Eine Inkunabel des frühen Surrealismus: nach über einhundert Jahren zum ersten Mal wieder mit den eigens für den Text geschaffenen Radierungen von Pablo Picasso vereint. Die Erstausgabe, 1911 bei Kahnweiler in Paris in einhundert Exemplaren erschienen, gehört heute zu den Preziosen berühmter Bibliotheken. Die wenigen auf dem Kunstmarkt gehandelten Exemplare erzielen verlässlich hohe Preise im fünf- bis sechsstelligen Bereich.
Dieser kleine Roman aus dem Jahre 1911 ist eine Entdeckung, ein noch nie ins Deutsche übersetztes Meisterwerk des beginnenden 20. Jahrhunderts. Er ist ein Zeugnis der Literatur der frühen Moderne, von überschäumender Fantasie und gleichzeitig ein Meilenstein auf dem Weg zum Surrealismus. Jacob erzählt darin die Geschichte des kleinen Metroangestellten Victor Matorel, der etwas wirr im Kopf ist, sich zum Katholizismus bekehrt und als Bruder Manassé 19 Monate in einem Lazaristenkloster verbringt, ehe er »im Geruch der Heiligkeit« stirbt und zusammen mit seinem Freund Émile Cordier, der sich ebenfalls zum Katholizismus bekehrt hat, auf einem Pferd durch die sieben Sphären zum Himmel aufsteigt.
Saint Matorel, der viel Autobiografisches enthält, entwickelt sich keineswegs chronologisch. So beginnt der Roman mit der Begegnung des Autors mit Victor Matorel in der Metro, um dann gleich vom Tod Matorels und seinem Aufstieg in die Sphären zu berichten. Er zeigt schon das Imitationstalent von Max Jacob, die Fähigkeit, sich in die Haut anderer zu versetzen, die bis zum Identitätsverlust geht. Der Roman ist komplex, burlesk und poetisch zugleich, voller theosophischer und mythologischer Anspielungen und überreich an Bildern. Er erschien zuerst 1911 in der Galerie Simon (bei Kahnweiler) mit kubistischen Graphiken von Picasso, die wir die Freude haben, in der deutschen Ausgabe mit abdrucken zu dürfen.
Dieser kleine Roman aus dem Jahre 1911 ist eine Entdeckung, ein noch nie ins Deutsche übersetztes Meisterwerk des beginnenden 20. Jahrhunderts. Er ist ein Zeugnis der Literatur der frühen Moderne, von überschäumender Fantasie und gleichzeitig ein Meilenstein auf dem Weg zum Surrealismus. Jacob erzählt darin die Geschichte des kleinen Metroangestellten Victor Matorel, der etwas wirr im Kopf ist, sich zum Katholizismus bekehrt und als Bruder Manassé 19 Monate in einem Lazaristenkloster verbringt, ehe er »im Geruch der Heiligkeit« stirbt und zusammen mit seinem Freund Émile Cordier, der sich ebenfalls zum Katholizismus bekehrt hat, auf einem Pferd durch die sieben Sphären zum Himmel aufsteigt.
Saint Matorel, der viel Autobiografisches enthält, entwickelt sich keineswegs chronologisch. So beginnt der Roman mit der Begegnung des Autors mit Victor Matorel in der Metro, um dann gleich vom Tod Matorels und seinem Aufstieg in die Sphären zu berichten. Er zeigt schon das Imitationstalent von Max Jacob, die Fähigkeit, sich in die Haut anderer zu versetzen, die bis zum Identitätsverlust geht. Der Roman ist komplex, burlesk und poetisch zugleich, voller theosophischer und mythologischer Anspielungen und überreich an Bildern. Er erschien zuerst 1911 in der Galerie Simon (bei Kahnweiler) mit kubistischen Graphiken von Picasso, die wir die Freude haben, in der deutschen Ausgabe mit abdrucken zu dürfen.
Wir leben alle wie die Toten
Nach mehr als hundert Jahren erscheint der Roman "Saint Matorel" von Max Jacob erstmals auf Deutsch
Wie Weltanschauungen empfindsame Geister in heillose Turbulenzen stürzen können, dafür ist der französische Dichter und Maler Max Jacob ein herausragendes Beispiel. Zur Welt gekommen 1876 in der bretonischen Stadt Quimper, erlebte er die aufgeregten Zeiten der Jahre um 1900 und die Zwanziger in Paris, wohin es ihn 1894 gezogen hatte - zum Jurastudium, das er allerdings schnell aufgab. Die Welt der Künstler und der Aufbruch in die Moderne zogen ihn an. Alle waren jung, alle waren bettelarm, alle steckten voller kühner Ideen und genossen überschwänglich ihr Leben. Jacob lernte Picasso kennen, sie wohnten eine Zeitlang in einem gemeinsamen Zimmer, später folgte Jacob dem Maler auf den Montmartre, wo das Atelierhaus "Bateau-Lavoir" der Treffpunkt der Künstlerboheme war.
Picasso forderte Jacob auf, er möge schreiben, und der tat es: zunächst Gedichte, und 1911 veröffentlichte er seinen ersten Roman "Saint Matorel", herausgegeben von der Galerie Kahnweiler und ausgestattet mit vier kubistischen Radierungen von Picasso. Kurz zuvor hatte Jacob ein einschneidendes Erlebnis: Am 22. September 1909 von der Bibliothèque Nationale kommend, hatte er in seinem bescheidenen Hinterhofzimmer eine Christusvision, die sein Leben umstülpte. Der gebürtige Jude wollte, im wahrsten Sinne auf Teufel komm raus, Katholik werden. Das war eine Konversion, die durchaus im Geist der Zeit lag: Paul Claudel, Léon Bloy, Joris-Karl Huysmans und viele andere mehr suchten ihr Heil im Katholizismus. Für Max Jacob war es ein steiniger und langer Weg bis hin zum Mönchsdasein in einem Kloster, das der Schriftsteller aber bereits in seinem ersten Roman als Fiktion vorwegnahm.
