Ein Mann geht ins Kino und sieht einen Film. Es ist Pier Paolo Pasolinis 'Il Vangelo secondo Matteo'. Dem Film liegt ein Buch zugrunde, und nicht irgendeines: Das Matthäusevangelium aus der Bibel, das folgenreichste Buch der Weltliteratur. Pasolinis Film öffnet dem Helden die Augen und verändert sein Leben. Wenn er dies alles auch nicht glauben kann, so ist er doch erfüllt von einer Sehnsucht danach, dass dies die Wahrheit sei. Stadler und der Leser folgen Pasolini und seinem Film, dessen Kraft jedem, der religiös nicht ganz unmusikalisch ist, das Gefühl des Aufbruchs zurückgeben kann. Pasolini hat aus einem Buch, dem Evangelium, einen Film gemacht, Arnold Stadler macht aus diesem Film wieder ein Buch, das von der Sehnsucht nach dem ganz anderen erzählt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.11.2008Weh dir, Fischbach am Bodensee!
Setzen, Luther, Sechs! Der passionierte Melancholiker Arnold Stadler hat ein weiteres Sehnsuchtsbuch geschrieben - diesmal jedoch eines mit glücklichem Ausgang.
Von Oliver Jungen
Als könnten wir einfachen Menschen nicht lesen." Aus einer Tiefe, aus einem Grab, wenn man es pathetisch will - und hier will es jemand pathetisch -, arbeitet sich ein Aufschrei nach oben, immer kräftiger werdend. Dann bricht er durch die Abdeckung, reißt den halben Berg weg: "Als hätten wir keine Vorstellung und Imaginationskraft. Als bedürften wir der Erklärungen dieser Wildsau-Theologie. Und der Erkenntnisse von solchen, die mit dem Weltbild der Stiftung Warentest ausgestattet sind." Mitten in einem Rückeroberungsfeldzug befinden wir uns: Entschlossen marschiert dieser aus Ruinen auferstandene Erzähler in den großen Tempel, jagt Priester und Kaufleute hinaus, all die Experten und Verwalter marktgängiger Metaphysiken.
Ein seltsames Buch hat der Sehnsuchtsexistentialist Arnold Stadler da vorgelegt. Sein Held ist so ungewöhnlich wie populär, Salvatore, der Erlöser, eine Komplexion aus Jesus Christus und all seinen Nachfolgern: "Sie sehen schon: Dieser Salvatore war ein Theologe, der an den Theologen, und ein Mensch, der an den Menschen gescheitert war." Weniger erzählt als reklamiert wird die alte Passionsgeschichte. Poetik und Hermeneutik durchdringen einander, auch wenn das Buch narrativ daran zerbricht. Als Roman beginnt es, wandelt sich dann zum Bibelkommentar mit einer entscheidenden Brechung, denn es geht um das (Matthäus-)Evangelium nach Pasolini - dessen Verfilmung "Il Vangelo secondo Matteo" von 1964 gilt dem Erzähler als kongenial. Schließlich läuft "Salvatore" in einen kunsthistorischen Essay aus.
Eine Frechheit von Plot, ein Heldenepos.
Hoch verschuldet ist der geradezu exhibitionistisch ehrliche, in Norddeutschland lebende Held des ersten Teils, wobei der Zusammenhang von Schulden und Schuld - beides macht den Träger negativ wertvoll - sogleich hergestellt wird. Eine wackelige Brücke führt in den Mittelpart: Während einer Reise sieht sich Salvatore am Himmelfahrtstag, heute nur noch Vatertag, Pier Paolo Pasolinis Film an. Eine entfernte Erinnerung hat er an dieses Heldenepos, denn viele seiner kalabresischen Verwandten haben daran mitgewirkt, von Pasolini als Statisten ausgesucht (erwählt) vielleicht sogar wegen ihrer Beziehungen zur Mafia. Der dritte Teil, nun in Ich-Perspektive, steht handlungstechnisch isoliert da.
