Wadi al-Ujun, das Tal der Wasserquellen. Nur der Regen, die Karawanen und das Gebet bestimmen den Rhythmus der Oase. Doch eines Tages dringen Amerikaner in die Idylle ein, um verborgene Erdölfelder zu erschließen, und die Dorfbewohner erkennen bald, dass ihr Leben nie mehr dasselbe sein wird.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.01.2004Des Saudis letzter Seufzer
Ursprung des arabischen Unheils: Abdalrachman Munifs Hauptwerk
Dies ist das Buch der Araber! Vergessen wir den Koran, den doch niemand versteht, am wenigsten die Araber selber. Vergessen wir den Propheten, dessen Gesicht man nicht malen darf. Wer wissen will, wer die Araber waren, die echten Araber, die in der Wüste, auf der saudiarabischen Halbinsel selbst, wo einst der Prophet wirkte; wer wissen will, warum die Saudis wurden, was sie sind, von aller Welt hofiert, doch bedroht von Terroristen, die sogar noch fundamentalistischer sind als sie selbst, der lese dieses Buch des gerade verstorbenen Autors Abdalrachman Munif (F.A.Z. vom 26. Januar). Die Araber selbst haben es getan, um sich wiederzufinden, als das Werk 1984 erstmals auf arabisch erschien. Es wurde eines der großen Kultbücher der modernen arabischen Literatur, der aus arabischen Buchhandlungen am häufigsten gestohlene Titel. Es handelt sich um den ersten Band einer ausgreifenden Pentalogie unter dem schillernden Titel "Salzstädte".
Wie viele große Bücher ist auch dieses alles in einem: ein historischer Roman, ein Werk des Mythos, ein Epos der Metamorphosen, ein Abgesang, eine Anklage. Es beginnt in einer archaischen, vormodernen Welt und endet im Durcheinander der Moderne, in der Haltlosigkeit, beim verzweifelten Klammern an Werte, die nichts mehr besagen. Zugegeben, all das hat man auch schon anderswo gelesen. Nie zuvor jedoch zeigte sich dieser Schiffbruch aus der Perspektive der anderen, zu spät Gekommenen, Überrollten, der Opfer und Objekte einer Historie, deren Subjekte letztlich doch immer eher wir, die Macher und Macker aus dem Westen, zu sein scheinen. Abdalrachman Munif verleiht seinen Figuren eine Sprache, die sie eigentlich schon verloren hatten. Durch ihn können wir den Ursprung dessen, was am 11. September 2001 geschah, mit anderen Augen sehen.
Es sind die dunklen Augen der Bewohner der saudischen Wüste in den zwanziger und dreißiger Jahren, der Beduinen, Karawanenhändler und Oasenbauern. "Wadi al-Ujun mag in den Augen seiner Bewohner nichts Besonderes sein. Sie sind es gewohnt, das Wadi voller Dattelpalmen und die Wasserquellen im Winter und zu Beginn des Frühlings allenthalben sprudeln zu sehen. Aber sie spüren, daß eine segensreiche Kraft sie schützt und ihr Leben begleitet." Vorerst. Die Gesetze dieser Welt sind streng, aber es sind Gesetze, die gelten. Jeder weiß hier noch, was er leisten muß und was er erwarten darf. Was sein Recht ist, seine Ehre und seine Pflicht.
Eines Tages kommen Ausländer nach Wadi al-Ujun und führen rätselhafte Verhandlungen mit Ibn Rasched, einem der Notabeln des Orts. Was sie wollen, scheint niemandem klar zu sein, auch Ibn Rasched hüllt sich in Schweigen. Einer der Einheimischen, Mut'ib Haddal, wittert Unheil, und er behält recht. Denn wenige Monate später rückt eine ganze Mannschaft von Ausländern an, baut ein Camp, setzt nie gesehene Maschinen zusammen, walzt die Palmen platt, schüttet die Kanäle zu und beginnt mit den Bohrungen. Während Mut'ib Haddal spurlos verschwindet und die Menschen glauben, er werde eines Tages als Rächer wiederkehren, werden die verständnislosen Bewohner des Wadis zur Umsiedlung gezwungen. Keine der Regeln, auf die sie sich berufen, gilt mehr. Schließlich wissen sie sich nicht anders zu helfen - welche Schmach! -, als sich selbst den Amerikanern anzudienen. Sie gelangen in die Küstenstadt Harran, eine schwül-heiße Hölle, die die Amerikaner zum Ölhafen ausbauen wollen. Hier vollzieht sich der Zusammenstoß der Wüstenaraber mit der Moderne in seiner ganzen, quälenden Ausführlichkeit.