Victor Matorel ist Arbeiter bei der Metro und in einem Kaufhaus tätig, seinen Freund Émile Cordier will er mitführen auf den Weg zur Bekehrung. Aber nichts läuft in diesem Roman geradlinig, zu Beginn ist Matorel bereits tot, dann ist er eingekehrt in einem Kloster bei Barcelona, dann reitet er mit einem geflügelten Pferd in den achten Himmel, den Freund hinter sich sitzend, und dann ist er plötzlich wieder auf der Erde, seinem Freund zurufend: "Die Wahrheit! Die Wahrheit! Émile! Mein Freund Émile! Wir leben alle wie die Toten. Wir sind lebende Tote."
Matorel stürmt durch alle Welten, durch alle Mythologien, die griechische, römische, jüdische, durch die Planeten des Sonnensystems; als Leser hat man alle Mühe, Orientierung zu finden. Die Kabbalah, das Alte Testament, das ägyptische Totenbuch - Victor Matorel sucht überall Inspiration. In burlesken und komischen Szenen entwirft er apokalyptische Halluzinationen und stolpert wie ein heiliger Narr über theosophische Fallstricke. Er disputiert mit Engeln und Dämonen, fordert den Teufel heraus und zerpflückt die Zeit in immer wildere Episoden.
Der Poet Jacob tänzelt zwischen Symbolismus und Surrealismus. Das Pariser Künstlerleben war ihm vertraut, er strebte nach Anerkennung und Zustimmung, aber er gehörte nicht zur ersten Reihe, auch wenn er mit allen Zelebritäten befreundet war und ein geselliges Leben führte, wenn er nicht gerade im Kloster weilte. Seine Romanfigur Victor Matorel wirkt wie ein Irrlicht auf dem Weg des Poeten. Immer wieder ist Matorel im Roman tot, und es geht darum, seine Nachlassnotizen zu sammeln. Der Leser wird aufgefordert: "Bemerken Sie anhand der Notizen, die Sie lesen werden, wie der religiöse Gedanke, das, was wir die ,mystische Psychose' nennen, in diesem kranken Hirn mit dem Gedanken ,Gewissensbisse' verbunden ist. Achten Sie darauf, wie der Gedanke ,Krankenhaus, Kloster, Gefängnis, Gewissensbisse, Paul Verlaine' sich leicht bei diesem Unglücklichen vermischen und verwirren lässt, zweifellos Enkel von Tuberkulosekranken und Syphilitikern. Was immer mit dem künstlerischen Rang dieses Werks geschehen mag, so sind wir doch sicher, ein dem Gelehrten nützliches Monument errichtet zu haben, das für die Geschichte der Bestie Mensch unerlässliche Dokumente zusammenfasst."
"Gewissensbisse" sind für Jacob ein zentraler Begriff. Das peinliche Gefühl, nicht ernsthaft genug dem Glauben gedient zu haben, quält seine Figur Matorel ebenso wie den leibhaftigen Jacob, dessen Leben von reumütigen Bußübungen geprägt ist, weil er immer wieder in bohemehafte Ausschweifungen verfällt und nicht gottesfürchtig ist. Es bleibt ein Rätsel, ob der exzentrische Poet - wie auch die Romanfigur - ein Heiliger oder ein Narr war. André Breton hielt Jacob für einen genialen Scharlatan, andere Zeitgenossen wie Picasso oder Apollinaire schätzten ihn als führenden Dichter der Moderne. Seine deutsche Übersetzerin Una Pfau, die sich seit Jahrzehnten mit dem Werk des Dichters und dem Kubismus beschäftigt und nun die sprachlichen Kühnheiten und gedanklichen Saltos des Buchs bravourös ins Deutsche übertragen hat, zählt den Roman "Saint Matorel" zu den wichtigsten Texten der frühen französischen Moderne.
Das Schicksal Max Jacobs ist gezeichnet von all den Wunden, die das zwanzigste Jahrhundert hinterlassen hat. Von Mitte der dreißiger Jahre an zog sich der Dichter wieder aus Paris zurück in eine klösterliche Umgebung in der Nähe von Orléans. Unter nationalsozialistischer Besatzung war Jacobs Leben bedroht, obwohl er doch mit so glühendem Eifer Katholik sein wollte. Freunde wollten ihn in den freien Teil Frankreichs holen, aber Jacob lehnte ab, denn seine Geschwister lebten noch in der Bretagne, und er glaubte, ihnen helfen zu können. Ein fataler Irrtum. Am 24. Februar 1944 in der Früh wurde er von der Gestapo abgeholt und ins Konzentrationslager Drancy nördlich von Paris gebracht. Jean Cocteau setzte sich sofort für ihn ein, verfasste eine Bittschrift an die deutsche Botschaft, die an den Botschaftsrat Van Bose geriet, der erstaunlicherweise Werke des Dichters kannte und sich für ihn einsetzte. Am 6. März erwirkte Van Bose seine Freilassung, doch Max Jacob war bereits einen Tag früher, am 5. März 1944, im Lager an einer Lungenentzündung gestorben.
LERKE VON SAALFELD
Max Jacob: "Saint Matorel". Roman.
Mit vier Radierungen von Pablo Picasso. Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Una Pfau. Osburg Verlag, Hamburg 2020.
