Ein Mann geht ins Kino und sieht einen Film. Es ist Pier Paolo Pasolinis 'Il Vangelo secondo Matteo'. Dem Film liegt ein Buch zugrunde, und nicht irgendeines: Das Matthäusevangelium aus der Bibel, das folgenreichste Buch der Weltliteratur. Pasolinis Film öffnet dem Helden die Augen und verändert sein Leben. Wenn er dies alles auch nicht glauben kann, so ist er doch erfüllt von einer Sehnsucht danach, dass dies die Wahrheit sei. Stadler und der Leser folgen Pasolini und seinem Film, dessen Kraft jedem, der religiös nicht ganz unmusikalisch ist, das Gefühl des Aufbruchs zurückgeben kann. Pasolini hat aus einem Buch, dem Evangelium, einen Film gemacht, Arnold Stadler macht aus diesem Film wieder ein Buch, das von der Sehnsucht nach dem ganz anderen erzählt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.11.2008Weh dir, Fischbach am Bodensee!
Setzen, Luther, Sechs! Der passionierte Melancholiker Arnold Stadler hat ein weiteres Sehnsuchtsbuch geschrieben - diesmal jedoch eines mit glücklichem Ausgang.
Von Oliver Jungen
Als könnten wir einfachen Menschen nicht lesen." Aus einer Tiefe, aus einem Grab, wenn man es pathetisch will - und hier will es jemand pathetisch -, arbeitet sich ein Aufschrei nach oben, immer kräftiger werdend. Dann bricht er durch die Abdeckung, reißt den halben Berg weg: "Als hätten wir keine Vorstellung und Imaginationskraft. Als bedürften wir der Erklärungen dieser Wildsau-Theologie. Und der Erkenntnisse von solchen, die mit dem Weltbild der Stiftung Warentest ausgestattet sind." Mitten in einem Rückeroberungsfeldzug befinden wir uns: Entschlossen marschiert dieser aus Ruinen auferstandene Erzähler in den großen Tempel, jagt Priester und Kaufleute hinaus, all die Experten und Verwalter marktgängiger Metaphysiken.
Ein seltsames Buch hat der Sehnsuchtsexistentialist Arnold Stadler da vorgelegt. Sein Held ist so ungewöhnlich wie populär, Salvatore, der Erlöser, eine Komplexion aus Jesus Christus und all seinen Nachfolgern: "Sie sehen schon: Dieser Salvatore war ein Theologe, der an den Theologen, und ein Mensch, der an den Menschen gescheitert war." Weniger erzählt als reklamiert wird die alte Passionsgeschichte. Poetik und Hermeneutik durchdringen einander, auch wenn das Buch narrativ daran zerbricht. Als Roman beginnt es, wandelt sich dann zum Bibelkommentar mit einer entscheidenden Brechung, denn es geht um das (Matthäus-)Evangelium nach Pasolini - dessen Verfilmung "Il Vangelo secondo Matteo" von 1964 gilt dem Erzähler als kongenial. Schließlich läuft "Salvatore" in einen kunsthistorischen Essay aus.
Eine Frechheit von Plot, ein Heldenepos.
Hoch verschuldet ist der geradezu exhibitionistisch ehrliche, in Norddeutschland lebende Held des ersten Teils, wobei der Zusammenhang von Schulden und Schuld - beides macht den Träger negativ wertvoll - sogleich hergestellt wird. Eine wackelige Brücke führt in den Mittelpart: Während einer Reise sieht sich Salvatore am Himmelfahrtstag, heute nur noch Vatertag, Pier Paolo Pasolinis Film an. Eine entfernte Erinnerung hat er an dieses Heldenepos, denn viele seiner kalabresischen Verwandten haben daran mitgewirkt, von Pasolini als Statisten ausgesucht (erwählt) vielleicht sogar wegen ihrer Beziehungen zur Mafia. Der dritte Teil, nun in Ich-Perspektive, steht handlungstechnisch isoliert da.
Es ist unendlich leicht, dieses Buch mit seiner Frechheit von Plot für unausgegoren zu halten. Doch zu schnell sollte man bei einem der virtuosesten Erzähler deutscher Sprache nicht urteilen. Etwas allerdings ist diesmal in der Tat anders als bisher: Den Büchnerpreisträger von 1999 liebt man für seinen melancholisch-lakonischen Ton, ganz besonders für seine gnadenlose, im Gegensatz zu dem oft als Vorbild bemühten Thomas Bernhard eher reduktionistische Komik. Stadler würzt seine Texte gerne mit hingegrunzter Dorfterminologie wie "Sackgeld" oder "Höhenfleckvieh", kostet das assoziative Potential von Ortsnamen wie "Schwackenreute" oder "Hotzenwald" durch litaneihafte Wiederholungen aus, erwähnt ganz nebenbei, dass im Wappen der Familie Wurst eine Wurst prangt. Unvergessen, wie er, selbst aus Meßkirch stammend, Heidegger geerdet hat, indem er in "Mein Hund, meine Sau, mein Leben" dessen noch viel seinsverwurzelteren Viehhändler-Vetter vorschickte.