Es ist unendlich leicht, dieses Buch mit seiner Frechheit von Plot für unausgegoren zu halten. Doch zu schnell sollte man bei einem der virtuosesten Erzähler deutscher Sprache nicht urteilen. Etwas allerdings ist diesmal in der Tat anders als bisher: Den Büchnerpreisträger von 1999 liebt man für seinen melancholisch-lakonischen Ton, ganz besonders für seine gnadenlose, im Gegensatz zu dem oft als Vorbild bemühten Thomas Bernhard eher reduktionistische Komik. Stadler würzt seine Texte gerne mit hingegrunzter Dorfterminologie wie "Sackgeld" oder "Höhenfleckvieh", kostet das assoziative Potential von Ortsnamen wie "Schwackenreute" oder "Hotzenwald" durch litaneihafte Wiederholungen aus, erwähnt ganz nebenbei, dass im Wappen der Familie Wurst eine Wurst prangt. Unvergessen, wie er, selbst aus Meßkirch stammend, Heidegger geerdet hat, indem er in "Mein Hund, meine Sau, mein Leben" dessen noch viel seinsverwurzelteren Viehhändler-Vetter vorschickte.
Dieser Arnold Stadler also ist es nicht, der uns hier begegnet. Es ist vielmehr jener, den die Literaturkritik nur in Kauf nahm: der entblößte Confessor, Ecce auctor. Seine Katholizismusobsession wollte man gerne als Spleen sehen, als Kauzigkeit, an welcher sich Lakonie und Wortwitz entzünden konnten. Aber die Suche nach Heilsgewissheit, die gigantische Sehnsucht, das "Dazugehörigkeitsverlangen", bildet doch den Glutkern von Stadlers Schaffen. Nun kommt sie zu sich selbst: Das neue Werk verzichtet nahezu vollständig auf Komik. Nahezu: Wie ein Abschiedsgruß wirkt eine kleine Szene, in der Salvatore einen weißhaarigen Greis, dem er in einem Anfall von Darwinismus die Parkbank weggeschnappt hat, zwanghaft für Johannes Heesters hält.
Ansonsten aber zeichnet diesen Stadler eine geradezu schmerzende Ernsthaftigkeit aus. Wieder tritt er der durch Fernsehen, Telefon und E-Mail noch einmal gesteigerten Einsamkeit, "die allmählich die Form einer Erektion gegen ein schwarzes Loch hin annahm, so zeigte sie geradewegs bis zum Himmel", entgegen. Doch diesmal ist der Erzähler erfolgreich. Die adäquate Haltung nämlich ist nicht Dekonstruktion, sondern Annahme der Botschaft. Im Grunde lesen wir eine ausgefeilte Predigt über Matthäus 19,22: "Komm und folge mir nach!", eine Erweckungserektion, wobei die monumentale Erhabenheit des Heilsplans rhetorisch funktionalisiert ist. Jesu Versicherung "Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt" müsse einfach "jeden Menschen umhauen".
Hermeneutik ist nur tragbar, wenn sie in Poetik umschlägt: "Jede Generation müsste ja ihr Evangelium weiterschreiben", heißt es, und ebendas haben Caravaggio, Pasolini, Dostojewski und der Meßkircher getan. Eine enthusiastische Überhöhung der Werkimmanenz bedeutet das ästhetisch: Gerade weil die künstlerischen Reaktivierungen selbstgenügsam sind, den Experten entzogen, kann in ihnen etwas aufscheinen von jener Absolutheit, die dem Wirken Christi eignet.
Ein Bildnis zum Abschlecken schön.
Szene für Szene schwelgt sich der Erzähler im hochgestimmten Ton durch das Meisterwerk Pier Paolo Pasolinis (Peter und Paul in einem!). Die historische Verortung spielt dabei keine Rolle. Wenn Jesus den im Stumpfsinn verharrenden Städten die Leviten liest - "Weh dir, Betsaida!" -, ergänzt Salvatore: "Weh dir, Fischbach am Bodensee! Weh dir, Bahnhofstraße!" Aufruhr gegen die dümmliche, scheinewige Wolfsgesellschaft liegt in der Luft. Statt kritischer Distanz emphatische Präsenz: So ist dem, der Augen hat, zu sehen, auch Caravaggios "Berufung des Matthäus" nah, ein "Bild, das so schön . . . ist, dass ich es abschlecken möchte". Es waren von Beginn an die einfachen Menschen und die Sünder, Matthäus, der Zöllner, Caravaggio, der Mörder, Pasolini, der Homosexuelle, die zur Arbeit am Mythos berufen waren.
