"Das Sammeln geht der Wissenschaft immer voraus; das ist nicht merkwürdig; denn das Sammeln muß ja vor der Wissenschaft sein; aber das ist merkwürdig, daß der Drang des Sammelns in die Geister kömmt, wenn eine Wissenschaft erscheinen soll, wenn sie auch noch nicht wissen, was diese Wissenschaft enthalten soll" - läßt Adalbert Stifter seinen Protagonisten, den Freiherrn von Risach, in dem 1857 erschienenen Roman "Der Nachsommer" sagen. Damit umreißt er das Sammeln von Zahlen, Werten, Daten, Bildern und Objekten als Grundlage der Forschung, aus denen Häufungen und Regelmäßigkeiten herauszulesen sind. Doch bedeutet die Archivierung und Zusammenstellung noch nicht das gleiche wie eine Sammlung. Neben der Aneinanderreihung der Objekte kommt eine weiterer wesentlicher Faktor hinzu: die Bedeutung und die Handhabung der einzelnen Objekte. Die Untersuchungen des vorliegenden Bandes knüpfen zwar an die bereits bestehende Sammlungsgeschichte an, doch widmen sich die Autorinnen und Autore n bisher eher selten gestellten Fragen, wie sie die neuere Wissenschaftsgeschichte formuliert: Was hat man mit den Objekten gemacht? Welche Funktion hatten sie und wie wurden sie eingesetzt? Die gemeinsame These der Beiträge besteht darin, daß Sammeln einen bislang vernachlässigten Aspekt wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung ausmacht und deshalb die Wissenschaftsgeschichte vom Vokabular und von den historiographischen Werkzeugen der Sammlungsgeschichte erheblich profitieren. Die sieben ausgewählten Studien umfassen das 18. und 19. Jahrhundert als Phase der Reorganisierung von Sammlungen und Wissenschaften.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.12.2001Hinweis
HOMO COLLECTOR. "Das Sammeln geht der Wissenschaft immer voraus", schreibt Adalbert Stifter. Denn zuerst müssen Objekte, Zahlen und Daten zusammengetragen werden, bevor die Wissenschaft sich ihren Reim darauf machen kann. Andererseits besteht Wissenschaft im systematischen Sammeln von Erkenntnissen. Oft ist die kulturelle Bedeutung des Sammelns beschrieben worden, seltener dagegen seine wissenschaftliche Funktion. Acht Autorinnen und Autoren wollen nun diesem Mangel abhelfen. Ihre Beiträge behandeln die epistemische Funktion des Herbarschrankes für Carl von Linné; vornehme französische Vogelsammlungen im achtzehnten Jahrhundert; die Sammlungen der Gesellschaft naturforschender Freunde in Berlin um 1800; Goethes Naturalienkollektion; ein zu Ausstellungszwecken selbstgeschaffenes Phantasiewesen des englischen Exzentrikers Charles Waterton; die reliquienhaften Präparate in Virchows Berliner Pathologischem Museum; Fakten und Fetische im Musée Charcot und bei Freud. Umrahmt werden die Aufsätze von zwei grundsätzlichen Essays. ("Sammeln als Wissen". Das Sammeln und seine wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung. Hrsg. von Anke te Heesen und E.C. Spary. Wallstein Verlag, Göttingen 2001. 223 S., br., 44,- DM.)
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HOMO COLLECTOR. "Das Sammeln geht der Wissenschaft immer voraus", schreibt Adalbert Stifter. Denn zuerst müssen Objekte, Zahlen und Daten zusammengetragen werden, bevor die Wissenschaft sich ihren Reim darauf machen kann. Andererseits besteht Wissenschaft im systematischen Sammeln von Erkenntnissen. Oft ist die kulturelle Bedeutung des Sammelns beschrieben worden, seltener dagegen seine wissenschaftliche Funktion. Acht Autorinnen und Autoren wollen nun diesem Mangel abhelfen. Ihre Beiträge behandeln die epistemische Funktion des Herbarschrankes für Carl von Linné; vornehme französische Vogelsammlungen im achtzehnten Jahrhundert; die Sammlungen der Gesellschaft naturforschender Freunde in Berlin um 1800; Goethes Naturalienkollektion; ein zu Ausstellungszwecken selbstgeschaffenes Phantasiewesen des englischen Exzentrikers Charles Waterton; die reliquienhaften Präparate in Virchows Berliner Pathologischem Museum; Fakten und Fetische im Musée Charcot und bei Freud. Umrahmt werden die Aufsätze von zwei grundsätzlichen Essays. ("Sammeln als Wissen". Das Sammeln und seine wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung. Hrsg. von Anke te Heesen und E.C. Spary. Wallstein Verlag, Göttingen 2001. 223 S., br., 44,- DM.)
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Die totgeglaubte Institution des Archivs erlebt eine wundersame Auferstehung im intellektuellen Diskurs. Gründe dafür sieht Ulrich Raulff in der zeitgeschichtlichen Bedeutung des Archivfunds und, medienhistorisch, in der Horizontalisierung und Demokratisierung der hierarchisierten Wissensordnung durch PC und Internet. Diese lässt aber das Wissen unstrukturiert und beschleunigt de facto sein Verschwinden. Darüber wird jetzt nachgedacht, so Raulff, und das auf den Spuren von Foucault und Derrida, die das Archiv als "Ort der Wahrheit und der Fiktion, des bürokratischen Fantasmas wie der poetischen Inspiration" heraufbeschwören. In der Reihe von Publikationen zum Thema "Archiv", die Raulff betrachtet, macht er jedoch nur zwei Diskursarten aus: Präzision und Prätention. Raulff hebt im Band "Sammeln als Wissen" zwei Aufsätze hervor. Angela Matysseks Beitrag zur Geschichte der pathologischen Virchow-Sammlung und zu ihrem strategischen Platz in Virchows Wissenschafts- und Volksbildungspolitik nennt er ein "Glanzstück". Und Nicholas Jardine zeigt eine neue Entwicklung auf, nämlich dass Ideen- und Wissenschaftsgeschichte in der Sammlung das lang gesuchte Bindeglied zur Kulturgeschichte sehen. Die Wissenschaftsgeschichte sitzt nicht mehr dem Märchen der Indifferenz und Objektivität der Forschung auf, sondern beschäftigt sich nunmehr mit der "Rolle der Leidenschaft in den Wissenschaften" (so Jardine), wozu die Geschichte einer "wissenshistorisch bedeutenden Sammlung" ein nahezu perfektes Forschungsobjekt bietet. "Auch wenn der Band (...) seinen hohen Ansprüchen nicht in allen Stücken gerecht wird, kann er doch das Bild eines fruchtbaren Neuansatzes überzeugend vermitteln", so Raulff.
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