157 S. geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nach mehr als hundert Jahren erscheint der Roman "Saint Matorel" von Max Jacob erstmals auf Deutsch
Wie Weltanschauungen empfindsame Geister in heillose Turbulenzen stürzen können, dafür ist der französische Dichter und Maler Max Jacob ein herausragendes Beispiel. Zur Welt gekommen 1876 in der bretonischen Stadt Quimper, erlebte er die aufgeregten Zeiten der Jahre um 1900 und die Zwanziger in Paris, wohin es ihn 1894 gezogen hatte - zum Jurastudium, das er allerdings schnell aufgab. Die Welt der Künstler und der Aufbruch in die Moderne zogen ihn an. Alle waren jung, alle waren bettelarm, alle steckten voller kühner Ideen und genossen überschwänglich ihr Leben. Jacob lernte Picasso kennen, sie wohnten eine Zeitlang in einem gemeinsamen Zimmer, später folgte Jacob dem Maler auf den Montmartre, wo das Atelierhaus "Bateau-Lavoir" der Treffpunkt der Künstlerboheme war.
Picasso forderte Jacob auf, er möge schreiben, und der tat es: zunächst Gedichte, und 1911 veröffentlichte er seinen ersten Roman "Saint Matorel", herausgegeben von der Galerie Kahnweiler und ausgestattet mit vier kubistischen Radierungen von Picasso. Kurz zuvor hatte Jacob ein einschneidendes Erlebnis: Am 22. September 1909 von der Bibliothèque Nationale kommend, hatte er in seinem bescheidenen Hinterhofzimmer eine Christusvision, die sein Leben umstülpte. Der gebürtige Jude wollte, im wahrsten Sinne auf Teufel komm raus, Katholik werden. Das war eine Konversion, die durchaus im Geist der Zeit lag: Paul Claudel, Léon Bloy, Joris-Karl Huysmans und viele andere mehr suchten ihr Heil im Katholizismus. Für Max Jacob war es ein steiniger und langer Weg bis hin zum Mönchsdasein in einem Kloster, das der Schriftsteller aber bereits in seinem ersten Roman als Fiktion vorwegnahm.
Victor Matorel ist Arbeiter bei der Metro und in einem Kaufhaus tätig, seinen Freund Émile Cordier will er mitführen auf den Weg zur Bekehrung. Aber nichts läuft in diesem Roman geradlinig, zu Beginn ist Matorel bereits tot, dann ist er eingekehrt in einem Kloster bei Barcelona, dann reitet er mit einem geflügelten Pferd in den achten Himmel, den Freund hinter sich sitzend, und dann ist er plötzlich wieder auf der Erde, seinem Freund zurufend: "Die Wahrheit! Die Wahrheit! Émile! Mein Freund Émile! Wir leben alle wie die Toten. Wir sind lebende Tote."
Matorel stürmt durch alle Welten, durch alle Mythologien, die griechische, römische, jüdische, durch die Planeten des Sonnensystems; als Leser hat man alle Mühe, Orientierung zu finden. Die Kabbalah, das Alte Testament, das ägyptische Totenbuch - Victor Matorel sucht überall Inspiration. In burlesken und komischen Szenen entwirft er apokalyptische Halluzinationen und stolpert wie ein heiliger Narr über theosophische Fallstricke. Er disputiert mit Engeln und Dämonen, fordert den Teufel heraus und zerpflückt die Zeit in immer wildere Episoden.
Der Poet Jacob tänzelt zwischen Symbolismus und Surrealismus. Das Pariser Künstlerleben war ihm vertraut, er strebte nach Anerkennung und Zustimmung, aber er gehörte nicht zur ersten Reihe, auch wenn er mit allen Zelebritäten befreundet war und ein geselliges Leben führte, wenn er nicht gerade im Kloster weilte. Seine Romanfigur Victor Matorel wirkt wie ein Irrlicht auf dem Weg des Poeten. Immer wieder ist Matorel im Roman tot, und es geht darum, seine Nachlassnotizen zu sammeln. Der Leser wird aufgefordert: "Bemerken Sie anhand der Notizen, die Sie lesen werden, wie der religiöse Gedanke, das, was wir die ,mystische Psychose' nennen, in diesem kranken Hirn mit dem Gedanken ,Gewissensbisse' verbunden ist. Achten Sie darauf, wie der Gedanke ,Krankenhaus, Kloster, Gefängnis, Gewissensbisse, Paul Verlaine' sich leicht bei diesem Unglücklichen vermischen und verwirren lässt, zweifellos Enkel von Tuberkulosekranken und Syphilitikern. Was immer mit dem künstlerischen Rang dieses Werks geschehen mag, so sind wir doch sicher, ein dem Gelehrten nützliches Monument errichtet zu haben, das für die Geschichte der Bestie Mensch unerlässliche Dokumente zusammenfasst."
"Gewissensbisse" sind für Jacob ein zentraler Begriff. Das peinliche Gefühl, nicht ernsthaft genug dem Glauben gedient zu haben, quält seine Figur Matorel ebenso wie den leibhaftigen Jacob, dessen Leben von reumütigen Bußübungen geprägt ist, weil er immer wieder in bohemehafte Ausschweifungen verfällt und nicht gottesfürchtig ist. Es bleibt ein Rätsel, ob der exzentrische Poet - wie auch die Romanfigur - ein Heiliger oder ein Narr war. André Breton hielt Jacob für einen genialen Scharlatan, andere Zeitgenossen wie Picasso oder Apollinaire schätzten ihn als führenden Dichter der Moderne. Seine deutsche Übersetzerin Una Pfau, die sich seit Jahrzehnten mit dem Werk des Dichters und dem Kubismus beschäftigt und nun die sprachlichen Kühnheiten und gedanklichen Saltos des Buchs bravourös ins Deutsche übertragen hat, zählt den Roman "Saint Matorel" zu den wichtigsten Texten der frühen französischen Moderne.
