Südtiroler Volkserzählungen im O-Ton: Sensation für den Fachmann, Genuß für den Leser. Authentische, unverfälschte Volkserzählungen sozusagen direkt aus dem Mund des Erzählers finden Sie in dieser Sammlung. Zu Beginn der 40er Jahren zeichnete Willi Mai in ganz Südtirol über 2000 Sagen und Märchen, Schwänke, Witze und Geschichten aller Art auf. Ohne in die Wortwahl und in den Satzbau der Erzähler einzugreifen, brachte er diese Erzählungen zu Papier. So entstand eine Sammlung, welche die Sagen der Südtiroler lebendig und unmittelbar ausdrückt. Leander Petzoldt, profunder Kenner der europäischen Sagenlandschaft, hat die Sammlung von Willi Mai mit Anmerkungen und Kommentaren versehen. Bisher sind nur einzelne Texte der Mai-Sammlung veröffentlicht worden: Jetzt liegt eine der letzten großen Sagensammlungen des deutschen Sprachraums geschlossen vor. Bilder aus alten Handschriften und Drucken sowie alte Stiche illustrieren die Sagen von Geistern und Hexen, von Riesen und verborgenen Schätzen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.03.2001Volksüberlieferung als Politikum
Die Sammlung Willi Mai: Auftrag des "Ahnenerbes" der SS
Sagen, Märchen und Schwänke aus Südtirol. Gesammelt von Willi Mai. Im Auftrag der Gesellschaft für Tiroler Volkskultur herausgegeben von Leander Petzoldt. Band 1: Wipptal, Pustertal, Gadertal. Verlagsanstalt Tyrolia, Innsbruck 2000. 632 Seiten, 53,50 Mark.
Kurz vor dem Zweiten Weltkrieg verabredeten "Reichsführer SS" Himmler und Außenminister Graf Ciano, Palladine Hitlers und Mussolinis, die Beseitigung eines "Sperriegels", der ihrer auf Krieg zielenden "Achsenmächte"-Partnerschaft im Wege stand. Gemäß Optionsvertrag zwischen Berlin und Rom hatten sich die Südtiroler - Beutegut Italiens aus der Annexion des Gebiets südlich des Brenners - zu entscheiden, ob sie in ihrer Heimat, in der ihre Vorfahren seit 1200 Jahren ansässig waren, bleiben und fortan unumstritten Italiener sein wollten oder aber Südtirol verlassen, also "heim ins Reich" wollten. Die Umsiedlung, für die sich mehr als 80 Prozent entschieden, geriet nach Kriegsbeginn rasch ins Stocken.
Bevor es zur eigentlichen Umsiedlung kam, hatte sich Himmlers "Ahnenerbe" dessen anzunehmen, was von der überkommenen "bluteigenen" Volkskultur entweder zurückgelassen oder von den "Volksgenossen" mitgenommen werden sollte ins Elsaß, nach Lothringen, nach Böhmen, in den Warthegau, in die Ukraine, auf die Krim. Also zogen Volkskundler aus, um die materielle (bäuerliche und handwerkliche Bau- und Arbeitsformen) sowie die immaterielle Volkskultur (Überlieferung der mündlich tradierten Literatur und des Brauchtums) der zu Entwurzelnden aufzuzeichnen und sie damit für die ungewisse Zukunft sowie für die Wissenschaft zu konservieren.
Einer der "Sammler" war der aus der Pfalz stammende und in Berlin lebende Dr. Willi Mai. Er verzeichnete alle Regungen der Volkspoesie zwischen Brenner und Salurner Klause, zwischen Reschenpaß und Rosengarten. 1940/41 zog er sieben Monate lang durchs Land, stenographierte, machte Magnettonbandaufnahmen und schuf somit eine einzigartige Sammlung von zweitausend Sagen, Märchen und Schwänken. "Nach dem Krieg" - so war mit dem Königsberger Ordinarius Otto Maußer ausgemacht - wollte er sich auf der Grundlage dieses "einmaligen Schatzes der Volkspoesie" habilitieren und das Material, das mit Einverständnis des "Ahnenerbes" in Berlin verwahrt wurde, publizieren. Dazu kam es nicht: Mai fiel in den letzten Kriegstagen als Angehöriger eines Panzerverbandes der Waffen-SS nahe Székesfehérvár (Stuhlweißenburg) in Ungarn.