Es ist eine verblüffende, großartige Leseerfahrung, diese Entwicklung ausschließlich aus der Sicht der Araber zu verfolgen. Die Amerikaner bleiben Unbekannte, so sehr von außen gesehen, daß sie nicht einmal als Feinde erscheinen. Sie kommen über die Araber wie eine Naturkatastrophe, nicht wie Eroberer. Aber Munif läßt sich nicht zur Schwarzmalerei hinreißen. Die Gegner und Schuldigen sind nie die unverstandenen Amerikaner, sondern diejenigen unter den Arabern, die mit ihnen gemeinsame Sache machen, die vom Geld und den technischen Errungenschaften der Amerikaner geblendet werden und ihre Landsleute dafür verraten. Die Entwertung der beduinischen Rituale breitet sich aus wie ein von den Amerikanern unabsichtlich eingeschleppter Virus. Abdalrachman Munif erzählt davon in immer neu anhebenden Episoden, die häufig geschlossene Erzählungen für sich bilden.
Ibn Rasched steigt zwar in Harran zu einem der reichsten Männer der Stadt auf, aber als ein Arbeiter bei einem Unfall ums Leben kommt, fürchtet er die Rache der Angehörigen. Sein schlechtes Gewissen steigert sich zu einer Paranoia, die ihn ins Grab bringt. Der für Harran zuständige Emir hingegen kennt zwar keine Gewissensbisse, aber auch ihn verwirren die neuen Verhältnisse, deren Versuchungen er erliegt. Gerade in der Schilderung des Emirs zeigt sich Munifs satirische Stärke. Dieser Emir ist ein Narr, der angesichts seiner Begeisterung über die technischen Errungenschaften der Amerikaner jeglichen Blick für Relationen verliert. Er bekommt ein Fernrohr geschenkt, das er fortan nicht mehr vom Auge nimmt: eine ebenso komische wie schreckliche Episode, zugleich ein treffendes Bild für die Verzerrung der Weltsicht, die sich hier ereignet, für das, was passiert, wenn die Technik in Hände fällt, die sie nicht zu gebrauchen wissen. In solchen Details, fast mehr noch als im großen Ganzen, steckt die tiefe Weisheit und Gültigkeit dieses Epos. Am Beispiel Harrans rollt Munif, ohne daß es je aufdringlich anmutet, die Perversionen der technischen Zivilisation auf. Da gibt es den modernen Doktor, der die Leute um ihr Geld bringt und doch kaum besser heilt als der Schamane mit seinem Kauterisiereisen. Oder den Kompaniechef einer neu gegründeten Polizeitruppe, der sich, kaum daß er die Uniform anhat, in einen Tyrannen verwandelt und geradezu zwanghaft nach einer Gelegenheit sucht, endlich ein kleines Massaker zu verüben.
Gegen diese Phalanx zwielichtiger Gestalten stehen die Aufrechten auf verlorenem Posten. Falls sie nicht irgendwann umkommen, verschwinden sie spurlos in der Wüste und geistern fortan in der Phantasie der Zurückgebliebenen als Rächer oder als Schutzengel herum. Nie aber sind die Figuren statisch. Der Islam-Fundamentalist, der auch vorkommt, erscheint anfangs als Spinner - und ist es auch. In dem Moment aber, wo es zum Streik kommt und die Situation eskaliert, ist gerade er wegen seiner Haltung, die ihn gegen alle Anfechtungen immun macht, einer der wenigen, auf den sich die Arbeiter sicher verlassen können. Mit diesem Streik aber sind die Arbeiter, die als letzte noch die Tugenden der Beduinen verkörperten, ungewollt selbst in der Moderne angekommen. Es gibt kein Zurück mehr. Fortan werden sie, werden die Wüstenaraber sich nur noch durchsetzen können, wenn sie die Methoden der modernen Arbeitswelt übernehmen, gegen die sie sich doch so lange gewehrt haben. Der hergebrachte Ehrenkodex erstarrt zur Fassade, hinter der alles denkbar wird.
Kein Wunder, daß Abdalrachman Munif, der 1933 als Kind eines Saudi und einer Irakerin geboren wurde, die saudische Staatsbürgerschaft nach der Publikation dieses allzu genauen Buchs aberkannt wurde. Man fragt sich aber, warum von den mittlerweile vier auf deutsch lieferbaren Büchern Munifs dieses, sein bestes und wichtigstes, zuletzt übersetzt wurde. Zwar ist es so umfangreich wie die drei anderen Titel zusammen, aber es liest sich auch ungleich besser, nicht zuletzt dank der hervorragenden Übersetzung von Magda Barakat und Larissa Bender. Die arabische Literatur, schließen wir aus diesem überraschenden Nachzügler, ist immer noch zu entdecken!