Das Schicksal Max Jacobs ist gezeichnet von all den Wunden, die das zwanzigste Jahrhundert hinterlassen hat. Von Mitte der dreißiger Jahre an zog sich der Dichter wieder aus Paris zurück in eine klösterliche Umgebung in der Nähe von Orléans. Unter nationalsozialistischer Besatzung war Jacobs Leben bedroht, obwohl er doch mit so glühendem Eifer Katholik sein wollte. Freunde wollten ihn in den freien Teil Frankreichs holen, aber Jacob lehnte ab, denn seine Geschwister lebten noch in der Bretagne, und er glaubte, ihnen helfen zu können. Ein fataler Irrtum. Am 24. Februar 1944 in der Früh wurde er von der Gestapo abgeholt und ins Konzentrationslager Drancy nördlich von Paris gebracht. Jean Cocteau setzte sich sofort für ihn ein, verfasste eine Bittschrift an die deutsche Botschaft, die an den Botschaftsrat Van Bose geriet, der erstaunlicherweise Werke des Dichters kannte und sich für ihn einsetzte. Am 6. März erwirkte Van Bose seine Freilassung, doch Max Jacob war bereits einen Tag früher, am 5. März 1944, im Lager an einer Lungenentzündung gestorben.
LERKE VON SAALFELD
Max Jacob: "Saint Matorel". Roman.
Mit vier Radierungen von Pablo Picasso. Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Una Pfau. Osburg Verlag, Hamburg 2020.
157 S. geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.05.2020Wir leben alle wie die Toten
Nach mehr als hundert Jahren erscheint der Roman "Saint Matorel" von Max Jacob erstmals auf Deutsch
Wie Weltanschauungen empfindsame Geister in heillose Turbulenzen stürzen können, dafür ist der französische Dichter und Maler Max Jacob ein herausragendes Beispiel. Zur Welt gekommen 1876 in der bretonischen Stadt Quimper, erlebte er die aufgeregten Zeiten der Jahre um 1900 und die Zwanziger in Paris, wohin es ihn 1894 gezogen hatte - zum Jurastudium, das er allerdings schnell aufgab. Die Welt der Künstler und der Aufbruch in die Moderne zogen ihn an. Alle waren jung, alle waren bettelarm, alle steckten voller kühner Ideen und genossen überschwänglich ihr Leben. Jacob lernte Picasso kennen, sie wohnten eine Zeitlang in einem gemeinsamen Zimmer, später folgte Jacob dem Maler auf den Montmartre, wo das Atelierhaus "Bateau-Lavoir" der Treffpunkt der Künstlerboheme war.
Picasso forderte Jacob auf, er möge schreiben, und der tat es: zunächst Gedichte, und 1911 veröffentlichte er seinen ersten Roman "Saint Matorel", herausgegeben von der Galerie Kahnweiler und ausgestattet mit vier kubistischen Radierungen von Picasso. Kurz zuvor hatte Jacob ein einschneidendes Erlebnis: Am 22. September 1909 von der Bibliothèque Nationale kommend, hatte er in seinem bescheidenen Hinterhofzimmer eine Christusvision, die sein Leben umstülpte. Der gebürtige Jude wollte, im wahrsten Sinne auf Teufel komm raus, Katholik werden. Das war eine Konversion, die durchaus im Geist der Zeit lag: Paul Claudel, Léon Bloy, Joris-Karl Huysmans und viele andere mehr suchten ihr Heil im Katholizismus. Für Max Jacob war es ein steiniger und langer Weg bis hin zum Mönchsdasein in einem Kloster, das der Schriftsteller aber bereits in seinem ersten Roman als Fiktion vorwegnahm.
Victor Matorel ist Arbeiter bei der Metro und in einem Kaufhaus tätig, seinen Freund Émile Cordier will er mitführen auf den Weg zur Bekehrung. Aber nichts läuft in diesem Roman geradlinig, zu Beginn ist Matorel bereits tot, dann ist er eingekehrt in einem Kloster bei Barcelona, dann reitet er mit einem geflügelten Pferd in den achten Himmel, den Freund hinter sich sitzend, und dann ist er plötzlich wieder auf der Erde, seinem Freund zurufend: "Die Wahrheit! Die Wahrheit! Émile! Mein Freund Émile! Wir leben alle wie die Toten. Wir sind lebende Tote."
Matorel stürmt durch alle Welten, durch alle Mythologien, die griechische, römische, jüdische, durch die Planeten des Sonnensystems; als Leser hat man alle Mühe, Orientierung zu finden. Die Kabbalah, das Alte Testament, das ägyptische Totenbuch - Victor Matorel sucht überall Inspiration. In burlesken und komischen Szenen entwirft er apokalyptische Halluzinationen und stolpert wie ein heiliger Narr über theosophische Fallstricke. Er disputiert mit Engeln und Dämonen, fordert den Teufel heraus und zerpflückt die Zeit in immer wildere Episoden.
Der Poet Jacob tänzelt zwischen Symbolismus und Surrealismus. Das Pariser Künstlerleben war ihm vertraut, er strebte nach Anerkennung und Zustimmung, aber er gehörte nicht zur ersten Reihe, auch wenn er mit allen Zelebritäten befreundet war und ein geselliges Leben führte, wenn er nicht gerade im Kloster weilte. Seine Romanfigur Victor Matorel wirkt wie ein Irrlicht auf dem Weg des Poeten. Immer wieder ist Matorel im Roman tot, und es geht darum, seine Nachlassnotizen zu sammeln. Der Leser wird aufgefordert: "Bemerken Sie anhand der Notizen, die Sie lesen werden, wie der religiöse Gedanke, das, was wir die ,mystische Psychose' nennen, in diesem kranken Hirn mit dem Gedanken ,Gewissensbisse' verbunden ist. Achten Sie darauf, wie der Gedanke ,Krankenhaus, Kloster, Gefängnis, Gewissensbisse, Paul Verlaine' sich leicht bei diesem Unglücklichen vermischen und verwirren lässt, zweifellos Enkel von Tuberkulosekranken und Syphilitikern. Was immer mit dem künstlerischen Rang dieses Werks geschehen mag, so sind wir doch sicher, ein dem Gelehrten nützliches Monument errichtet zu haben, das für die Geschichte der Bestie Mensch unerlässliche Dokumente zusammenfasst."
