Der Völkermord gehört zu den Phänomenen, die sich dem menschlichen Verständnis zu entziehen scheinen. Wie ist es möglich, Tausende, Hunderttausende, ja Millionen von wehrlosen Menschen zu töten? Sie zu demütigen, zu quälen, zu vergewaltigen, bevor man sie umbringt? Und wie verwandeln sich innerhalb kurzer Zeit einst friedfertige Menschen in Mörder?
Jacques Sémelins vergleichende Analyse des Holocaust, des Genozids in Ruanda und der ethnischen Säuberungen in Bosnien-Herzegowina ist multidisziplinär angelegt und entwickelt einen intellektuellen Rahmen für die Analyse sämtlicher Ausprägungen von Massengewalt einschließlich des Terrorismus.
Mit seiner äußerst kritischen Perspektive auf die politische Instrumentalisierung des Völkermordkonzepts fordert Sémelin die Genozidforschung auf, sich von den Rechtswissenschaften zu emanzipieren und sich als eigenständige Disziplin innerhalb der Sozialwissenschaften zu etablieren.
Jacques Sémelins vergleichende Analyse des Holocaust, des Genozids in Ruanda und der ethnischen Säuberungen in Bosnien-Herzegowina ist multidisziplinär angelegt und entwickelt einen intellektuellen Rahmen für die Analyse sämtlicher Ausprägungen von Massengewalt einschließlich des Terrorismus.
Mit seiner äußerst kritischen Perspektive auf die politische Instrumentalisierung des Völkermordkonzepts fordert Sémelin die Genozidforschung auf, sich von den Rechtswissenschaften zu emanzipieren und sich als eigenständige Disziplin innerhalb der Sozialwissenschaften zu etablieren.
Wahn und Kalkül organisierter Massentötungen
Angesichts der organisierten Massentötungen der Nationalsozialisten, der Massaker und Völkermorde im 20. Jahrhundert verschlägt es einem die Sprache. Die Versuchung ist groß, solche Zivilisationsbrüche als schlechthin unbegreiflich anzusehen, weil ihre Monstrosität unser Begriffsvermögen lähmt. Demgegenüber mag der Satz von Jacques Sémelin "Völkermord ist durchaus zu begreifen - und leider nur allzu gut" fast blasphemisch klingen. Aber er hat recht. Und nicht nur das: Erst wenn die Stufen der individuellen und kollektiven Verrohung begriffen werden, die die Voraussetzung für das Umschlagen abstrakter Vernichtungsphantasien in extreme Gewalthandlungen bildet, wenn die gesellschaftliche Dynamik, die zu ethnischen Säuberungen und Völkermord führt, erkannt wird, ergibt sich - vielleicht - die Chance der Gewaltprävention.
Die historische und sozialwissenschaftliche Genozid-Forschung ist noch relativ jung. Aber sie hat bereits eine Reihe von Untersuchungen hervorgebracht, mit deren Hilfe wir die Vorgeschichte, Entwicklung und den Ablauf von Großmassakern sowie ihre Konsequenzen für die überlebenden Opfer und die Täter besser verstehen lernen. Das Buch von Jacques Sémelin gehört wegen seiner Informationsfülle und seines Gedankenreichtums zweifellos zu den Spitzenprodukten dieser Forschung. Der Autor ist Politikwissenschaftler und Forschungsdirektor am Centre d'Etudes et de Recherches Internationales in Paris. Zur langen Liste seiner Veröffentlichungen gehört auch ein subtiles Buch über den deutschen Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime.
Um seine Überlegungen und Erklärungsansätze auf eine möglichst breite Grundlage zu stellen, benutzt Sémelin die Methode des Vergleichs. Verglichen werden die organisierten Massentötungen des "Dritten Reiches" und darunter vor allem die Vernichtung der europäischen Juden, die auf ethnische Säuberung ausgerichteten Großmassaker im ehemaligen Jugoslawien, vor allem die an den Bosniern, und schließlich der interne Völkermord in Ruanda. Diese drei Fallbeispiele unterscheiden sich in vielen Aspekten; aber sie weisen auch eine Reihe von Gemeinsamkeiten auf, aus denen sich so etwas wie eine Soziologie der Massaker in der Moderne ableiten lässt.