STEFAN WEIDNER
Abdalrachman Munif: "Salzstädte". Roman. Aus dem Arabischen übersetzt von Magda Barakat und Larissa Bender. Diederichs, Heinrich Hugendubel Verlag, München 2003. 559 S., geb., 24,95 [Euro].
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Ursprung des arabischen Unheils: Abdalrachman Munifs Hauptwerk
Dies ist das Buch der Araber! Vergessen wir den Koran, den doch niemand versteht, am wenigsten die Araber selber. Vergessen wir den Propheten, dessen Gesicht man nicht malen darf. Wer wissen will, wer die Araber waren, die echten Araber, die in der Wüste, auf der saudiarabischen Halbinsel selbst, wo einst der Prophet wirkte; wer wissen will, warum die Saudis wurden, was sie sind, von aller Welt hofiert, doch bedroht von Terroristen, die sogar noch fundamentalistischer sind als sie selbst, der lese dieses Buch des gerade verstorbenen Autors Abdalrachman Munif (F.A.Z. vom 26. Januar). Die Araber selbst haben es getan, um sich wiederzufinden, als das Werk 1984 erstmals auf arabisch erschien. Es wurde eines der großen Kultbücher der modernen arabischen Literatur, der aus arabischen Buchhandlungen am häufigsten gestohlene Titel. Es handelt sich um den ersten Band einer ausgreifenden Pentalogie unter dem schillernden Titel "Salzstädte".
Wie viele große Bücher ist auch dieses alles in einem: ein historischer Roman, ein Werk des Mythos, ein Epos der Metamorphosen, ein Abgesang, eine Anklage. Es beginnt in einer archaischen, vormodernen Welt und endet im Durcheinander der Moderne, in der Haltlosigkeit, beim verzweifelten Klammern an Werte, die nichts mehr besagen. Zugegeben, all das hat man auch schon anderswo gelesen. Nie zuvor jedoch zeigte sich dieser Schiffbruch aus der Perspektive der anderen, zu spät Gekommenen, Überrollten, der Opfer und Objekte einer Historie, deren Subjekte letztlich doch immer eher wir, die Macher und Macker aus dem Westen, zu sein scheinen. Abdalrachman Munif verleiht seinen Figuren eine Sprache, die sie eigentlich schon verloren hatten. Durch ihn können wir den Ursprung dessen, was am 11. September 2001 geschah, mit anderen Augen sehen.
Es sind die dunklen Augen der Bewohner der saudischen Wüste in den zwanziger und dreißiger Jahren, der Beduinen, Karawanenhändler und Oasenbauern. "Wadi al-Ujun mag in den Augen seiner Bewohner nichts Besonderes sein. Sie sind es gewohnt, das Wadi voller Dattelpalmen und die Wasserquellen im Winter und zu Beginn des Frühlings allenthalben sprudeln zu sehen. Aber sie spüren, daß eine segensreiche Kraft sie schützt und ihr Leben begleitet." Vorerst. Die Gesetze dieser Welt sind streng, aber es sind Gesetze, die gelten. Jeder weiß hier noch, was er leisten muß und was er erwarten darf. Was sein Recht ist, seine Ehre und seine Pflicht.
Eines Tages kommen Ausländer nach Wadi al-Ujun und führen rätselhafte Verhandlungen mit Ibn Rasched, einem der Notabeln des Orts. Was sie wollen, scheint niemandem klar zu sein, auch Ibn Rasched hüllt sich in Schweigen. Einer der Einheimischen, Mut'ib Haddal, wittert Unheil, und er behält recht. Denn wenige Monate später rückt eine ganze Mannschaft von Ausländern an, baut ein Camp, setzt nie gesehene Maschinen zusammen, walzt die Palmen platt, schüttet die Kanäle zu und beginnt mit den Bohrungen. Während Mut'ib Haddal spurlos verschwindet und die Menschen glauben, er werde eines Tages als Rächer wiederkehren, werden die verständnislosen Bewohner des Wadis zur Umsiedlung gezwungen. Keine der Regeln, auf die sie sich berufen, gilt mehr. Schließlich wissen sie sich nicht anders zu helfen - welche Schmach! -, als sich selbst den Amerikanern anzudienen. Sie gelangen in die Küstenstadt Harran, eine schwül-heiße Hölle, die die Amerikaner zum Ölhafen ausbauen wollen. Hier vollzieht sich der Zusammenstoß der Wüstenaraber mit der Moderne in seiner ganzen, quälenden Ausführlichkeit.