"Gewissensbisse" sind für Jacob ein zentraler Begriff. Das peinliche Gefühl, nicht ernsthaft genug dem Glauben gedient zu haben, quält seine Figur Matorel ebenso wie den leibhaftigen Jacob, dessen Leben von reumütigen Bußübungen geprägt ist, weil er immer wieder in bohemehafte Ausschweifungen verfällt und nicht gottesfürchtig ist. Es bleibt ein Rätsel, ob der exzentrische Poet - wie auch die Romanfigur - ein Heiliger oder ein Narr war. André Breton hielt Jacob für einen genialen Scharlatan, andere Zeitgenossen wie Picasso oder Apollinaire schätzten ihn als führenden Dichter der Moderne. Seine deutsche Übersetzerin Una Pfau, die sich seit Jahrzehnten mit dem Werk des Dichters und dem Kubismus beschäftigt und nun die sprachlichen Kühnheiten und gedanklichen Saltos des Buchs bravourös ins Deutsche übertragen hat, zählt den Roman "Saint Matorel" zu den wichtigsten Texten der frühen französischen Moderne.
Das Schicksal Max Jacobs ist gezeichnet von all den Wunden, die das zwanzigste Jahrhundert hinterlassen hat. Von Mitte der dreißiger Jahre an zog sich der Dichter wieder aus Paris zurück in eine klösterliche Umgebung in der Nähe von Orléans. Unter nationalsozialistischer Besatzung war Jacobs Leben bedroht, obwohl er doch mit so glühendem Eifer Katholik sein wollte. Freunde wollten ihn in den freien Teil Frankreichs holen, aber Jacob lehnte ab, denn seine Geschwister lebten noch in der Bretagne, und er glaubte, ihnen helfen zu können. Ein fataler Irrtum. Am 24. Februar 1944 in der Früh wurde er von der Gestapo abgeholt und ins Konzentrationslager Drancy nördlich von Paris gebracht. Jean Cocteau setzte sich sofort für ihn ein, verfasste eine Bittschrift an die deutsche Botschaft, die an den Botschaftsrat Van Bose geriet, der erstaunlicherweise Werke des Dichters kannte und sich für ihn einsetzte. Am 6. März erwirkte Van Bose seine Freilassung, doch Max Jacob war bereits einen Tag früher, am 5. März 1944, im Lager an einer Lungenentzündung gestorben.
LERKE VON SAALFELD
Max Jacob: "Saint Matorel". Roman.
Mit vier Radierungen von Pablo Picasso. Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Una Pfau. Osburg Verlag, Hamburg 2020.
157 S. geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nach mehr als hundert Jahren erscheint der Roman "Saint Matorel" von Max Jacob erstmals auf Deutsch
Wie Weltanschauungen empfindsame Geister in heillose Turbulenzen stürzen können, dafür ist der französische Dichter und Maler Max Jacob ein herausragendes Beispiel. Zur Welt gekommen 1876 in der bretonischen Stadt Quimper, erlebte er die aufgeregten Zeiten der Jahre um 1900 und die Zwanziger in Paris, wohin es ihn 1894 gezogen hatte - zum Jurastudium, das er allerdings schnell aufgab. Die Welt der Künstler und der Aufbruch in die Moderne zogen ihn an. Alle waren jung, alle waren bettelarm, alle steckten voller kühner Ideen und genossen überschwänglich ihr Leben. Jacob lernte Picasso kennen, sie wohnten eine Zeitlang in einem gemeinsamen Zimmer, später folgte Jacob dem Maler auf den Montmartre, wo das Atelierhaus "Bateau-Lavoir" der Treffpunkt der Künstlerboheme war.
Picasso forderte Jacob auf, er möge schreiben, und der tat es: zunächst Gedichte, und 1911 veröffentlichte er seinen ersten Roman "Saint Matorel", herausgegeben von der Galerie Kahnweiler und ausgestattet mit vier kubistischen Radierungen von Picasso. Kurz zuvor hatte Jacob ein einschneidendes Erlebnis: Am 22. September 1909 von der Bibliothèque Nationale kommend, hatte er in seinem bescheidenen Hinterhofzimmer eine Christusvision, die sein Leben umstülpte. Der gebürtige Jude wollte, im wahrsten Sinne auf Teufel komm raus, Katholik werden. Das war eine Konversion, die durchaus im Geist der Zeit lag: Paul Claudel, Léon Bloy, Joris-Karl Huysmans und viele andere mehr suchten ihr Heil im Katholizismus. Für Max Jacob war es ein steiniger und langer Weg bis hin zum Mönchsdasein in einem Kloster, das der Schriftsteller aber bereits in seinem ersten Roman als Fiktion vorwegnahm.
Victor Matorel ist Arbeiter bei der Metro und in einem Kaufhaus tätig, seinen Freund Émile Cordier will er mitführen auf den Weg zur Bekehrung. Aber nichts läuft in diesem Roman geradlinig, zu Beginn ist Matorel bereits tot, dann ist er eingekehrt in einem Kloster bei Barcelona, dann reitet er mit einem geflügelten Pferd in den achten Himmel, den Freund hinter sich sitzend, und dann ist er plötzlich wieder auf der Erde, seinem Freund zurufend: "Die Wahrheit! Die Wahrheit! Émile! Mein Freund Émile! Wir leben alle wie die Toten. Wir sind lebende Tote."