Geordnet hat Sémelin sein Material in sechs umfangreichen Kapiteln, in deren Mittelpunkt jeweils ein wichtiger Aspekt extremer Massengewalt steht. Er beginnt mit einer kurzen, im Lauf der Untersuchung dann wieder aufgegriffenen Reflexion über die Grundbegriffe der Genozid-Forschung und speziell über den des Völkermordes, den er für zu ungenau hält. Er zieht deshalb wohlbegründet den Begriff des Massakers als allgemeinen gemeinsamen Nenner für die unterschiedlichen Massentötungen in der Moderne vor und fasst ihn als "zumeist kollektive Form der Vernichtung von Nicht-Kombattanten". Die sozialpsychologische Logik solcher Massengewalt, denn ihr wohnt in der Tat eine solche Logik inne, fußt auf der Sündenbockstrategie, einem mit kollektiven Ängsten besetzten und imaginär aufgebauschten Feindbild und der Tötung als Reinigungs- und Heilungsakt. Entscheidend ist die Angst: Verschwörungsdenken und kollektive Paranoia lassen sich mit ihrer Hilfe leicht in eine wahnhafte Rationalität ummünzen. Wahn und Kalkül, das Imaginäre und die Rationalität haben hier breite Schnittfelder.
Solche Schnittfelder entstehen aber nicht von selbst. Sie werden vielmehr in einem Identitätsdiskurs hergestellt oder, wie man heute in den Sozialwissenschaften sagt: konstruiert. Die Konstrukteure sind Politiker, Intellektuelle, zuweilen auch religiöse Führer. Ihr aufhetzender Diskurs bereitet die Legitimation extremer Gewalt vor. Medien schüren die Gewaltstimmung, die schließlich so aufgepeitscht ist, dass das Tötungstabu bröckelt. Der Mord unterliegt nicht mehr einem Verbot, das man respektieren muss. Er wird stattdessen zum Gründungsakt eines neuen, gereinigten Kollektivs. Diese Dynamik entwickelt einen Sog, gegen den die Einzelnen nur schwer ankommen. Aber möglich ist das schon, und Sémelin führt eine Reihe von Widerstandsbeispielen aus Deutschland, Bosnien und Ruanda an - aber vermutlich kann niemand, der sich nicht in einer vergleichbaren Situation befindet, sagen, ob er das Bewusstsein und die Kraft zu solchem Widerstand würde aufbringen können.
Ein besonders wichtiges Kapitel widmet Sémelin dem internationalen Kontext, denn unabhängig von ihm sind die Vorgänge in Deutschland, in Bosnien und Ruanda nicht zu verstehen. Die oben geschilderte sozialpsychologische und politische Dynamik wird nicht nur von innen, sondern auch von außen beeinflusst. Es gibt keinen automatisch funktionierenden politischen oder rechtlichen Ansatzpunkt für das Einschreiten der euphemistisch sogenannten internationalen Gemeinschaft gegen Gewalt und Massaker in einem Land. Informationen über solche Gewalt bewirken in der Ferne zwar ein Erschrecken, das aber oft folgenlos bleibt. Eine glaubwürdige Information muss auch nicht unbedingt Glauben finden. Das "globale Dorf", in dem die Allgegenwart der Medien jedes Massaker verhindern kann, weil stets eine Fernsehkamera den Schrecken zur Anklage bringt, ist nach Sémelin nichts als eine Illusion.
Im zweiten Teil seines Buches geht der Autor auf das Mikromanagement der Vernichtungsaktionen ein, auf das Abgleiten in den Massenmord und die Greueltaten sowie auf den politischen Gebrauch von Massakern, ethnischen Säuberungen und Völkermorden. Es bedürfte einer fast unvorstellbar großen politischen Entschlossenheit auf internationaler Ebene, um die Epoche der Massaker und Völkermorde wirklich zu überwinden.
WILFRIED VON BREDOW.
Jacques Sémelin: Säubern und Vernichten. Die politische Dimension von Massakern und Völkermorden. Aus dem Französischen von Thomas Laugstien. Hamburger Edition, Hamburg 2007. 450 S., 40,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Hans-Lukas Kieser begrüßt dieses Buch des französischen Historikers und Politologen Jacques Semelin, in dem der Autor versucht, die Elemente und Ursprünge extremer Gewalt, wie sie vor allem bei Massakern und Völkermorden vorkommt, aus politischer Perspektive zu analysieren. Nicht nur gesellschaftlich und historisch geht Semelin dabei vor, sondern auch psychologisch, und das "jenseits einfacher Dämonisierungen", lobt der Rezensent. "Sorgfältige Reflexion" verbinde sich hier mit historischer Anschauung; im Zentrum von Semelins Betrachtungen stehen dabei Ruanda 1994 und das Ex-Jugoslawien der 1990er Jahre. So hat sich Kieser durch die Lektüre viele neue Einblicke in dieses überaus komplexe Thema verschaffen können, gerade auch, was zum Beispiel die Psychologie der Täter betrifft: Dass diese in ihrer Wahnhaftigkeit oft nicht anders können, als den Mord an ihren Opfern zu beschönigen und diese am Ende sogar selbst dafür verantwortlich zu machen, sieht Semelin nicht zuletzt als Ausdruck einer "sakralen Nähe von Gewalt und Opfer".
© Perlentaucher Medien GmbH
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