist Herausgeber der Werke und der Briefe in der edelsten Klassikerausgabe, der "Pléiade", hat mit Friedhelm Kemp auch den deutschen Baudelaire herausgegeben, wirkt womöglich bei allen Baudelaire-Symposien, -Kolloquien und den daraus gezeugten Sammelbänden mit, ist an den Baudelaire-Forschungszentren in Nashville, Tennessee, und in Neufchâtel beteiligt und hat auch Briefe an Baudelaire, eine Ikonographie des Dichters und Urteile der Zeitgenossen veröffentlicht. Die Übersetzung dieser späten Frucht von Pichois' lebenslanger Baudelaire-Bemühung war seit langem fällig, nun kann man sich an der Lückenlosigkeit und Ungeschminktheit der Tatsachen und manchmal auch an Pichois' lakonischem Humor erfreuen.
"Eine Biographie ist nur eine Biographie", schreibt er im Vorwort, dezidiert sich absetzend von dem beliebten Typus "Leben und Werk". Er versucht sich nicht an Deutungen, gibt nur wieder, was aus Dokumenten, Selbstaussagen und Zeugenberichten zu filtern ist. Mit einem gewissen Stolz besteht er allerdings darauf, daß er im Gegensatz zu seinen Vorgängern die Geschichte eines Menschen aus Fleisch und Blut geschrieben habe. Es gebe zwar in puncto Familiengeschichte noch ein paar weiße Flecken, aber Baudelaire selbst sei restlos erfaßt.
In der Tat wird nichts Heikles ausgespart, weder die Frauenbeziehungen noch die Geldverhältnisse, denen ein eigener Anhang gewidmet ist. Man erfährt, daß Baudelaire mit seinen Büchern im ganzen 900 Franc verdiente, mit den Zeitschriftenaufsätzen 4200, mit den Übersetzungen, vor allem Poes, 8000 Franc. Man lernt auch aus genauer Untersuchung, was es mit Baudelaires revolutionärer Gesinnung und mit seinem Katholizismus auf sich hatte. Er war ein Revolutionär und ein religiöser Mensch von Geblüt, aber seine Überzeugungen wechselten mit den Jahreszeiten.
Von der Nüchternheit des Berichterstatters weicht Pichois nur im letzten Satz seines großen Werkes ab. Er ist der Freundschaft gewidmet. Sie habe es dem Dichter der großen Allegorie "Le voyage" erlaubt, trotz aller Hindernisse, von der Familienaufsicht über den Geldmangel bis zu Krankheit und Süchtigkeit, sofort "die hohe See zu gewinnen". WERNER ROSS
Claude Pichois und Jean Ziegler: "Baudelaire". Aus dem Französischen übersetzt von Tamina Groepper. Steidl-Verlag, Göttingen 1995. 523 S., geb., 56,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Claude Pichois und Jean Ziegler kennen ihren Baudelaire
Als Baudelaire 1867, mit sechsundvierzig Jahren, starb, war er in Paris als eine Mischung aus Dandy und Bohemien bekannt, nicht als Dichter. Die "Fleurs du mal" hatten nur einen Skandalerfolg erzielt. Daß er dann in wenigen Jahren vom verkannten Genie zum Klassiker aufstieg, verdankt er der Anhänglichkeit und Hartnäckigkeit seiner Freunde: Schon 1870 war die erste siebenbändige Gesamtausgabe abgeschlossen, schon kurz vor seinem Tod erschien die erste Biographie. Ein unermüdlicher später Freund war Eugène Crépet, der seine Baudelaire-Leidenschaft auf seinen Sohn Jacques übertrug.
Genau hundert Jahre nach Eugènes "Étude biographique" von 1887 erschien die Standardbiographie von Claude Pichois und Jean Ziegler. Sie ist den beiden Crépets gewidmet. Ziegler ist ein Enkel von Eugène. Pichois wiederum ist heute für die Baudelaire-Forschung, was einmal Figaro für die Haarpracht seiner Kunden war: immer und überall präsent. Er ist Herausgeber der Werke und der Briefe in der edelsten Klassikerausgabe, der "Pléiade", hat mit Friedhelm Kemp auch den deutschen Baudelaire herausgegeben, wirkt womöglich bei allen Baudelaire-Symposien, -Kolloquien und den daraus gezeugten Sammelbänden mit, ist an den Baudelaire-Forschungszentren in Nashville, Tennessee, und in Neufchâtel beteiligt und hat auch Briefe an Baudelaire, eine Ikonographie des Dichters und Urteile der Zeitgenossen veröffentlicht. Die Übersetzung dieser späten Frucht von Pichois' lebenslanger Baudelaire-Bemühung war seit langem fällig, nun kann man sich an der Lückenlosigkeit und Ungeschminktheit der Tatsachen und manchmal auch an Pichois' lakonischem Humor erfreuen.
"Eine Biographie ist nur eine Biographie", schreibt er im Vorwort, dezidiert sich absetzend von dem beliebten Typus "Leben und Werk". Er versucht sich nicht an Deutungen, gibt nur wieder, was aus Dokumenten, Selbstaussagen und Zeugenberichten zu filtern ist. Mit einem gewissen Stolz besteht er allerdings darauf, daß er im Gegensatz zu seinen Vorgängern die Geschichte eines Menschen aus Fleisch und Blut geschrieben habe. Es gebe zwar in puncto Familiengeschichte noch ein paar weiße Flecken, aber Baudelaire selbst sei restlos erfaßt.
In der Tat wird nichts Heikles ausgespart, weder die Frauenbeziehungen noch die Geldverhältnisse, denen ein eigener Anhang gewidmet ist. Man erfährt, daß Baudelaire mit seinen Büchern im ganzen 900 Franc verdiente, mit den Zeitschriftenaufsätzen 4200, mit den Übersetzungen, vor allem Poes, 8000 Franc. Man lernt auch aus genauer Untersuchung, was es mit Baudelaires revolutionärer Gesinnung und mit seinem Katholizismus auf sich hatte. Er war ein Revolutionär und ein religiöser Mensch von Geblüt, aber seine Überzeugungen wechselten mit den Jahreszeiten.
Von der Nüchternheit des Berichterstatters weicht Pichois nur im letzten Satz seines großen Werkes ab. Er ist der Freundschaft gewidmet. Sie habe es dem Dichter der großen Allegorie "Le voyage" erlaubt, trotz aller Hindernisse, von der Familienaufsicht über den Geldmangel bis zu Krankheit und Süchtigkeit, sofort "die hohe See zu gewinnen". WERNER ROSS
Claude Pichois und Jean Ziegler: "Baudelaire". Aus dem Französischen übersetzt von Tamina Groepper. Steidl-Verlag, Göttingen 1995. 523 S., geb., 56,- DM.
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