Matorel stürmt durch alle Welten, durch alle Mythologien, die griechische, römische, jüdische, durch die Planeten des Sonnensystems; als Leser hat man alle Mühe, Orientierung zu finden. Die Kabbalah, das Alte Testament, das ägyptische Totenbuch - Victor Matorel sucht überall Inspiration. In burlesken und komischen Szenen entwirft er apokalyptische Halluzinationen und stolpert wie ein heiliger Narr über theosophische Fallstricke. Er disputiert mit Engeln und Dämonen, fordert den Teufel heraus und zerpflückt die Zeit in immer wildere Episoden.
Der Poet Jacob tänzelt zwischen Symbolismus und Surrealismus. Das Pariser Künstlerleben war ihm vertraut, er strebte nach Anerkennung und Zustimmung, aber er gehörte nicht zur ersten Reihe, auch wenn er mit allen Zelebritäten befreundet war und ein geselliges Leben führte, wenn er nicht gerade im Kloster weilte. Seine Romanfigur Victor Matorel wirkt wie ein Irrlicht auf dem Weg des Poeten. Immer wieder ist Matorel im Roman tot, und es geht darum, seine Nachlassnotizen zu sammeln. Der Leser wird aufgefordert: "Bemerken Sie anhand der Notizen, die Sie lesen werden, wie der religiöse Gedanke, das, was wir die ,mystische Psychose' nennen, in diesem kranken Hirn mit dem Gedanken ,Gewissensbisse' verbunden ist. Achten Sie darauf, wie der Gedanke ,Krankenhaus, Kloster, Gefängnis, Gewissensbisse, Paul Verlaine' sich leicht bei diesem Unglücklichen vermischen und verwirren lässt, zweifellos Enkel von Tuberkulosekranken und Syphilitikern. Was immer mit dem künstlerischen Rang dieses Werks geschehen mag, so sind wir doch sicher, ein dem Gelehrten nützliches Monument errichtet zu haben, das für die Geschichte der Bestie Mensch unerlässliche Dokumente zusammenfasst."
"Gewissensbisse" sind für Jacob ein zentraler Begriff. Das peinliche Gefühl, nicht ernsthaft genug dem Glauben gedient zu haben, quält seine Figur Matorel ebenso wie den leibhaftigen Jacob, dessen Leben von reumütigen Bußübungen geprägt ist, weil er immer wieder in bohemehafte Ausschweifungen verfällt und nicht gottesfürchtig ist. Es bleibt ein Rätsel, ob der exzentrische Poet - wie auch die Romanfigur - ein Heiliger oder ein Narr war. André Breton hielt Jacob für einen genialen Scharlatan, andere Zeitgenossen wie Picasso oder Apollinaire schätzten ihn als führenden Dichter der Moderne. Seine deutsche Übersetzerin Una Pfau, die sich seit Jahrzehnten mit dem Werk des Dichters und dem Kubismus beschäftigt und nun die sprachlichen Kühnheiten und gedanklichen Saltos des Buchs bravourös ins Deutsche übertragen hat, zählt den Roman "Saint Matorel" zu den wichtigsten Texten der frühen französischen Moderne.
Das Schicksal Max Jacobs ist gezeichnet von all den Wunden, die das zwanzigste Jahrhundert hinterlassen hat. Von Mitte der dreißiger Jahre an zog sich der Dichter wieder aus Paris zurück in eine klösterliche Umgebung in der Nähe von Orléans. Unter nationalsozialistischer Besatzung war Jacobs Leben bedroht, obwohl er doch mit so glühendem Eifer Katholik sein wollte. Freunde wollten ihn in den freien Teil Frankreichs holen, aber Jacob lehnte ab, denn seine Geschwister lebten noch in der Bretagne, und er glaubte, ihnen helfen zu können. Ein fataler Irrtum. Am 24. Februar 1944 in der Früh wurde er von der Gestapo abgeholt und ins Konzentrationslager Drancy nördlich von Paris gebracht. Jean Cocteau setzte sich sofort für ihn ein, verfasste eine Bittschrift an die deutsche Botschaft, die an den Botschaftsrat Van Bose geriet, der erstaunlicherweise Werke des Dichters kannte und sich für ihn einsetzte. Am 6. März erwirkte Van Bose seine Freilassung, doch Max Jacob war bereits einen Tag früher, am 5. März 1944, im Lager an einer Lungenentzündung gestorben.
LERKE VON SAALFELD
Max Jacob: "Saint Matorel". Roman.
Mit vier Radierungen von Pablo Picasso. Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Una Pfau. Osburg Verlag, Hamburg 2020.
157 S. geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.05.2020Angewandter
Augustinismus
Max Jacobs Aufzeichnungen
aus dem Paris der Avantgarde
Max Jacob muss eine leidenschaftliche Tänzerin gewesen sein: „Die bis zu den Knien hochgeschlagenen Hosen gaben die behaarten Beine frei“, wie Fernande Olivier erzählt, Picassos erste Muse. „Hemdsärmlig, mit weitgeöffnetem Kragen, unter dem die mit schwarzgekräuselten Haaren gepolsterte Brust herausschaute, mit dem fast kahlen Kopf, den Kneifer immer auf der Nase, so tanzte er, indem er sich um äußerste Grazie bemühte, so dass man unentwegt lachen musste über diese Karikatur.“ Bei Picasso ist er streng, bei Modigliani ein Dandy, bei Man Ray als Connaisseur auf der Höhe seiner Freuden dargestellt. Dieser komische Heilige, der aus der bretonischen Provinz nach Paris kam, lebte am Montmartre mit dem noch vollkommen unbekannten Picasso zusammen, zeichnete, malte, schrieb Gedichte und nahm nicht wenig Drogen. Der Surrealismus war noch lang nicht erfunden, Apollinaire arbeitete als Finanzjournalist, Jacob im Lagerhaus.