Dieser Arnold Stadler also ist es nicht, der uns hier begegnet. Es ist vielmehr jener, den die Literaturkritik nur in Kauf nahm: der entblößte Confessor, Ecce auctor. Seine Katholizismusobsession wollte man gerne als Spleen sehen, als Kauzigkeit, an welcher sich Lakonie und Wortwitz entzünden konnten. Aber die Suche nach Heilsgewissheit, die gigantische Sehnsucht, das "Dazugehörigkeitsverlangen", bildet doch den Glutkern von Stadlers Schaffen. Nun kommt sie zu sich selbst: Das neue Werk verzichtet nahezu vollständig auf Komik. Nahezu: Wie ein Abschiedsgruß wirkt eine kleine Szene, in der Salvatore einen weißhaarigen Greis, dem er in einem Anfall von Darwinismus die Parkbank weggeschnappt hat, zwanghaft für Johannes Heesters hält.
Ansonsten aber zeichnet diesen Stadler eine geradezu schmerzende Ernsthaftigkeit aus. Wieder tritt er der durch Fernsehen, Telefon und E-Mail noch einmal gesteigerten Einsamkeit, "die allmählich die Form einer Erektion gegen ein schwarzes Loch hin annahm, so zeigte sie geradewegs bis zum Himmel", entgegen. Doch diesmal ist der Erzähler erfolgreich. Die adäquate Haltung nämlich ist nicht Dekonstruktion, sondern Annahme der Botschaft. Im Grunde lesen wir eine ausgefeilte Predigt über Matthäus 19,22: "Komm und folge mir nach!", eine Erweckungserektion, wobei die monumentale Erhabenheit des Heilsplans rhetorisch funktionalisiert ist. Jesu Versicherung "Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt" müsse einfach "jeden Menschen umhauen".
Hermeneutik ist nur tragbar, wenn sie in Poetik umschlägt: "Jede Generation müsste ja ihr Evangelium weiterschreiben", heißt es, und ebendas haben Caravaggio, Pasolini, Dostojewski und der Meßkircher getan. Eine enthusiastische Überhöhung der Werkimmanenz bedeutet das ästhetisch: Gerade weil die künstlerischen Reaktivierungen selbstgenügsam sind, den Experten entzogen, kann in ihnen etwas aufscheinen von jener Absolutheit, die dem Wirken Christi eignet.
Ein Bildnis zum Abschlecken schön.
Szene für Szene schwelgt sich der Erzähler im hochgestimmten Ton durch das Meisterwerk Pier Paolo Pasolinis (Peter und Paul in einem!). Die historische Verortung spielt dabei keine Rolle. Wenn Jesus den im Stumpfsinn verharrenden Städten die Leviten liest - "Weh dir, Betsaida!" -, ergänzt Salvatore: "Weh dir, Fischbach am Bodensee! Weh dir, Bahnhofstraße!" Aufruhr gegen die dümmliche, scheinewige Wolfsgesellschaft liegt in der Luft. Statt kritischer Distanz emphatische Präsenz: So ist dem, der Augen hat, zu sehen, auch Caravaggios "Berufung des Matthäus" nah, ein "Bild, das so schön . . . ist, dass ich es abschlecken möchte". Es waren von Beginn an die einfachen Menschen und die Sünder, Matthäus, der Zöllner, Caravaggio, der Mörder, Pasolini, der Homosexuelle, die zur Arbeit am Mythos berufen waren.
Programmatisch ist, was Stadler über Caravaggios Poetologie sagt: Die "Einfachheit, die in dem Sich-Beschränken auf einen biblischen Stoff liegt, überhaupt die Rückkehr zum Wort Gottes, zum Evangelium, darf man gewiss auch als eine Reaktion auf Luther und die Folgen und als Umsetzung einer katholischen Reformation (genannt Gegenreformation) lesen". Zuletzt nämlich verwandelt sich dieser Text in eine gewaltige Abrechnung. Mit savonarolahaftem Eifer drischt der jüngste Evangelist auf Konsumismus und Heuchelei ein. Grund allen Übels, bricht es aus ihm heraus, sei der Protestantismus. Luthers Sola-scriptura-Diktatur habe den hochpoetischen Text der lebendigen Tradition entrissen und abgetötet, Calvin einen "Religionsterrorstaat" kommandiert. Ein "gigantisches Schrottgewerbe" sei entstanden (auch unter Katholiken), die historisch-kritische Exegese, wobei als ruchlosester Textmörder der evangelische Entmythologisierer Rudolf Bultmann zu gelten habe. Von Dissidenten und Künstlern hätten die Wildsau-Theologen zu lernen.
Bei aller Revolutionsrhetorik ist das Buch vor allem ein Trostbuch, in seiner christologischen Sehnsuchtspoesie so pur, dass es verstört. Ein Leichtes, wie gesagt, diesen Roman abzulehnen. Man könnte ihm piefige Kulturkritik vorhalten. Man könnte pathologisieren, Stadlers Depressionsprosa trete in eine manische Phase ein. Man darf aber auch einmal denken, zumal in einer Weihnachtsbeilage: mutig, dass jemand heute noch so etwas (Unverkäufliches?) wagt und sogar seine größte Stärke, den Humor, opfert, weil ihm die Sache dafür zu wichtig ist. Die Sache: die alte Botschaft, "dass der Mensch nicht verloren, dass er gerettet ist, wenn er Jesus-Salvatore folgt".
Arnold Stadler: "Salvatore". S. Fischer Verlag, Frankfurt 2008. 224 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Setzen, Luther, Sechs! Der passionierte Melancholiker Arnold Stadler hat ein weiteres Sehnsuchtsbuch geschrieben - diesmal jedoch eines mit glücklichem Ausgang.