Der Witwe Mais ist es zu verdanken, daß die Sammlung über den Krieg gerettet werden konnte. Mehrfach wurde sie ausgebombt, in Berlin, in Pirmasens, in Ansbach, in Garching bei München. Sie schleppte den Rucksack mit den Schriften und Tonbändern von Ort zu Ort, verteidigte ihn gegen einen wenig (sach-)verständigen amerikanischen Beschlagnahme-Offizier.
Obwohl die "Volkskunde" als wissenschaftliche Disziplin wegen vieler "Blut und Boden"-Forschungsprogramme in Verruf geraten war, nach dem Zweiten Weltkrieg an manchen Hochschulen nicht wieder zugelassen wurde und an anderen überwiegend in "Europäische Ethnologie" umbenannt wurde, blieb Mais "Ahnenerbe"-Sammlung äußerst begehrt. Marianne Direder-Mai lieh sie "zur Abschrift" an die Universität Marburg/Lahn aus - und erhielt sie gefleddert zurück. Jahrelang mußte sie sich gegen eine "Ausbeuterin" in Wien prozessural zur Wehr setzen, die das entliehene Konvolut gar nicht mehr zurückgeben wollte. Schließlich übereignete sie es notariell der "Gesellschaft für Tiroler Volkskultur", so daß die Sammlung in Zusammenarbeit mit dem Innsbrucker Volkskunde-Ordinarius Leander Petzoldt im Südtiroler Landesarchiv in Bozen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden konnte.
Petzoldt, international renommierter vergleichender Erzählforscher, hat sie für eine vorbildliche Edition aufbereitet. Der erste voluminöse, erhellend kommentierte und mit reichem Anmerkungsapparat versehene Band (Wipptal, Pustertal, Gadertal) liegt bereits, die Publikation des zweiten (Vinschgau, Etschland) steht bevor. Beide Bände stellen eine Fundgrube für die Forschung dar, die sich -- auch und gerade unter zeitgeschichtlich-politischer Herangehensweise - damit befassen kann, aus welchen Wurzeln, Vorlagen und Überlieferungen die "erzählenden" Gewährsleute der Jahre 1940/41 schöpften.
Die Frage, "wie politisch" derlei Zeugnisse der Volksüberlieferung unter den besonderen Bedingungen ihres Zustandekommens denn gewesen seien, vermochte Petzoldt für die Sammlung Mai noch nicht "endgültig" zu beantworten. Allerdings stellt er aufgrund seiner Forschungsergebnisse vehement in Abrede, Mai habe seinerzeit in Sammlung und Niederschrift den ideologischen Überbau seiner Auftraggeber oder deren Vorgaben einfließen lassen. Im Falle Mais kommt es einem wie eine List der Geschichte vor: die leidvolle Option der Südtiroler erbrachte als "Nebenergebnis" einen Fundus, der einem geisteswissenschaftlichen "Schatz" gleichkommt, von dem aus heutiger Sicht nicht gewiß ist, ob er unter anderen Umständen je hätte gehoben werden können.
REINHARD OLT
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Sammlung Willi Mai: Auftrag des "Ahnenerbes" der SS
Sagen, Märchen und Schwänke aus Südtirol. Gesammelt von Willi Mai. Im Auftrag der Gesellschaft für Tiroler Volkskultur herausgegeben von Leander Petzoldt. Band 1: Wipptal, Pustertal, Gadertal. Verlagsanstalt Tyrolia, Innsbruck 2000. 632 Seiten, 53,50 Mark.
Kurz vor dem Zweiten Weltkrieg verabredeten "Reichsführer SS" Himmler und Außenminister Graf Ciano, Palladine Hitlers und Mussolinis, die Beseitigung eines "Sperriegels", der ihrer auf Krieg zielenden "Achsenmächte"-Partnerschaft im Wege stand. Gemäß Optionsvertrag zwischen Berlin und Rom hatten sich die Südtiroler - Beutegut Italiens aus der Annexion des Gebiets südlich des Brenners - zu entscheiden, ob sie in ihrer Heimat, in der ihre Vorfahren seit 1200 Jahren ansässig waren, bleiben und fortan unumstritten Italiener sein wollten oder aber Südtirol verlassen, also "heim ins Reich" wollten. Die Umsiedlung, für die sich mehr als 80 Prozent entschieden, geriet nach Kriegsbeginn rasch ins Stocken.