Picasso hat seinen Freund zum Dichter erhoben: „Du bist ein Dichter, lebe als Dichter“, da konnte er gar nicht anders. Äther war es vermutlich, was Jacob 1909 zu einer lebensverrückenden Vision verhalf: Christus persönlich, so versicherte er, sei ihm erschienen, was ihn bewog, dem jüdischen Glauben zu entsagen und sich katholisch taufen zu lassen. Was immer es mit dieser Ekstase auf sich hatte, Jacob hatte einfach zu viel durcheinander gelesen: die Kabbala, die Evangelien, die Kirchenväter, Buddhistisches, Zoroastrisches. Er musste, Vorschrift seit Rimbaud, ein anderer werden. Zur Sicherheit trat Max Jacob später sogar in ein Kloster ein, doch auch das konnte ihn nicht von der „Sodomie“ befreien, von der Homosexualität, die er als Fluch empfand: „Ich habe die Liebe mit einem sanften Abscheu kennengelernt. Soll ich bedauern, dass ich Sodomit war, allerdings ohne Freude, aber mit Leidenschaft?“
Die Leidenschaft war in der Literatur kaum zu bändigen, wie das irisierende Drogenmärchen „Saint Matorel“ zeigt, das 1911 in der Galerie Kahnweiler mit vier Zeichnungen Picassos erschien und jetzt von Uta Pfau zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt worden ist. Es ist die Geschichte von Jacobs Bekehrung und ist es wieder nicht. Der Victor Matorel, der da mystische Gedanken formuliert, vom heiligmäßigen Leben träumt und manche Entrückung erlebt, arbeitet bei der Metro, er zieht mit einem Kleiderwagen über die Dörfer, um dem Land Kultur zu bringen, er reitet mit seinem Freund durch die Lüfte, geht ins Kloster, um Heilung zu finden, bespricht sich mit Dämonen und Engeln. „Ich werde mein ganzes Leben lang auf die Engel hören. Mein Leben wird nur ein Gebet sein.“ Aber das ist so scheinheilig, wie es nur die Kunst sein kann, oder wie es Victors Freund Cordier sagt: „Du bestehst nur aus Lüge und Poesie.“
Max Jacob konnte nicht gut heilig sein, wenn die Welt ihm offenstand, die Ateliers in Paris, das gute Leben unter den Freunden, die Kunst: „Er unterhielt uns, bis wir vor Lachen ganz müde waren“, wie Fernande Olivier versicherte. Frivol war er, ungebärdig, verspielt, in jedem Fall unorganisiert und närrisch, also genau das, was André Breton 1924 von den Surrealisten fordern sollte, nur ohne das Politkommissariatshafte, mit dem Breton die schönsten Kindereien verdarb. Bei Jacob geht es so hemmungslos zu, dass Satan, auch so eine krumme Figur, Matorel auffordert, aus der Venus Wurst zu machen und die Sonne zu Salat zu zerschneiden. Der arme, glückshungrige Matorel fleht: „Oh! Gott, liebe mich, sieh das Gezücht an, das ich bin.“ Die Dämonen, heißt es, winden sich vor Lachen, Matorel windet sich vor Kummer.
Diese Phantasmagorie mit Engeln, Dämonen und Satan entspricht Jacobs dialektischem Verständnis von Mystik: „Wenn ich am Vorabend schrecklich gesündigt habe, könntest Du mich am nächsten Tag, lang vor dem Morgengrauen, auf den Knien den Kreuzweg entlangrutschen sehen, ich ächze, ich schluchze, ich weine, ich schlage mir ins Gesicht … Am selben Abend verfalle ich wieder großen Abscheulichkeiten, weil ich nicht in der Lage bin, ohne Abscheulichkeiten zu leben.“ Das ist, wie die Theologen bestätigen werden, angewandter Augustinismus: Herr, mache mich fromm, aber nicht gleich heute Abend.
Gelegentlich scheint Jacobs Phantasmagorie Gustave Flauberts „Versuchung des Hl. Antonius“ zu parodieren, denn Matorel hat es besser als der Heilige in der Wüste, er wird nicht von allen guten Geistern verlassen, er hat gütige Schutzengel und liefert die poetologische Einordnung gleich mit: „Was immer mit dem künstlerischen Rang dieses Werks geschehen mag, so sind wir doch sicher, ein den Gelehrten nützliches Monument errichtet zu haben, das für die Geschichte der Bestie Mensch unerlässliche Dokumente zusammenfasst.“
Die Bestie Mensch verfuhr in bekannter Weise mit Max Jacob: Als die Deutschen Frankreich überfielen, wurde er als Jude interniert. Jean Cocteau und Sacha Guitry verwendeten sich für ihn, Picasso vermocht’s nicht. Vor der Deportation nach Auschwitz erlag Jacob 1944 einer Lungenentzündung.
WILLI WINKLER
Max Jacob: Saint Matorel. Roman. Mit vier Radierungen von Pablo Picasso. Aus dem Französischen übersetzt und mit einem Nachwort von Una Pfau. Verlag Osburg, Hamburg 2020. 156 Seiten, 20 Euro.
Frivol war er, ungebärdig,
verspielt, in jedem Fall
unorganisiert und närrisch
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Augustinismus
Max Jacobs Aufzeichnungen
aus dem Paris der Avantgarde
Max Jacob muss eine leidenschaftliche Tänzerin gewesen sein: „Die bis zu den Knien hochgeschlagenen Hosen gaben die behaarten Beine frei“, wie Fernande Olivier erzählt, Picassos erste Muse. „Hemdsärmlig, mit weitgeöffnetem Kragen, unter dem die mit schwarzgekräuselten Haaren gepolsterte Brust herausschaute, mit dem fast kahlen Kopf, den Kneifer immer auf der Nase, so tanzte er, indem er sich um äußerste Grazie bemühte, so dass man unentwegt lachen musste über diese Karikatur.“ Bei Picasso ist er streng, bei Modigliani ein Dandy, bei Man Ray als Connaisseur auf der Höhe seiner Freuden dargestellt. Dieser komische Heilige, der aus der bretonischen Provinz nach Paris kam, lebte am Montmartre mit dem noch vollkommen unbekannten Picasso zusammen, zeichnete, malte, schrieb Gedichte und nahm nicht wenig Drogen. Der Surrealismus war noch lang nicht erfunden, Apollinaire arbeitete als Finanzjournalist, Jacob im Lagerhaus.