Programmatisch ist, was Stadler über Caravaggios Poetologie sagt: Die "Einfachheit, die in dem Sich-Beschränken auf einen biblischen Stoff liegt, überhaupt die Rückkehr zum Wort Gottes, zum Evangelium, darf man gewiss auch als eine Reaktion auf Luther und die Folgen und als Umsetzung einer katholischen Reformation (genannt Gegenreformation) lesen". Zuletzt nämlich verwandelt sich dieser Text in eine gewaltige Abrechnung. Mit savonarolahaftem Eifer drischt der jüngste Evangelist auf Konsumismus und Heuchelei ein. Grund allen Übels, bricht es aus ihm heraus, sei der Protestantismus. Luthers Sola-scriptura-Diktatur habe den hochpoetischen Text der lebendigen Tradition entrissen und abgetötet, Calvin einen "Religionsterrorstaat" kommandiert. Ein "gigantisches Schrottgewerbe" sei entstanden (auch unter Katholiken), die historisch-kritische Exegese, wobei als ruchlosester Textmörder der evangelische Entmythologisierer Rudolf Bultmann zu gelten habe. Von Dissidenten und Künstlern hätten die Wildsau-Theologen zu lernen.
Bei aller Revolutionsrhetorik ist das Buch vor allem ein Trostbuch, in seiner christologischen Sehnsuchtspoesie so pur, dass es verstört. Ein Leichtes, wie gesagt, diesen Roman abzulehnen. Man könnte ihm piefige Kulturkritik vorhalten. Man könnte pathologisieren, Stadlers Depressionsprosa trete in eine manische Phase ein. Man darf aber auch einmal denken, zumal in einer Weihnachtsbeilage: mutig, dass jemand heute noch so etwas (Unverkäufliches?) wagt und sogar seine größte Stärke, den Humor, opfert, weil ihm die Sache dafür zu wichtig ist. Die Sache: die alte Botschaft, "dass der Mensch nicht verloren, dass er gerettet ist, wenn er Jesus-Salvatore folgt".
Arnold Stadler: "Salvatore". S. Fischer Verlag, Frankfurt 2008. 224 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Setzen, Luther, Sechs! Der passionierte Melancholiker Arnold Stadler hat ein weiteres Sehnsuchtsbuch geschrieben - diesmal jedoch eines mit glücklichem Ausgang.
Von Oliver Jungen
Als könnten wir einfachen Menschen nicht lesen." Aus einer Tiefe, aus einem Grab, wenn man es pathetisch will - und hier will es jemand pathetisch -, arbeitet sich ein Aufschrei nach oben, immer kräftiger werdend. Dann bricht er durch die Abdeckung, reißt den halben Berg weg: "Als hätten wir keine Vorstellung und Imaginationskraft. Als bedürften wir der Erklärungen dieser Wildsau-Theologie. Und der Erkenntnisse von solchen, die mit dem Weltbild der Stiftung Warentest ausgestattet sind." Mitten in einem Rückeroberungsfeldzug befinden wir uns: Entschlossen marschiert dieser aus Ruinen auferstandene Erzähler in den großen Tempel, jagt Priester und Kaufleute hinaus, all die Experten und Verwalter marktgängiger Metaphysiken.
Ein seltsames Buch hat der Sehnsuchtsexistentialist Arnold Stadler da vorgelegt. Sein Held ist so ungewöhnlich wie populär, Salvatore, der Erlöser, eine Komplexion aus Jesus Christus und all seinen Nachfolgern: "Sie sehen schon: Dieser Salvatore war ein Theologe, der an den Theologen, und ein Mensch, der an den Menschen gescheitert war." Weniger erzählt als reklamiert wird die alte Passionsgeschichte. Poetik und Hermeneutik durchdringen einander, auch wenn das Buch narrativ daran zerbricht. Als Roman beginnt es, wandelt sich dann zum Bibelkommentar mit einer entscheidenden Brechung, denn es geht um das (Matthäus-)Evangelium nach Pasolini - dessen Verfilmung "Il Vangelo secondo Matteo" von 1964 gilt dem Erzähler als kongenial. Schließlich läuft "Salvatore" in einen kunsthistorischen Essay aus.
Eine Frechheit von Plot, ein Heldenepos.