Von Oliver Jungen
Als könnten wir einfachen Menschen nicht lesen." Aus einer Tiefe, aus einem Grab, wenn man es pathetisch will - und hier will es jemand pathetisch -, arbeitet sich ein Aufschrei nach oben, immer kräftiger werdend. Dann bricht er durch die Abdeckung, reißt den halben Berg weg: "Als hätten wir keine Vorstellung und Imaginationskraft. Als bedürften wir der Erklärungen dieser Wildsau-Theologie. Und der Erkenntnisse von solchen, die mit dem Weltbild der Stiftung Warentest ausgestattet sind." Mitten in einem Rückeroberungsfeldzug befinden wir uns: Entschlossen marschiert dieser aus Ruinen auferstandene Erzähler in den großen Tempel, jagt Priester und Kaufleute hinaus, all die Experten und Verwalter marktgängiger Metaphysiken.
Ein seltsames Buch hat der Sehnsuchtsexistentialist Arnold Stadler da vorgelegt. Sein Held ist so ungewöhnlich wie populär, Salvatore, der Erlöser, eine Komplexion aus Jesus Christus und all seinen Nachfolgern: "Sie sehen schon: Dieser Salvatore war ein Theologe, der an den Theologen, und ein Mensch, der an den Menschen gescheitert war." Weniger erzählt als reklamiert wird die alte Passionsgeschichte. Poetik und Hermeneutik durchdringen einander, auch wenn das Buch narrativ daran zerbricht. Als Roman beginnt es, wandelt sich dann zum Bibelkommentar mit einer entscheidenden Brechung, denn es geht um das (Matthäus-)Evangelium nach Pasolini - dessen Verfilmung "Il Vangelo secondo Matteo" von 1964 gilt dem Erzähler als kongenial. Schließlich läuft "Salvatore" in einen kunsthistorischen Essay aus.
Eine Frechheit von Plot, ein Heldenepos.
Hoch verschuldet ist der geradezu exhibitionistisch ehrliche, in Norddeutschland lebende Held des ersten Teils, wobei der Zusammenhang von Schulden und Schuld - beides macht den Träger negativ wertvoll - sogleich hergestellt wird. Eine wackelige Brücke führt in den Mittelpart: Während einer Reise sieht sich Salvatore am Himmelfahrtstag, heute nur noch Vatertag, Pier Paolo Pasolinis Film an. Eine entfernte Erinnerung hat er an dieses Heldenepos, denn viele seiner kalabresischen Verwandten haben daran mitgewirkt, von Pasolini als Statisten ausgesucht (erwählt) vielleicht sogar wegen ihrer Beziehungen zur Mafia. Der dritte Teil, nun in Ich-Perspektive, steht handlungstechnisch isoliert da.
Es ist unendlich leicht, dieses Buch mit seiner Frechheit von Plot für unausgegoren zu halten. Doch zu schnell sollte man bei einem der virtuosesten Erzähler deutscher Sprache nicht urteilen. Etwas allerdings ist diesmal in der Tat anders als bisher: Den Büchnerpreisträger von 1999 liebt man für seinen melancholisch-lakonischen Ton, ganz besonders für seine gnadenlose, im Gegensatz zu dem oft als Vorbild bemühten Thomas Bernhard eher reduktionistische Komik. Stadler würzt seine Texte gerne mit hingegrunzter Dorfterminologie wie "Sackgeld" oder "Höhenfleckvieh", kostet das assoziative Potential von Ortsnamen wie "Schwackenreute" oder "Hotzenwald" durch litaneihafte Wiederholungen aus, erwähnt ganz nebenbei, dass im Wappen der Familie Wurst eine Wurst prangt. Unvergessen, wie er, selbst aus Meßkirch stammend, Heidegger geerdet hat, indem er in "Mein Hund, meine Sau, mein Leben" dessen noch viel seinsverwurzelteren Viehhändler-Vetter vorschickte.
Dieser Arnold Stadler also ist es nicht, der uns hier begegnet. Es ist vielmehr jener, den die Literaturkritik nur in Kauf nahm: der entblößte Confessor, Ecce auctor. Seine Katholizismusobsession wollte man gerne als Spleen sehen, als Kauzigkeit, an welcher sich Lakonie und Wortwitz entzünden konnten. Aber die Suche nach Heilsgewissheit, die gigantische Sehnsucht, das "Dazugehörigkeitsverlangen", bildet doch den Glutkern von Stadlers Schaffen. Nun kommt sie zu sich selbst: Das neue Werk verzichtet nahezu vollständig auf Komik. Nahezu: Wie ein Abschiedsgruß wirkt eine kleine Szene, in der Salvatore einen weißhaarigen Greis, dem er in einem Anfall von Darwinismus die Parkbank weggeschnappt hat, zwanghaft für Johannes Heesters hält.
