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Eine in 720 Gedichten vorgetragene Staats- und Dichtungstheorie. In Wührs Konzeption einer poetischen Republik, in der die Gegensätze und Übertreibungen nicht ausgeblendet oder verboten, sondern ausdrücklich verlangt werden, wird eine Sprache gesprochen, die alle Ideologien und auch die Religion unterläuft. Sein Vertrauen in die res publica poetica ist alles andere als naiv - im Gegenteil: es ist der wohlbegründete Aufruf, die Widersprüche unserer fortgeschrittenen Zivilisation auszuhalten.

Produktbeschreibung
Eine in 720 Gedichten vorgetragene Staats- und Dichtungstheorie. In Wührs Konzeption einer poetischen Republik, in der die Gegensätze und Übertreibungen nicht ausgeblendet oder verboten, sondern ausdrücklich verlangt werden, wird eine Sprache gesprochen, die alle Ideologien und auch die Religion unterläuft. Sein Vertrauen in die res publica poetica ist alles andere als naiv - im Gegenteil: es ist der wohlbegründete Aufruf, die Widersprüche unserer fortgeschrittenen Zivilisation auszuhalten.
Autorenporträt
Paul Wühr wurde 1927 in München geboren, wo er nach Kriegsende als Volksschullehrer arbeitete. Heute lebt er abwechselnd in München und Passignano, Italien. Sein Werk wurde unter anderem mit dem Bremer Literaturpreis und dem Petrarca Preis ausgezeichnet. Zuletzt widmete ihm das Literaturhaus in München eine eigene Ausstellung.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.07.1997

Und doch irgendwie klassisch
Groß: Ein Lyrikzyklus zum siebzigsten Geburtstag von Paul Wühr

Salve! Rechtzeitig zu seinem siebzigsten Geburtstag, den er heute feiert, hat Paul Wühr wieder einmal ein völlig falsches Buch veröffentlicht. Er verfaßt nur falsche Bücher. Sie sind geradezu sein Markenzeichen, spätestens seit 1983, als "Das falsche Buch" wirklich erschien und von der Kritik mit Begeisterung aufgenommen wurde. Aber natürlich war auch schon das heute bereits legendäre "Gegenmünchen" (1970) ein "falsches Buch", weil es nicht als Lese-Buch, sondern als "Wörterstadt" verstanden werden wollte.

Dieses Mal ist es ein Gedichtband, und "falsch" (im Sinne einer Plazierung auf dem Markt) ist es schon, dies nicht zu sagen, sondern dem Buch statt dessen einen recht befremdlichen Titel, noch dazu in lateinischer Sprache, zu geben, der vielleicht mit der ziemlich altfränkisch anmutenden Formel "Sei willkommen, Reich der Poesie!" ins Deutsche zu übersetzen wäre. Aber ehrfurchtgebietend ist nicht nur der Titel, sondern auch der Umfang des Buches: Achthundert Seiten gestatten sich allenfalls Anthologien, nicht aber schmale Neuerscheinungen, die jedem einzelnen Gedicht seine Individualität zu sichern suchen.

Auch gegen diese Konvention verstößt Wühr eklatant. Die Einzeltexte sind nur schwer isolierbar, ja kaum zitierbar: Fast ein Drittel der Gedichte trägt den Titel "Ob", der zugleich als Beginn des jeweiligen Textes zu lesen ist. Auch die anderen Gedichtüberschriften - "Als", "Sobald", "Übrigens", "Wenn", "Nun", "Weil" und so fort - geben stets einen fortlaufenden Reflexions- und Redezusammenhang der Texte zu erkennen. Wir haben es mit einem gewaltigen Zyklus zu tun, nicht mit einer bloßen Sammlung von Einzelgedichten, die das Inhaltsverzeichnis, das nur die Kapitel anführt, konsequenterweise auch gar nicht erst nennt. Kaum eine Chance also, ein schönstes, besonders treffendes oder charakteristisches Gedicht hervorzuheben - zu sehr sind die Einzeltexte mit dem Ganzen verwoben. Man muß da durch - oder man läßt es bleiben.