Hoch verschuldet ist der geradezu exhibitionistisch ehrliche, in Norddeutschland lebende Held des ersten Teils, wobei der Zusammenhang von Schulden und Schuld - beides macht den Träger negativ wertvoll - sogleich hergestellt wird. Eine wackelige Brücke führt in den Mittelpart: Während einer Reise sieht sich Salvatore am Himmelfahrtstag, heute nur noch Vatertag, Pier Paolo Pasolinis Film an. Eine entfernte Erinnerung hat er an dieses Heldenepos, denn viele seiner kalabresischen Verwandten haben daran mitgewirkt, von Pasolini als Statisten ausgesucht (erwählt) vielleicht sogar wegen ihrer Beziehungen zur Mafia. Der dritte Teil, nun in Ich-Perspektive, steht handlungstechnisch isoliert da.
Es ist unendlich leicht, dieses Buch mit seiner Frechheit von Plot für unausgegoren zu halten. Doch zu schnell sollte man bei einem der virtuosesten Erzähler deutscher Sprache nicht urteilen. Etwas allerdings ist diesmal in der Tat anders als bisher: Den Büchnerpreisträger von 1999 liebt man für seinen melancholisch-lakonischen Ton, ganz besonders für seine gnadenlose, im Gegensatz zu dem oft als Vorbild bemühten Thomas Bernhard eher reduktionistische Komik. Stadler würzt seine Texte gerne mit hingegrunzter Dorfterminologie wie "Sackgeld" oder "Höhenfleckvieh", kostet das assoziative Potential von Ortsnamen wie "Schwackenreute" oder "Hotzenwald" durch litaneihafte Wiederholungen aus, erwähnt ganz nebenbei, dass im Wappen der Familie Wurst eine Wurst prangt. Unvergessen, wie er, selbst aus Meßkirch stammend, Heidegger geerdet hat, indem er in "Mein Hund, meine Sau, mein Leben" dessen noch viel seinsverwurzelteren Viehhändler-Vetter vorschickte.
Dieser Arnold Stadler also ist es nicht, der uns hier begegnet. Es ist vielmehr jener, den die Literaturkritik nur in Kauf nahm: der entblößte Confessor, Ecce auctor. Seine Katholizismusobsession wollte man gerne als Spleen sehen, als Kauzigkeit, an welcher sich Lakonie und Wortwitz entzünden konnten. Aber die Suche nach Heilsgewissheit, die gigantische Sehnsucht, das "Dazugehörigkeitsverlangen", bildet doch den Glutkern von Stadlers Schaffen. Nun kommt sie zu sich selbst: Das neue Werk verzichtet nahezu vollständig auf Komik. Nahezu: Wie ein Abschiedsgruß wirkt eine kleine Szene, in der Salvatore einen weißhaarigen Greis, dem er in einem Anfall von Darwinismus die Parkbank weggeschnappt hat, zwanghaft für Johannes Heesters hält.
Ansonsten aber zeichnet diesen Stadler eine geradezu schmerzende Ernsthaftigkeit aus. Wieder tritt er der durch Fernsehen, Telefon und E-Mail noch einmal gesteigerten Einsamkeit, "die allmählich die Form einer Erektion gegen ein schwarzes Loch hin annahm, so zeigte sie geradewegs bis zum Himmel", entgegen. Doch diesmal ist der Erzähler erfolgreich. Die adäquate Haltung nämlich ist nicht Dekonstruktion, sondern Annahme der Botschaft. Im Grunde lesen wir eine ausgefeilte Predigt über Matthäus 19,22: "Komm und folge mir nach!", eine Erweckungserektion, wobei die monumentale Erhabenheit des Heilsplans rhetorisch funktionalisiert ist. Jesu Versicherung "Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt" müsse einfach "jeden Menschen umhauen".
Hermeneutik ist nur tragbar, wenn sie in Poetik umschlägt: "Jede Generation müsste ja ihr Evangelium weiterschreiben", heißt es, und ebendas haben Caravaggio, Pasolini, Dostojewski und der Meßkircher getan. Eine enthusiastische Überhöhung der Werkimmanenz bedeutet das ästhetisch: Gerade weil die künstlerischen Reaktivierungen selbstgenügsam sind, den Experten entzogen, kann in ihnen etwas aufscheinen von jener Absolutheit, die dem Wirken Christi eignet.
Ein Bildnis zum Abschlecken schön.