Ansonsten aber zeichnet diesen Stadler eine geradezu schmerzende Ernsthaftigkeit aus. Wieder tritt er der durch Fernsehen, Telefon und E-Mail noch einmal gesteigerten Einsamkeit, "die allmählich die Form einer Erektion gegen ein schwarzes Loch hin annahm, so zeigte sie geradewegs bis zum Himmel", entgegen. Doch diesmal ist der Erzähler erfolgreich. Die adäquate Haltung nämlich ist nicht Dekonstruktion, sondern Annahme der Botschaft. Im Grunde lesen wir eine ausgefeilte Predigt über Matthäus 19,22: "Komm und folge mir nach!", eine Erweckungserektion, wobei die monumentale Erhabenheit des Heilsplans rhetorisch funktionalisiert ist. Jesu Versicherung "Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt" müsse einfach "jeden Menschen umhauen".
Hermeneutik ist nur tragbar, wenn sie in Poetik umschlägt: "Jede Generation müsste ja ihr Evangelium weiterschreiben", heißt es, und ebendas haben Caravaggio, Pasolini, Dostojewski und der Meßkircher getan. Eine enthusiastische Überhöhung der Werkimmanenz bedeutet das ästhetisch: Gerade weil die künstlerischen Reaktivierungen selbstgenügsam sind, den Experten entzogen, kann in ihnen etwas aufscheinen von jener Absolutheit, die dem Wirken Christi eignet.
Ein Bildnis zum Abschlecken schön.
Szene für Szene schwelgt sich der Erzähler im hochgestimmten Ton durch das Meisterwerk Pier Paolo Pasolinis (Peter und Paul in einem!). Die historische Verortung spielt dabei keine Rolle. Wenn Jesus den im Stumpfsinn verharrenden Städten die Leviten liest - "Weh dir, Betsaida!" -, ergänzt Salvatore: "Weh dir, Fischbach am Bodensee! Weh dir, Bahnhofstraße!" Aufruhr gegen die dümmliche, scheinewige Wolfsgesellschaft liegt in der Luft. Statt kritischer Distanz emphatische Präsenz: So ist dem, der Augen hat, zu sehen, auch Caravaggios "Berufung des Matthäus" nah, ein "Bild, das so schön . . . ist, dass ich es abschlecken möchte". Es waren von Beginn an die einfachen Menschen und die Sünder, Matthäus, der Zöllner, Caravaggio, der Mörder, Pasolini, der Homosexuelle, die zur Arbeit am Mythos berufen waren.
Programmatisch ist, was Stadler über Caravaggios Poetologie sagt: Die "Einfachheit, die in dem Sich-Beschränken auf einen biblischen Stoff liegt, überhaupt die Rückkehr zum Wort Gottes, zum Evangelium, darf man gewiss auch als eine Reaktion auf Luther und die Folgen und als Umsetzung einer katholischen Reformation (genannt Gegenreformation) lesen". Zuletzt nämlich verwandelt sich dieser Text in eine gewaltige Abrechnung. Mit savonarolahaftem Eifer drischt der jüngste Evangelist auf Konsumismus und Heuchelei ein. Grund allen Übels, bricht es aus ihm heraus, sei der Protestantismus. Luthers Sola-scriptura-Diktatur habe den hochpoetischen Text der lebendigen Tradition entrissen und abgetötet, Calvin einen "Religionsterrorstaat" kommandiert. Ein "gigantisches Schrottgewerbe" sei entstanden (auch unter Katholiken), die historisch-kritische Exegese, wobei als ruchlosester Textmörder der evangelische Entmythologisierer Rudolf Bultmann zu gelten habe. Von Dissidenten und Künstlern hätten die Wildsau-Theologen zu lernen.
Bei aller Revolutionsrhetorik ist das Buch vor allem ein Trostbuch, in seiner christologischen Sehnsuchtspoesie so pur, dass es verstört. Ein Leichtes, wie gesagt, diesen Roman abzulehnen. Man könnte ihm piefige Kulturkritik vorhalten. Man könnte pathologisieren, Stadlers Depressionsprosa trete in eine manische Phase ein. Man darf aber auch einmal denken, zumal in einer Weihnachtsbeilage: mutig, dass jemand heute noch so etwas (Unverkäufliches?) wagt und sogar seine größte Stärke, den Humor, opfert, weil ihm die Sache dafür zu wichtig ist. Die Sache: die alte Botschaft, "dass der Mensch nicht verloren, dass er gerettet ist, wenn er Jesus-Salvatore folgt".
Arnold Stadler: "Salvatore". S. Fischer Verlag, Frankfurt 2008. 224 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.12.2008Die Sehnsucht als Dauerlutscher
Arnold Stadlers „Salvatore” will werden wie die Kinder – und schafft es nicht
Das Evangelium des Matthäus hat es in sich. Immerzu ist Jesus hier auf Achse, wandert, lehrt, wirkt Wunder, weicht den Fallen der Pharisäer aus, und ehe man es sich versieht, ist es auch schon wieder vorbei; denn wenn die Knappheit der Erzählung allgemeines Stilmerkmal der Bibel ist, so zeichnet sich dieses Buch durch eine geradezu bestürzende Kürze aus. Als literarisches Werk ist es, anders als etwa die Psalmen, das Buch Genesis oder das Johannes-Evangelium, eher unbeträchtlich; man spürt, wie sich durch seine Schriftform hindurch etwas Anderes an die Oberfläche drängt, eine unbedingte Präsenz, die lang vergangen sein mag und doch ihre Spur hinterlassen hat.