In dem erkennbaren Bemühen, dem eiligen Leser jeden bequemen Zugang zu seinem Werk zu versperren, ist Paul Wühr von seinen Apologeten nach besten Kräften unterstützt worden. Sie meinen es gut mit ihm. Sie wollen ihm die tatsächlich komplexe und angeblich komplizierte Konzeption seiner Werke zu seinem Vorteil anrechnen - und sie tun ihm und seinem Werk damit doch keinen Gefallen. Paul Wühr wollte, so ist zu erfahren (aus der Zeitschrift "Das Gedicht", Nr. 4 vom Oktober 1996), allen Ernstes und voller Lust am Ende in das lyrische Salve-Opus noch "einen Ausfall gegen die Kritiker hineinschreiben". Er ließ es sich ausreden: "Die Weisen, meine Frauen und Freunde, raten bestimmt ab." Sie hatten recht. Denn Paul Wühr besitzt, genaugenommen und von wenigen Ausnahmen abgesehen, nur wohlwollende, gute und freundliche Kritiker, die etwas für ihn und sein Werk tun wollen.

Darin, in seinem Werk, gibt es epigrammatischen Witz, Pathos und Komik, "längere Gedankenspiele", Reime und Assonanzen, Terzinen, viel Gelehrsamkeit, Belesenheit und Obszönität, es gibt Zitate, Zitate, Zitate, wohin man schaut, mehrmals sogar durch die historische Schreibweise deutlich markiert; es gibt Parodien und veritable Kontrafakturen:

Nun

aber lobet die Herren die mächtigen

alles

machen sie uns dort oben zuhauf

lasset

Psalter und Harfe aufwachen und

Lobgesang

hören wie alles so regieret wird

hast du

nicht dieses verspüret wie die

über

wieviel Not ihre gnädigen Lügen

gebreitet

Nicht weniger als fünfzig Kapitel von sehr unterschiedlichem Umfang mit insgesamt 649 Gedichten umfaßt das Buch - mehr als das gesamte lyrische OEuvre von Günter Eich oder Paul Celan. Die kürzesten Kapitel bestehen aus einem einzigen Gedicht, das längste enthält unter dem Titel "Freistaat" - und damit ist Bayern gemeint - 62 bitterböse Gedichte. Allen diesen Kapiteln sind (bis zu acht) themenbezogene, insgesamt 125 Motti vorangestellt. Wührs Götter und Helden sind Seume, die Günderode, Hamann, seine "beiden Lessings" (Gotthold Ephraim und Theodor), Montaigne: wilde Denker. Er hat, wie sie, keine Lehre, kein System, er rennt vielmehr, wie sie, gegen bestehende Systeme, Denkschablonen an, wobei das "Anrennen" die Bewegungsart seiner Texte sicherlich unzutreffend wiedergibt: Es handelt sich eher um ein "Gegenanschleichen", eine allmähliche Unterwanderung, die hier stattfindet.

All seine Themen entwickelt Wühr unmittelbar aus den Wörtern selbst, aus der gesprochenen und der geschriebenen Sprache. Schon die Titel seiner Lyrikbücher "Rede" (1979) und "Sage" (1988) - als Substantiv und als Imperativ lesbar - lassen das deutlich erkennen: Die Wörter sind die Erzeuger und die Gebärenden seiner Poesie. Das gesprochene oder geschriebene Wort bringt das Widerwort und den Widerspruch hervor und fordert es heraus, so daß auch die permanenten Fragen nach dem Richtigen und dem Falschen, nach der Gerechtigkeit, nach Macht und Herrschaft, nach Bekenntnissen und Ideologien, die Wührs Werk durchziehen, sich als Wortgeburten, als selbst wieder fragwürdige Antworten erweisen:

Ansonsten

aber sagte Gotthold Ephraim

Lessing wie anders könnte

es Weizmann gemeint

haben

einen Deutschen der an dem

Juden in seiner Person nicht hängt

wie ich an dem Deutschen in

mir nicht

kann das Staatsoberhaupt

Israels hier nicht einmal

in Gedanken ausweisen

wollen und

schon gar nicht heimholen

Paul Wühr ist ein singuläres Phänomen im literarischen Leben Deutschlands. Das Monströse, das Obsessive, die Eigenbrötelei seines Werkes mag an Arno Holz ("Phantasus"), an Theodor Däubler ("Nordlicht") oder an Arno Schmidt erinnern, aber Wühr tritt, anders als sie, nicht mit dem Gestus des Propheten auf. Er relativiert ständig seine eigene Position und ist schlechterdings keiner Richtung, keiner Gruppe, keinem Trend zuzuordnen. Merkwürdig bleibt allerdings, daß die extrem "progressiven" Schriftsteller, die "Experimentellen" und "Avantgardisten", oft zugleich extrem traditionsorientiert sind: Gomringer, der Vater, und Heissenbüttel, der Sohn der Konkreten Poesie, waren von Stefan George fasziniert. Der freche Arno Schmidt, mit dem Wühr in mancher Hinsicht, etwa mit seinen sexuellen Obsessionen und mit seiner Vorliebe für vergessene Kollegen, vergleichbar ist, war dem positivistischen Denken des neunzehnten Jahrhunderts verbunden. In diese Reihe läßt sich auch Paul Wühr einfügen. Er ist, allem Anschein zum Trotz, ein zutiefst konservativer Avantgardist.

Wührs Gedichte sind alles andere als blutvoll und sinnlich. Sie leben nicht von dem Metaphernreichtum, sondern vom Reichtum an Gedanken. Nach seinen "Lieblingsgegnern" gefragt, ließ er sich die Namen Ingeborg Bachmann, Paul Celan, Günter Grass, Günter Herburger und Arno Schmidt entlocken. Das zielt offenbar in zwei Richtungen. Einerseits hat das lyrisch-metaphorische Sprechen mit und im Anschluß an Paul Celan ein Ausmaß an Rätselhaftigkeit erreicht, das die Herstellungspraxis solcher Lyrik zu bloßer Pose und die Entschlüsselungslust der Leser zu unverbindlicher Raterei verkommen zu lassen droht. Und andererseits mögen Grass, Herburger und Arno Schmidt für Wühr Repräsentanten einer Literatur sein, die sich einer "realistischen" Wiedergabe, einer Nachahmung außerliterarischer Vorgänge und Gegenheiten verschrieben hat. Beides entspricht nicht dem Selbstverständnis Wührs. Dem vergleichenden "Als ob" der metaphorischen Poesie und dem feststellenden "Daß" der rekapitulierenden Poesie stellt er das unerbittlich erwägende "Ob" der reflektierenden Poesie gegenüber:

Ob

was zum allerheiligsten Beispiel

als der Mensch mit Haupt und

Gliedern hier vorkommt

nach meinem Ebenbild wie gesagt

wurde und Gleichnis also

das vom Schöpfer und Geschöpf ob

was vorgesehen ist

und nichts ist falsch daran hier wo

es richtig zugeht wo

geherrscht wird über

wo sich immer viele nach einem

richten und man weiß

ja wir werden nicht richtig

fertig

Man sieht: Ganz leicht verständlich sind auch Wührs Gedichte nicht. Und das Fehlen jeglicher Interpunktion sorgt zusätzlich dafür, daß der Leser sein Lesetempo verlangsamt, so daß ihm nicht nur die syntaktisch zusammengehörigen Teile, sondern auch die Doppeldeutigkeiten, die Rückverweise, die Unterbrechungen, die Anakoluthe, die Kommentare und die Abwechslungen in der Perspektive auffallen; aber grundsätzlich gilt doch, daß den Texten grammatisch und logisch vollständige und verständliche Redeweisen entnommen werden können.

Heiter und unerbittlich, tückisch, ironisch und mit vielem Federlesen führt Wühr den Leser in sein Labyrinth. Verquer, obszön, wild, obskur, bajuwarisch, aber doch "irgendwie klassisch", um seinen Geistesverwandten Karl Kraus zu zitieren - das ist Paul Wührs Opus. Es paßt absolut nicht in unsere Zeit. Das macht seine Bedeutung aus. WULF SEGEBRECHT

Paul Wühr: "Salve res publica poetica". Carl Hanser Verlag, München und Wien 1997. 800 S., geb., 98,- DM.

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