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Hier der Kunstsammler, dort der Freiwildjäger: Beide versuchen das Zerstreute an einem Ort zusammenzutragen, und wir - ob Briefmarkenfreund oder Pilzsucher - tun es ebenso. Wer ästhetisch sammelt, will Sehenswertes präsent haben, wer ökonomisch anhäuft, kennt das Material nur als Aufschub des Verbrauchs. Zwischen der Ästhetik des Bewahrens und der ökonomie des Verschwindens etabliert sich jedoch eine selbstbewußt-rationale Lebensform, die Wissen durch Forschung produziert, in Schrift bewahrt und zum System ordnet. Moderne Medien halten diese 'Erfahrung' verfügbar.

Produktbeschreibung
Hier der Kunstsammler, dort der Freiwildjäger: Beide versuchen das Zerstreute an einem Ort zusammenzutragen, und wir - ob Briefmarkenfreund oder Pilzsucher - tun es ebenso. Wer ästhetisch sammelt, will Sehenswertes präsent haben, wer ökonomisch anhäuft, kennt das Material nur als Aufschub des Verbrauchs. Zwischen der Ästhetik des Bewahrens und der ökonomie des Verschwindens etabliert sich jedoch eine selbstbewußt-rationale Lebensform, die Wissen durch Forschung produziert, in Schrift bewahrt und zum System ordnet. Moderne Medien halten diese 'Erfahrung' verfügbar.
Autorenporträt
Manfred Sommer, geboren 1945, war bis zu seiner Pensionierung 2010 Professor für Philosophie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Er ist u. a. Herausgeber zahlreicher Schriften Hans Blumenbergs aus dem Nachlass.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.10.1999

Seestern, ich dich grüße
Manfred Sommer singt dem Sammeln ein erlesenes Loblied / Von Burkhard Spinnen

Das Staunen, so heißt es, ist der Anfang aller Philosophie. Und ich staune nicht schlecht. Denn Manfred Sommer, ordentlicher Professor für Philosophie in Kiel, Schüler von Hans Blumenberg, hat ein philosophisches Buch über das Sammeln geschrieben. Schon das ist erstaunlich. Doch viel erstaunlicher noch: Er hat es für mich geschrieben.

Was soll das heißen: für mich? Wir kennen einander nicht einmal. Das soll heißen, dass dieses wahrlich dicke, 453 Seiten starke und bisweilen auch durchaus wälzerartige Buch eine Philosophie vorführt und betreibt, die sich auf eine listig-vertrackte Weise als weitgehend voraussetzungslos gibt. 453 Seiten ohne eine einzige Fußnote, ohne eine Literaturangabe; und wenn im Text die Namen von Philosophen fallen, so scheinen damit weniger die Gewährsmänner oder Kontrahenten aufgerufen als vielmehr versteckte Widmungsadressen platziert zu sein. Kurz, man (also zum Beispiel ich) braucht, um dieses Buch nicht nur lesen, sondern auch verstehen zu können, beinahe keine Kenntnisse von der Geschichte der Philosophie und ihrer konkurrierenden Systeme. Es reichen: interesselose Neugier, eine gewisse Hochschätzung alltäglicher, ja humiler Phänomene, eine stille Lust an der Exaktheit der Reflexion und ein wenig Langmut. (Freilich auch dies keine Eigenschaften, die einem jeden schon in die Wiege gelegt sind.)

Und das Thema des Buches! Warum ein solcher philosophischer Versuch ausgerechnet über das Sammeln? Ich versuche eine dramatisch knappe und womöglich blauäugige Antwort: Weil der Philosoph Manfred Sommer offenbar an die Möglichkeit glaubt, man könne auch nach acht bis zehn Jahrtausenden menschlicher Hochkultur und über alle ihre Denkgebäude beziehungsweise über deren Ruinen hinweg noch im Handstreich zurückphilosophieren in die paläolithische Zeit. In jene zwei bis drei Millionen Jahre also, aus der wir keine Zeugnisse über eine eventuelle Selbstreflexion des Menschen besitzen.

Und präziser noch: Dieser philosophische Handstreich zielt auf die Hand, die einstreicht. Der Mensch im Paläolithikum ist, daran zweifelt ja keine Fakultät, ganz wesentlich Sammler und Jäger. Dann geschieht die neolithische Revolution, die Metamorphose des nomadischen Sammlers zum sesshaften Bauern. Nach Maßgabe unseres Kurzzeitgedächtnisses ist auch das schon lange her, doch unter menschheitsgeschichtlichem Aspekt ist es vorgestern geschehen - und weiterhin wird allenthalben dies und das gesammelt: Bierdeckel und Gemälde, Dokumente und Streichholzschachteln, Fingerhüte und Datensätze.

Aus diesem vorderhand betörend schlichten Umstand nun zieht Sommer den Impetus und die Legitimation, ein anthropologisches Standard- und Alltagsphänomen zum Vehikel eines philosophischen Versuchs über den Menschen schlechthin zu machen. Der Mensch, so die Grundthese, ist immer noch, und immer noch wesentlich, Sammler. Das Ausgehen und Herholen ist immer noch sein Lebensmuster: und wenn er heute hauptsächlich Wissen beziehungsweise dessen Verschriftlichung sammelt, so ist das nur eine Weiterentwicklung, kein Bruch mit seiner Herkunft. Woraus folgert, dass eine Theorie des Sammelns nach wie vor die Strukturen seiner Grundverfassung offen legen kann.