Angesichts dieses Sachverhalts kann man dem Interessenten eigentlich nur empfehlen: Nimm’s und lies es! Einen Autor freilich muss das in Verlegenheit setzen: Denn es lässt ihm wenig zu tun übrig. Arnold Stadler, Büchner-Preisträger des Jahres 1999, schlägt darum einen doppelten Umweg ein, um durch seine Mittel dem Puls des Buches nah zu kommen.
Zum einen gibt es da den Film von Pier Paolo Pasolini aus dem Jahr 1964, der es unternommen hatte, die altehrwürdige Schriftform ins lebendige Bild zurückzuholen. Bis ins Einzelne hielt er sich an die Vorgaben des Matthäus, transponierte die Szene in die süditalienische Basilicata, einer Landschaft, die ähnlich weit vom Schuss lag wie das biblische Galiläa, und rekrutierte die Akteure wie Jesus einst seine Jünger, nämlich durch Zuruf an scheinbar ganz ungeeignete Leute aus dem Volk.
Diesen Film nun sieht er, zweitens, durch die Augen seines titelgebenden Protagonisten Salvatore, der schon als Kind nach Deutschland kam, in einer ostfriesischen Pizzeria aufwuchs und jetzt irgendwo an der Unterelbe wohnt, verheiratet mit der Wirtschaftsprüferin Bernadette, die ihn, nachdem er persönlichen Konkurs anmelden musste, mehr oder weniger durchfüttert. Stadler rückt ihn durch alle möglichen Tricks so dicht wie möglich an sich selbst und zugleich an diesen Film heran: Salvatore ist einerseits wie der Autor ein abgebrochener katholischer Theologe; andererseits hat damals praktisch sein ganzer Clan bei Pasolini mitgewirkt, einschließlich eines Onkels, der die Rolle des Matthäus übernahm, so dass den Film wieder anzuschauen für ihn so etwas wie ein Familientreffen bedeutet. Und dann heißt Salvatore auf deutsch natürlich Erlöser.
Danach war er ein anderer
Es sind plumpe Tricks, und sie funktionieren nicht. Man merkt es diesem Salvatore an, dass Stadler ihn als Vehikel und Gefäß benötigt, aber an ihm als Figur nicht wirklich Anteil nimmt. Seine spezifische Stellung zwischen dem deutschen und dem italienischen Kulturraum bleibt undeutlich, man weiß nicht einmal genau, welche der beiden Sprachen ihm jetzt eigentlich Muttersprache ist. Er wird, so will es sein Schöpfer, von einer Sehnsucht nach dem „ganz Anderen” heimgesucht. „Noch ein Buch der Sehnsucht” verkündet Stadler gleich eingangs, dessen letztes Buch der Sehnsucht ein Erfolg gewesen zu sein scheint. Salvatore darf denn auch auf dieses Buch stoßen und gehörig beeindruckt sein: ein Glanzstück auktorialen Taktgefühls.
Salvatores Sehnsucht gelangt zu sich, indem er Pasolinis Film sieht. „Als Salvatore aus diesem Film ,Das Evangelium nach Matthäus nach Pasolini‘ kam, war er ein anderer.” Das setzt Stadler einfach mal so her, zu Beginn des zweiten Teils, welcher einigermaßen ungelenk „Dazugehörigkeitsverlangen” überschrieben ist; und beglaubigt werden soll es hauptsächlich durch die Nacherzählung. Diese jedoch hat das Missliche an sich, dass sie von der Verflüssigung des Films wieder in die Schrift zurückkehren muss, also in das ursprüngliche Medium des Evangeliums. Dessen Wortlaut aber steht fest und gewinnt durch die Paraphrase nichts hinzu; im Gegenteil, sie erweist sich als überflüssig gegenüber dem Original, schlimmer, sie kann stilistisch ihrem Vorbild nicht das Wasser reichen, oder, um es in dessen eigener Sprache zu sagen: Sie ist nicht wert, ihm die Riemen seiner Schuhe zu lösen. Wenn der Engel Josef im Traum erscheint, um ihm mitzuteilen, was es mit Marias Schwangerschaft auf sich hat, dann verdeutlicht Stadler: „Als hätte der Engel sagen wollen: ,Du schaffst es!‘” Der Verrat des Judas erscheint so: „Der arme Judas musste wieder einmal den Spielverderber geben. (. . .) Darauf reichte es Judas. Er ging hinaus, zu den Hohepriestern, und fragte: ,Wie viel? How much? . . . wenn er ihnen verriete, wie sie ihn bekommen könnten.” Da Stadler wirklich und wahrhaftig das gesamte Evangelium auf diese Weise umsetzt, fühlt sich der Leser bald sehr ermüdet.
Irgendwann ist das Buch dann bei der ersten Person Singular angelangt, ohne dass völlig klar würde, ob man hier den räsonierenden Salvatore erlebt oder der Autor sein Geschöpf vom Steuer weggeschubst hat, weil er die Geduld verliert und jetzt selber lenken will; einen großen Unterschied macht es nicht.