Picasso hat seinen Freund zum Dichter erhoben: „Du bist ein Dichter, lebe als Dichter“, da konnte er gar nicht anders. Äther war es vermutlich, was Jacob 1909 zu einer lebensverrückenden Vision verhalf: Christus persönlich, so versicherte er, sei ihm erschienen, was ihn bewog, dem jüdischen Glauben zu entsagen und sich katholisch taufen zu lassen. Was immer es mit dieser Ekstase auf sich hatte, Jacob hatte einfach zu viel durcheinander gelesen: die Kabbala, die Evangelien, die Kirchenväter, Buddhistisches, Zoroastrisches. Er musste, Vorschrift seit Rimbaud, ein anderer werden. Zur Sicherheit trat Max Jacob später sogar in ein Kloster ein, doch auch das konnte ihn nicht von der „Sodomie“ befreien, von der Homosexualität, die er als Fluch empfand: „Ich habe die Liebe mit einem sanften Abscheu kennengelernt. Soll ich bedauern, dass ich Sodomit war, allerdings ohne Freude, aber mit Leidenschaft?“
Die Leidenschaft war in der Literatur kaum zu bändigen, wie das irisierende Drogenmärchen „Saint Matorel“ zeigt, das 1911 in der Galerie Kahnweiler mit vier Zeichnungen Picassos erschien und jetzt von Uta Pfau zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt worden ist. Es ist die Geschichte von Jacobs Bekehrung und ist es wieder nicht. Der Victor Matorel, der da mystische Gedanken formuliert, vom heiligmäßigen Leben träumt und manche Entrückung erlebt, arbeitet bei der Metro, er zieht mit einem Kleiderwagen über die Dörfer, um dem Land Kultur zu bringen, er reitet mit seinem Freund durch die Lüfte, geht ins Kloster, um Heilung zu finden, bespricht sich mit Dämonen und Engeln. „Ich werde mein ganzes Leben lang auf die Engel hören. Mein Leben wird nur ein Gebet sein.“ Aber das ist so scheinheilig, wie es nur die Kunst sein kann, oder wie es Victors Freund Cordier sagt: „Du bestehst nur aus Lüge und Poesie.“
Max Jacob konnte nicht gut heilig sein, wenn die Welt ihm offenstand, die Ateliers in Paris, das gute Leben unter den Freunden, die Kunst: „Er unterhielt uns, bis wir vor Lachen ganz müde waren“, wie Fernande Olivier versicherte. Frivol war er, ungebärdig, verspielt, in jedem Fall unorganisiert und närrisch, also genau das, was André Breton 1924 von den Surrealisten fordern sollte, nur ohne das Politkommissariatshafte, mit dem Breton die schönsten Kindereien verdarb. Bei Jacob geht es so hemmungslos zu, dass Satan, auch so eine krumme Figur, Matorel auffordert, aus der Venus Wurst zu machen und die Sonne zu Salat zu zerschneiden. Der arme, glückshungrige Matorel fleht: „Oh! Gott, liebe mich, sieh das Gezücht an, das ich bin.“ Die Dämonen, heißt es, winden sich vor Lachen, Matorel windet sich vor Kummer.
Diese Phantasmagorie mit Engeln, Dämonen und Satan entspricht Jacobs dialektischem Verständnis von Mystik: „Wenn ich am Vorabend schrecklich gesündigt habe, könntest Du mich am nächsten Tag, lang vor dem Morgengrauen, auf den Knien den Kreuzweg entlangrutschen sehen, ich ächze, ich schluchze, ich weine, ich schlage mir ins Gesicht … Am selben Abend verfalle ich wieder großen Abscheulichkeiten, weil ich nicht in der Lage bin, ohne Abscheulichkeiten zu leben.“ Das ist, wie die Theologen bestätigen werden, angewandter Augustinismus: Herr, mache mich fromm, aber nicht gleich heute Abend.
Gelegentlich scheint Jacobs Phantasmagorie Gustave Flauberts „Versuchung des Hl. Antonius“ zu parodieren, denn Matorel hat es besser als der Heilige in der Wüste, er wird nicht von allen guten Geistern verlassen, er hat gütige Schutzengel und liefert die poetologische Einordnung gleich mit: „Was immer mit dem künstlerischen Rang dieses Werks geschehen mag, so sind wir doch sicher, ein den Gelehrten nützliches Monument errichtet zu haben, das für die Geschichte der Bestie Mensch unerlässliche Dokumente zusammenfasst.“
Die Bestie Mensch verfuhr in bekannter Weise mit Max Jacob: Als die Deutschen Frankreich überfielen, wurde er als Jude interniert. Jean Cocteau und Sacha Guitry verwendeten sich für ihn, Picasso vermocht’s nicht. Vor der Deportation nach Auschwitz erlag Jacob 1944 einer Lungenentzündung.
WILLI WINKLER
Max Jacob: Saint Matorel. Roman. Mit vier Radierungen von Pablo Picasso. Aus dem Französischen übersetzt und mit einem Nachwort von Una Pfau. Verlag Osburg, Hamburg 2020. 156 Seiten, 20 Euro.
Frivol war er, ungebärdig,
verspielt, in jedem Fall
unorganisiert und närrisch
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