Szene für Szene schwelgt sich der Erzähler im hochgestimmten Ton durch das Meisterwerk Pier Paolo Pasolinis (Peter und Paul in einem!). Die historische Verortung spielt dabei keine Rolle. Wenn Jesus den im Stumpfsinn verharrenden Städten die Leviten liest - "Weh dir, Betsaida!" -, ergänzt Salvatore: "Weh dir, Fischbach am Bodensee! Weh dir, Bahnhofstraße!" Aufruhr gegen die dümmliche, scheinewige Wolfsgesellschaft liegt in der Luft. Statt kritischer Distanz emphatische Präsenz: So ist dem, der Augen hat, zu sehen, auch Caravaggios "Berufung des Matthäus" nah, ein "Bild, das so schön . . . ist, dass ich es abschlecken möchte". Es waren von Beginn an die einfachen Menschen und die Sünder, Matthäus, der Zöllner, Caravaggio, der Mörder, Pasolini, der Homosexuelle, die zur Arbeit am Mythos berufen waren.
Programmatisch ist, was Stadler über Caravaggios Poetologie sagt: Die "Einfachheit, die in dem Sich-Beschränken auf einen biblischen Stoff liegt, überhaupt die Rückkehr zum Wort Gottes, zum Evangelium, darf man gewiss auch als eine Reaktion auf Luther und die Folgen und als Umsetzung einer katholischen Reformation (genannt Gegenreformation) lesen". Zuletzt nämlich verwandelt sich dieser Text in eine gewaltige Abrechnung. Mit savonarolahaftem Eifer drischt der jüngste Evangelist auf Konsumismus und Heuchelei ein. Grund allen Übels, bricht es aus ihm heraus, sei der Protestantismus. Luthers Sola-scriptura-Diktatur habe den hochpoetischen Text der lebendigen Tradition entrissen und abgetötet, Calvin einen "Religionsterrorstaat" kommandiert. Ein "gigantisches Schrottgewerbe" sei entstanden (auch unter Katholiken), die historisch-kritische Exegese, wobei als ruchlosester Textmörder der evangelische Entmythologisierer Rudolf Bultmann zu gelten habe. Von Dissidenten und Künstlern hätten die Wildsau-Theologen zu lernen.
Bei aller Revolutionsrhetorik ist das Buch vor allem ein Trostbuch, in seiner christologischen Sehnsuchtspoesie so pur, dass es verstört. Ein Leichtes, wie gesagt, diesen Roman abzulehnen. Man könnte ihm piefige Kulturkritik vorhalten. Man könnte pathologisieren, Stadlers Depressionsprosa trete in eine manische Phase ein. Man darf aber auch einmal denken, zumal in einer Weihnachtsbeilage: mutig, dass jemand heute noch so etwas (Unverkäufliches?) wagt und sogar seine größte Stärke, den Humor, opfert, weil ihm die Sache dafür zu wichtig ist. Die Sache: die alte Botschaft, "dass der Mensch nicht verloren, dass er gerettet ist, wenn er Jesus-Salvatore folgt".
Arnold Stadler: "Salvatore". S. Fischer Verlag, Frankfurt 2008. 224 S., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Mit Begeisterung und Faszination hat der hier rezensierende Schriftsteller Andreas Maier Arnold Stadlers neues Buch gelesen, das er "ergreifend disparat" und geradezu absichtsvoll kaputt daherkommen sieht. Beim Lesen fühlte er sich, als wohne er gerade einem Pfingsterlebnis bei. Bereits nach einem Drittel breche der erzählerische Ansatz ab, und es folge eine Nacherzählung von Pasolinis Verfilmung der Matthäuspassion, die zu einem Stadler-Text umgeschrieben werde. Der letzte Teil des Buchs sei ein Essay über Pasolinis Leben und Sterben und seine Liebe, gefolgt von Betrachtungen über die gegenwärtige katholische Kirche sowie einer Beschreibung von Caravaggios Zöllnerbild. Stadler lasse jeden Schutz fallen und schreibe Dinge, die vom öffentlichen Diskurs sofort zerfetzt werden könnten. Alle Teile des Buches fielen auseinander und doch gehe es um dasselbe. Um Glaube, um Gott, aber auch um den Zwang, sich zu so etwas Sterilem wie Homosexualität bekennen zu müssen, wo es doch um Liebe geht. Dabei sieht Maier Stadlers Sprache wie einen Film von Pasolini und das Evangelium selber blühen. Und dieses Blühen möchte der Rezensent gerne "Heiligen Geist" nennen. Und das tut er dann auch.
© Perlentaucher Medien GmbH
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