Aus dem Matthäus-Evangelium stammt das Wort: So ihr nicht werdet wie die Kinder, werdet ihr das Himmelreich nicht erlangen. Diese Forderung hat aber den äußerst verfänglichen Haken, dass man dabei die Naivität mit bewusstem Vorsatz anstreben muss, wogegen Naivität eben darin besteht, dass sie von sich selbst nichts weiß. Wer es ernst nimmt damit (was Stadler tut), verwickelt sich in einen unlösbaren Widerspruch und kann gar nicht anders, als bei der Regression herauszukommen. Bei Stadler liest sich das so: „Salvatore hätte es gerne gehabt, dieser Priester hätte ,Gelobt sei Jesus Christus‘ gesagt statt ,Guten Tag‘. Und er hätte ,du‘ zu ihm gesagt, wie zu Hause, denn er sehnte sich nach einem Menschen, der ,du‘ sagte zu ihm. Ihn meinte. Das war vielleicht Salvatores Hauptsehnsucht an diesem Tag. Und Salvatore hätte auch nicht ,Guten Tag‘ sagen müssen, und er hätte ,In Ewigkeit. Amen!‘ geantwortet. Denn so weit ging die katholische Zeitrechnung, einst, als das Leben noch einen Sinn hatte. ,In Ewigkeit. Amen!‘ Gott war noch der Einzige, mit dem er per du war. Und ganz kumpelhaft.”
Das ist, um es mit der nötigen Unmissverständlichkeit zu sagen, eine üble Anwanzerei. Umstandslos drängt sie sich Gott so nahe, dass sie sozusagen in die Zone seines Mundgeruchs gelangen will. Das „ganz Andere” sähe jedenfalls anders aus. Eine „Hauptsehnsucht an diesem Tag” wird aufgerufen. Was morgen wohl für Nebensehnsüchte dran sind? Die Sehnsucht ist für Stadler eine Art Dauerlutscher, süß und klebrig und schlechterdings nicht zu erschöpfen: Da sind noch mindestens drei Bücher drin.
Eine Frage der Quellenkritik
Es überrascht kaum, dass man in Stadler/Salvatore auf einen entschiedenen Gegner der jüngeren Theologie und der von ihr entwickelten historisch-kritischen Methode trifft. Sie hat ermittelt, dass die Evangelien, insofern es sich bei ihnen eben um Menschenwerk handelt, auch der Bedingtheit eines solchen unterworfen sind; und dass sie insbesondere, durch den zweifachen Abgrund einer späteren Generation und einer anderen Sprache und Kultur von ihrem Gegenstand getrennt, von Jesus persönlich nicht mehr annähernd so viel gewusst haben können, wie sie behaupten. Stadler ist es sehr wohl bekannt, dass dieser Zeitzünder in den Evangelien selbst drinsitzt und das ehrfürchtige Bemühen um die Heilige Schrift mit Notwendigkeit in sein Gegenteil umschlägt, sobald es alles herausgefunden hat, was es wissen wollte. Hier steckt der Wurm des christlichen Grundkonzepts, das eine absolute Verheißung an die Relativität der Geschichte gebunden hat. Kühn war das und auf die Länge unhaltbar. Ob wir auferstehen werden, hängt nunmehr davon ab, was die Quellenkritik zu diesem Thema zu sagen hat. Zweitausend Jahre hat dieses Faktum gebraucht, bis es sich seinen Weg aus dem Kerngehäuse durch die Schale ans Licht genagt hat, und jetzt müssen alle es sehen – alle, heißt das, die sich nicht trotzig dagegen verblenden. Dies aber tut das „Ich” in Stadlers Buch. Es folgt einer Fernsehsendung mit Uta Ranke-Heinemann. „So wiederholte sie brav die Erkenntnisse der als Wissenschaft gelten wollenden Theologen, die Arme. ,Er (Paulus) wusste nichts von den Auferstehungsmärchen der Evangelien. Aber trotzdem gehört die Auferstehung zu den Grunddaten bei Paulus‘, meinte sie. Es gebe nur ganz wenige Jesusworte, die ,authentisch‘ seien. / Bei ,authentisch‘ schaltete ich ab.”
Das Abschalten meint zunächst den Fernseher, bezeichnet aber allgemein die Haltung dieses Ich zur Welt: Unwillkommene Tatsachen werden wider bessere Einsicht einfach geleugnet. BURKHARD MÜLLER
ARNOLD STADLER: Salvatore. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2008. 223 Seiten, 17,90 Euro.
Via dolorosa: Szene aus Pasolinis Verfilmung des Matthäus-Evangeliums Foto: Cinetext
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Arnold Stadlers „Salvatore” will werden wie die Kinder – und schafft es nicht
Das Evangelium des Matthäus hat es in sich. Immerzu ist Jesus hier auf Achse, wandert, lehrt, wirkt Wunder, weicht den Fallen der Pharisäer aus, und ehe man es sich versieht, ist es auch schon wieder vorbei; denn wenn die Knappheit der Erzählung allgemeines Stilmerkmal der Bibel ist, so zeichnet sich dieses Buch durch eine geradezu bestürzende Kürze aus. Als literarisches Werk ist es, anders als etwa die Psalmen, das Buch Genesis oder das Johannes-Evangelium, eher unbeträchtlich; man spürt, wie sich durch seine Schriftform hindurch etwas Anderes an die Oberfläche drängt, eine unbedingte Präsenz, die lang vergangen sein mag und doch ihre Spur hinterlassen hat.
Angesichts dieses Sachverhalts kann man dem Interessenten eigentlich nur empfehlen: Nimm’s und lies es! Einen Autor freilich muss das in Verlegenheit setzen: Denn es lässt ihm wenig zu tun übrig. Arnold Stadler, Büchner-Preisträger des Jahres 1999, schlägt darum einen doppelten Umweg ein, um durch seine Mittel dem Puls des Buches nah zu kommen.