Das alles hat mich, ich sage es offen, begeistert. Dabei ist dieses Buch keineswegs eine entspannende Lektüre für heitere Sommerabende. Seine Argumentation ist kleinschrittig, bisweilen bürokratisch und überexakt, ja schulmeisterlich scholastisch, und gelegentlich gibt es sich sogar ein wenig verliebt in die Windungen seiner Gedankengänge. Was Sammeln heißt beziehungsweise wie eine Theorie des Sammelns auszusehen hätte, das wird hier weniger anhand skurriler Beispiele aus der Kulturgeschichte oder qua Psychologie entwickelt, vielmehr listet Sommer unter weitgehender Vermeidung des Anekdotischen und mit strukturbewusster Herzenskälte jede der dem Sammeln zugehörigen Bewegungen auf, beschreibt er ihre Varianten und analysiert er ihre Bezüge, um sie schließlich der Gesamttheorie zu integrieren. "Von dieser Art der Beschreibung sagten, wenn ich mich recht entsinne, die Fachleute früher, sie sei phänomenologisch."

Erschöpfend ist sie auch. In beiderlei Sinn. Gelegentlich war ich versucht, wie weiland bei der Karl-May-Lektüre bis dahin weiterzublättern, wo wieder etwas "geschieht". Aber das soll man nicht tun. Nie und hier besonders nicht. Es entgingen einem sonst zum Beispiel so wunderbare Kapitel wie das über (die Theorie von) Aufbruch und Wiederkehr des Sammlers zu den Seinigen. Darin führt Sommer vor, wie ein Philosophieren - nicht aus dem Bauch, aber doch aus dem in aller Zeit weitgehend unveränderten Körper des Menschen aussehen könnte. Die kleinen Rituale von Abschied und Willkommen, wie sie heute auf den Bahnsteigen zelebriert werden, sie bindet Sommer, ganz ohne Psychologie und mit nur wenig Emphase, doch mit der Leidenschaft exakter Beschreibung, zurück an die Gesten, die der paläolithische Sammler beim Aufbruch zu Jagd und Lese mit den Zurückbleibenden austauschte.

Das ist, wie vieles in diesem Buch, wahrhaftig schön zu lesen; und das ist es vor allem, weil Manfred Sommer einerseits (wenngleich fußnotenfrei) ein klares und ausgesprochen lehrbuchhaftes Buch über das Sammeln schreibt, andererseits aber eines, das bei der Lektüre selbst als eine "Sammlung" kurzer philosophischer Prosa erscheint. Aus Hunderten solcher Texte besteht das Buch, selten sind sie viel länger als eine Seite, alle tragen einen Titel und ruhen derart in sich, dass sie weniger als Kapitel und mehr als selbstständige Einheiten erscheinen - als sprachliche Einheiten eben, die zugleich die kleinsten Stücke und die eigentliche Erscheinungsweise dieser Philosophie aus Sammlung sind.

Und damit zur Sprache. Vielleicht tue ich dem Buch Unrecht, wenn ich ihm mit der Sprachphilosophie komme. Aber es ist, beinahe möchte ich sagen: mit Händen zu greifen, wie hier gewissermaßen "zarte Etymologie" betrieben wird. Das beginnt mit dem Hauptwort des Buches, beim Sammeln selbst, wenn etwa der Unterschied zwischen "ansammeln" und "versammeln" ausgeleuchtet wird. Und das zieht sich durch alle Teile, wenn immer wieder Metaphern und Alltagswendungen als gleichrangige Sprechweisen dem philosophischen Diskurs eingefügt werden. Dabei wird allerdings ein allzu starkes "Heideggern" vermieden; Etymologie, so Manfred Sommer, ist "nie ein Mittel, Sachkenntnis zu erlangen, sondern allenfalls, sie anzuregen oder abzurunden".

Doch sie ist ein sehr wichtiges Mittel, und in Sommers dauernder Angeregtheit durch Sprache (Lese und Lesen, Zählen und Erzählen et cetera) manifestiert sich durch das ganze Buch hindurch ein fröhlicher, wenngleich stiller Glaube daran, dass wir auch sprechend mit dem paläolithischen Beeren- und Wurzelsammler noch ungemein viel gemein haben. "Sammeln" markiert die Gegenposition zur (mittlerweile auch in die Jahre gekommenen) Sprachskepsis, ohne dabei auf die metaphysische Seite zu rutschen.

Den Schluss des Buches machen ein paar kurze Plädoyers aus. In einem davon unternimmt Manfred Sommer eine historische Ehrenrettung der sammelnden Wissenschaften und nimmt sie gegen die Verachtung durch die "wissenschaftlichen" Wissenschaften in Schutz. In einem anderen wiederholt er die Grundthese des Buches: Das Sammeln von Dingen, die nur zum Sammeln bestimmt sind, sprich das Sammeln von Kunst, ist nicht eine Abart und Spätform des paläolithischen Sammelns, es ist vielmehr als ästhetisches Sammeln der Prototyp dieser menschlichen Grundlegungsarbeit. Der Kunstsammler huldigt nicht einem obsoleten Spleen, er repräsentiert vielmehr eine Reinform der Existenz. "Vorwärts zum Ursprung", hätte Karl Kraus dazu genickt.

Und dann ein drittes Plädoyer. In dem stellt Sommer noch einmal die Geltung aller psychologischen "Deutungen" (nicht nur) des Sammelns radikal in Frage: "Die Antwort auf die Frage, was dieser Trieb (der Sammeltrieb) denn sei, besteht in nichts anderem als der Darstellung des Sammelns selbst." Also: Was gesucht und gefunden und dann gezählt wird, kurz: was zählt, entsteht in der Erzählung. Das habe ich besonders gerne gelesen.

Manfred Sommer: "Sammeln". Ein philosophischer Versuch. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999. 453 S., geb., 64,- DM.

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