Es ist eine verblüffende, großartige Leseerfahrung, diese Entwicklung ausschließlich aus der Sicht der Araber zu verfolgen. Die Amerikaner bleiben Unbekannte, so sehr von außen gesehen, daß sie nicht einmal als Feinde erscheinen. Sie kommen über die Araber wie eine Naturkatastrophe, nicht wie Eroberer. Aber Munif läßt sich nicht zur Schwarzmalerei hinreißen. Die Gegner und Schuldigen sind nie die unverstandenen Amerikaner, sondern diejenigen unter den Arabern, die mit ihnen gemeinsame Sache machen, die vom Geld und den technischen Errungenschaften der Amerikaner geblendet werden und ihre Landsleute dafür verraten. Die Entwertung der beduinischen Rituale breitet sich aus wie ein von den Amerikanern unabsichtlich eingeschleppter Virus. Abdalrachman Munif erzählt davon in immer neu anhebenden Episoden, die häufig geschlossene Erzählungen für sich bilden.
Ibn Rasched steigt zwar in Harran zu einem der reichsten Männer der Stadt auf, aber als ein Arbeiter bei einem Unfall ums Leben kommt, fürchtet er die Rache der Angehörigen. Sein schlechtes Gewissen steigert sich zu einer Paranoia, die ihn ins Grab bringt. Der für Harran zuständige Emir hingegen kennt zwar keine Gewissensbisse, aber auch ihn verwirren die neuen Verhältnisse, deren Versuchungen er erliegt. Gerade in der Schilderung des Emirs zeigt sich Munifs satirische Stärke. Dieser Emir ist ein Narr, der angesichts seiner Begeisterung über die technischen Errungenschaften der Amerikaner jeglichen Blick für Relationen verliert. Er bekommt ein Fernrohr geschenkt, das er fortan nicht mehr vom Auge nimmt: eine ebenso komische wie schreckliche Episode, zugleich ein treffendes Bild für die Verzerrung der Weltsicht, die sich hier ereignet, für das, was passiert, wenn die Technik in Hände fällt, die sie nicht zu gebrauchen wissen. In solchen Details, fast mehr noch als im großen Ganzen, steckt die tiefe Weisheit und Gültigkeit dieses Epos. Am Beispiel Harrans rollt Munif, ohne daß es je aufdringlich anmutet, die Perversionen der technischen Zivilisation auf. Da gibt es den modernen Doktor, der die Leute um ihr Geld bringt und doch kaum besser heilt als der Schamane mit seinem Kauterisiereisen. Oder den Kompaniechef einer neu gegründeten Polizeitruppe, der sich, kaum daß er die Uniform anhat, in einen Tyrannen verwandelt und geradezu zwanghaft nach einer Gelegenheit sucht, endlich ein kleines Massaker zu verüben.
Gegen diese Phalanx zwielichtiger Gestalten stehen die Aufrechten auf verlorenem Posten. Falls sie nicht irgendwann umkommen, verschwinden sie spurlos in der Wüste und geistern fortan in der Phantasie der Zurückgebliebenen als Rächer oder als Schutzengel herum. Nie aber sind die Figuren statisch. Der Islam-Fundamentalist, der auch vorkommt, erscheint anfangs als Spinner - und ist es auch. In dem Moment aber, wo es zum Streik kommt und die Situation eskaliert, ist gerade er wegen seiner Haltung, die ihn gegen alle Anfechtungen immun macht, einer der wenigen, auf den sich die Arbeiter sicher verlassen können. Mit diesem Streik aber sind die Arbeiter, die als letzte noch die Tugenden der Beduinen verkörperten, ungewollt selbst in der Moderne angekommen. Es gibt kein Zurück mehr. Fortan werden sie, werden die Wüstenaraber sich nur noch durchsetzen können, wenn sie die Methoden der modernen Arbeitswelt übernehmen, gegen die sie sich doch so lange gewehrt haben. Der hergebrachte Ehrenkodex erstarrt zur Fassade, hinter der alles denkbar wird.
Kein Wunder, daß Abdalrachman Munif, der 1933 als Kind eines Saudi und einer Irakerin geboren wurde, die saudische Staatsbürgerschaft nach der Publikation dieses allzu genauen Buchs aberkannt wurde. Man fragt sich aber, warum von den mittlerweile vier auf deutsch lieferbaren Büchern Munifs dieses, sein bestes und wichtigstes, zuletzt übersetzt wurde. Zwar ist es so umfangreich wie die drei anderen Titel zusammen, aber es liest sich auch ungleich besser, nicht zuletzt dank der hervorragenden Übersetzung von Magda Barakat und Larissa Bender. Die arabische Literatur, schließen wir aus diesem überraschenden Nachzügler, ist immer noch zu entdecken!
STEFAN WEIDNER
Abdalrachman Munif: "Salzstädte". Roman. Aus dem Arabischen übersetzt von Magda Barakat und Larissa Bender. Diederichs, Heinrich Hugendubel Verlag, München 2003. 559 S., geb., 24,95 [Euro].
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