Zum einen gibt es da den Film von Pier Paolo Pasolini aus dem Jahr 1964, der es unternommen hatte, die altehrwürdige Schriftform ins lebendige Bild zurückzuholen. Bis ins Einzelne hielt er sich an die Vorgaben des Matthäus, transponierte die Szene in die süditalienische Basilicata, einer Landschaft, die ähnlich weit vom Schuss lag wie das biblische Galiläa, und rekrutierte die Akteure wie Jesus einst seine Jünger, nämlich durch Zuruf an scheinbar ganz ungeeignete Leute aus dem Volk.
Diesen Film nun sieht er, zweitens, durch die Augen seines titelgebenden Protagonisten Salvatore, der schon als Kind nach Deutschland kam, in einer ostfriesischen Pizzeria aufwuchs und jetzt irgendwo an der Unterelbe wohnt, verheiratet mit der Wirtschaftsprüferin Bernadette, die ihn, nachdem er persönlichen Konkurs anmelden musste, mehr oder weniger durchfüttert. Stadler rückt ihn durch alle möglichen Tricks so dicht wie möglich an sich selbst und zugleich an diesen Film heran: Salvatore ist einerseits wie der Autor ein abgebrochener katholischer Theologe; andererseits hat damals praktisch sein ganzer Clan bei Pasolini mitgewirkt, einschließlich eines Onkels, der die Rolle des Matthäus übernahm, so dass den Film wieder anzuschauen für ihn so etwas wie ein Familientreffen bedeutet. Und dann heißt Salvatore auf deutsch natürlich Erlöser.
Danach war er ein anderer
Es sind plumpe Tricks, und sie funktionieren nicht. Man merkt es diesem Salvatore an, dass Stadler ihn als Vehikel und Gefäß benötigt, aber an ihm als Figur nicht wirklich Anteil nimmt. Seine spezifische Stellung zwischen dem deutschen und dem italienischen Kulturraum bleibt undeutlich, man weiß nicht einmal genau, welche der beiden Sprachen ihm jetzt eigentlich Muttersprache ist. Er wird, so will es sein Schöpfer, von einer Sehnsucht nach dem „ganz Anderen” heimgesucht. „Noch ein Buch der Sehnsucht” verkündet Stadler gleich eingangs, dessen letztes Buch der Sehnsucht ein Erfolg gewesen zu sein scheint. Salvatore darf denn auch auf dieses Buch stoßen und gehörig beeindruckt sein: ein Glanzstück auktorialen Taktgefühls.
Salvatores Sehnsucht gelangt zu sich, indem er Pasolinis Film sieht. „Als Salvatore aus diesem Film ,Das Evangelium nach Matthäus nach Pasolini‘ kam, war er ein anderer.” Das setzt Stadler einfach mal so her, zu Beginn des zweiten Teils, welcher einigermaßen ungelenk „Dazugehörigkeitsverlangen” überschrieben ist; und beglaubigt werden soll es hauptsächlich durch die Nacherzählung. Diese jedoch hat das Missliche an sich, dass sie von der Verflüssigung des Films wieder in die Schrift zurückkehren muss, also in das ursprüngliche Medium des Evangeliums. Dessen Wortlaut aber steht fest und gewinnt durch die Paraphrase nichts hinzu; im Gegenteil, sie erweist sich als überflüssig gegenüber dem Original, schlimmer, sie kann stilistisch ihrem Vorbild nicht das Wasser reichen, oder, um es in dessen eigener Sprache zu sagen: Sie ist nicht wert, ihm die Riemen seiner Schuhe zu lösen. Wenn der Engel Josef im Traum erscheint, um ihm mitzuteilen, was es mit Marias Schwangerschaft auf sich hat, dann verdeutlicht Stadler: „Als hätte der Engel sagen wollen: ,Du schaffst es!‘” Der Verrat des Judas erscheint so: „Der arme Judas musste wieder einmal den Spielverderber geben. (. . .) Darauf reichte es Judas. Er ging hinaus, zu den Hohepriestern, und fragte: ,Wie viel? How much? . . . wenn er ihnen verriete, wie sie ihn bekommen könnten.” Da Stadler wirklich und wahrhaftig das gesamte Evangelium auf diese Weise umsetzt, fühlt sich der Leser bald sehr ermüdet.
Irgendwann ist das Buch dann bei der ersten Person Singular angelangt, ohne dass völlig klar würde, ob man hier den räsonierenden Salvatore erlebt oder der Autor sein Geschöpf vom Steuer weggeschubst hat, weil er die Geduld verliert und jetzt selber lenken will; einen großen Unterschied macht es nicht.
Aus dem Matthäus-Evangelium stammt das Wort: So ihr nicht werdet wie die Kinder, werdet ihr das Himmelreich nicht erlangen. Diese Forderung hat aber den äußerst verfänglichen Haken, dass man dabei die Naivität mit bewusstem Vorsatz anstreben muss, wogegen Naivität eben darin besteht, dass sie von sich selbst nichts weiß. Wer es ernst nimmt damit (was Stadler tut), verwickelt sich in einen unlösbaren Widerspruch und kann gar nicht anders, als bei der Regression herauszukommen. Bei Stadler liest sich das so: „Salvatore hätte es gerne gehabt, dieser Priester hätte ,Gelobt sei Jesus Christus‘ gesagt statt ,Guten Tag‘. Und er hätte ,du‘ zu ihm gesagt, wie zu Hause, denn er sehnte sich nach einem Menschen, der ,du‘ sagte zu ihm. Ihn meinte. Das war vielleicht Salvatores Hauptsehnsucht an diesem Tag. Und Salvatore hätte auch nicht ,Guten Tag‘ sagen müssen, und er hätte ,In Ewigkeit. Amen!‘ geantwortet. Denn so weit ging die katholische Zeitrechnung, einst, als das Leben noch einen Sinn hatte. ,In Ewigkeit. Amen!‘ Gott war noch der Einzige, mit dem er per du war. Und ganz kumpelhaft.”