Bevor es zur eigentlichen Umsiedlung kam, hatte sich Himmlers "Ahnenerbe" dessen anzunehmen, was von der überkommenen "bluteigenen" Volkskultur entweder zurückgelassen oder von den "Volksgenossen" mitgenommen werden sollte ins Elsaß, nach Lothringen, nach Böhmen, in den Warthegau, in die Ukraine, auf die Krim. Also zogen Volkskundler aus, um die materielle (bäuerliche und handwerkliche Bau- und Arbeitsformen) sowie die immaterielle Volkskultur (Überlieferung der mündlich tradierten Literatur und des Brauchtums) der zu Entwurzelnden aufzuzeichnen und sie damit für die ungewisse Zukunft sowie für die Wissenschaft zu konservieren.
Einer der "Sammler" war der aus der Pfalz stammende und in Berlin lebende Dr. Willi Mai. Er verzeichnete alle Regungen der Volkspoesie zwischen Brenner und Salurner Klause, zwischen Reschenpaß und Rosengarten. 1940/41 zog er sieben Monate lang durchs Land, stenographierte, machte Magnettonbandaufnahmen und schuf somit eine einzigartige Sammlung von zweitausend Sagen, Märchen und Schwänken. "Nach dem Krieg" - so war mit dem Königsberger Ordinarius Otto Maußer ausgemacht - wollte er sich auf der Grundlage dieses "einmaligen Schatzes der Volkspoesie" habilitieren und das Material, das mit Einverständnis des "Ahnenerbes" in Berlin verwahrt wurde, publizieren. Dazu kam es nicht: Mai fiel in den letzten Kriegstagen als Angehöriger eines Panzerverbandes der Waffen-SS nahe Székesfehérvár (Stuhlweißenburg) in Ungarn.
Der Witwe Mais ist es zu verdanken, daß die Sammlung über den Krieg gerettet werden konnte. Mehrfach wurde sie ausgebombt, in Berlin, in Pirmasens, in Ansbach, in Garching bei München. Sie schleppte den Rucksack mit den Schriften und Tonbändern von Ort zu Ort, verteidigte ihn gegen einen wenig (sach-)verständigen amerikanischen Beschlagnahme-Offizier.
Obwohl die "Volkskunde" als wissenschaftliche Disziplin wegen vieler "Blut und Boden"-Forschungsprogramme in Verruf geraten war, nach dem Zweiten Weltkrieg an manchen Hochschulen nicht wieder zugelassen wurde und an anderen überwiegend in "Europäische Ethnologie" umbenannt wurde, blieb Mais "Ahnenerbe"-Sammlung äußerst begehrt. Marianne Direder-Mai lieh sie "zur Abschrift" an die Universität Marburg/Lahn aus - und erhielt sie gefleddert zurück. Jahrelang mußte sie sich gegen eine "Ausbeuterin" in Wien prozessural zur Wehr setzen, die das entliehene Konvolut gar nicht mehr zurückgeben wollte. Schließlich übereignete sie es notariell der "Gesellschaft für Tiroler Volkskultur", so daß die Sammlung in Zusammenarbeit mit dem Innsbrucker Volkskunde-Ordinarius Leander Petzoldt im Südtiroler Landesarchiv in Bozen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden konnte.
Petzoldt, international renommierter vergleichender Erzählforscher, hat sie für eine vorbildliche Edition aufbereitet. Der erste voluminöse, erhellend kommentierte und mit reichem Anmerkungsapparat versehene Band (Wipptal, Pustertal, Gadertal) liegt bereits, die Publikation des zweiten (Vinschgau, Etschland) steht bevor. Beide Bände stellen eine Fundgrube für die Forschung dar, die sich -- auch und gerade unter zeitgeschichtlich-politischer Herangehensweise - damit befassen kann, aus welchen Wurzeln, Vorlagen und Überlieferungen die "erzählenden" Gewährsleute der Jahre 1940/41 schöpften.
Die Frage, "wie politisch" derlei Zeugnisse der Volksüberlieferung unter den besonderen Bedingungen ihres Zustandekommens denn gewesen seien, vermochte Petzoldt für die Sammlung Mai noch nicht "endgültig" zu beantworten. Allerdings stellt er aufgrund seiner Forschungsergebnisse vehement in Abrede, Mai habe seinerzeit in Sammlung und Niederschrift den ideologischen Überbau seiner Auftraggeber oder deren Vorgaben einfließen lassen. Im Falle Mais kommt es einem wie eine List der Geschichte vor: die leidvolle Option der Südtiroler erbrachte als "Nebenergebnis" einen Fundus, der einem geisteswissenschaftlichen "Schatz" gleichkommt, von dem aus heutiger Sicht nicht gewiß ist, ob er unter anderen Umständen je hätte gehoben werden können.
REINHARD OLT
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