Das ist, um es mit der nötigen Unmissverständlichkeit zu sagen, eine üble Anwanzerei. Umstandslos drängt sie sich Gott so nahe, dass sie sozusagen in die Zone seines Mundgeruchs gelangen will. Das „ganz Andere” sähe jedenfalls anders aus. Eine „Hauptsehnsucht an diesem Tag” wird aufgerufen. Was morgen wohl für Nebensehnsüchte dran sind? Die Sehnsucht ist für Stadler eine Art Dauerlutscher, süß und klebrig und schlechterdings nicht zu erschöpfen: Da sind noch mindestens drei Bücher drin.
Eine Frage der Quellenkritik
Es überrascht kaum, dass man in Stadler/Salvatore auf einen entschiedenen Gegner der jüngeren Theologie und der von ihr entwickelten historisch-kritischen Methode trifft. Sie hat ermittelt, dass die Evangelien, insofern es sich bei ihnen eben um Menschenwerk handelt, auch der Bedingtheit eines solchen unterworfen sind; und dass sie insbesondere, durch den zweifachen Abgrund einer späteren Generation und einer anderen Sprache und Kultur von ihrem Gegenstand getrennt, von Jesus persönlich nicht mehr annähernd so viel gewusst haben können, wie sie behaupten. Stadler ist es sehr wohl bekannt, dass dieser Zeitzünder in den Evangelien selbst drinsitzt und das ehrfürchtige Bemühen um die Heilige Schrift mit Notwendigkeit in sein Gegenteil umschlägt, sobald es alles herausgefunden hat, was es wissen wollte. Hier steckt der Wurm des christlichen Grundkonzepts, das eine absolute Verheißung an die Relativität der Geschichte gebunden hat. Kühn war das und auf die Länge unhaltbar. Ob wir auferstehen werden, hängt nunmehr davon ab, was die Quellenkritik zu diesem Thema zu sagen hat. Zweitausend Jahre hat dieses Faktum gebraucht, bis es sich seinen Weg aus dem Kerngehäuse durch die Schale ans Licht genagt hat, und jetzt müssen alle es sehen – alle, heißt das, die sich nicht trotzig dagegen verblenden. Dies aber tut das „Ich” in Stadlers Buch. Es folgt einer Fernsehsendung mit Uta Ranke-Heinemann. „So wiederholte sie brav die Erkenntnisse der als Wissenschaft gelten wollenden Theologen, die Arme. ,Er (Paulus) wusste nichts von den Auferstehungsmärchen der Evangelien. Aber trotzdem gehört die Auferstehung zu den Grunddaten bei Paulus‘, meinte sie. Es gebe nur ganz wenige Jesusworte, die ,authentisch‘ seien. / Bei ,authentisch‘ schaltete ich ab.”
Das Abschalten meint zunächst den Fernseher, bezeichnet aber allgemein die Haltung dieses Ich zur Welt: Unwillkommene Tatsachen werden wider bessere Einsicht einfach geleugnet. BURKHARD MÜLLER
ARNOLD STADLER: Salvatore. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2008. 223 Seiten, 17,90 Euro.
Via dolorosa: Szene aus Pasolinis Verfilmung des Matthäus-Evangeliums Foto: Cinetext
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Mit Begeisterung und Faszination hat der hier rezensierende Schriftsteller Andreas Maier Arnold Stadlers neues Buch gelesen, das er "ergreifend disparat" und geradezu absichtsvoll kaputt daherkommen sieht. Beim Lesen fühlte er sich, als wohne er gerade einem Pfingsterlebnis bei. Bereits nach einem Drittel breche der erzählerische Ansatz ab, und es folge eine Nacherzählung von Pasolinis Verfilmung der Matthäuspassion, die zu einem Stadler-Text umgeschrieben werde. Der letzte Teil des Buchs sei ein Essay über Pasolinis Leben und Sterben und seine Liebe, gefolgt von Betrachtungen über die gegenwärtige katholische Kirche sowie einer Beschreibung von Caravaggios Zöllnerbild. Stadler lasse jeden Schutz fallen und schreibe Dinge, die vom öffentlichen Diskurs sofort zerfetzt werden könnten. Alle Teile des Buches fielen auseinander und doch gehe es um dasselbe. Um Glaube, um Gott, aber auch um den Zwang, sich zu so etwas Sterilem wie Homosexualität bekennen zu müssen, wo es doch um Liebe geht. Dabei sieht Maier Stadlers Sprache wie einen Film von Pasolini und das Evangelium selber blühen. Und dieses Blühen möchte der Rezensent gerne "Heiligen Geist" nennen. Und das tut er dann auch.
© Perlentaucher Medien GmbH
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