Am Anfang herrscht bohrende Stille, doch das Brodeln hat bereits begonnen. Majas Forschungen über den Ausbruch eines Vulkans geraten ins Stocken. Zeitgleich findet in ihrem Hotel der Kongress zur »Regulation von Tierpopulationen« statt und sinistre Gestalten tummeln sich um sie. - In einer zweiten Zeitebene gerät Sebastian mit dem düsteren Jäger Mészáros aneinander, und es geht um Leben und Tod. - Und die leicht schrullig-überdrehte Helga-Maria scheint eine Mittlerin und Wanderin zwischen den Zeiten zu sein. Wie hängt all das zusammen?Die Figuren in Volha Hapeyevas Roman reisen um den halben Erdball, gehen Beziehungen ein und erkunden die Welt von Tieren, Menschen und Vulkanen. Die beiden sensiblen, empathischen Protagonist_innen Maja und Sebastian stehen dabei dem Bösen in unterschiedlicher Gestalt gegenüber, kämpfen um das eigene Überleben, das von Tieren und das von Werten. Im Zentrum von Samota steht die Empathie und die Frage, warum sie so vielen Menschen fehlt oder abhandengekommen ist. Ein geheimnisvolles, verspieltes Buch mit Noir-Elementen und magischem Realismus, das für nicht weniger einsteht als eine bessere Welt und ein glückliches, friedvolles Miteinander.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.02.2024Alles ist hier explosiv
Volha Hapeyevas Roman "Samota"
"Samota" bedeutet in vielen slawischen Sprachen Einsamkeit, auch in der Muttersprache von Volha Hapeyeva. Die belarussische Schriftstellerin, Lyrikerin, Essayistin und Übersetzerin erzählt in ihrem neuen Roman "Samota" von zwei einsamen Frauen, zudem von Empathie auch für Tiere und deren ruchloser ökonomischer Verwertung, also vom Guten und Bösen. Die Icherzählerin, Vulkanologin mit "wissenschaftlichen Meriten und emotionaler Arktis", bleibt namenlos, ihre Bekannte, eine zupackende Universitätsdozentin, heißt Helga-Maria. Gegensätzlicher könnten die Frauen nicht sein, und doch sind beide Verlassene. Die eine hat einen geliebten Hund, die andere einen Menschen verloren.
Sie halten sich in einem japanischen Hotel am Meer auf. Die Vulkanologin leidet an Müdigkeit und Stillstand. Ihr versagt die Sprache wie einst Lord Chandos: In ihrem Mund wuchert Gras. Sie denkt über die Standardisierung von Hotelzimmern nach, die Beliebigkeit von Geburtstagen, das Hotelfrühstück als "Miniaturbild der Gesellschaft". Der Roman beginnt mit kurzen Szenen einer existenziellen Verstörung.
Volha Hapeyeva, von der auf Belarussisch vierzehn Bücher mit Lyrik, Prosa und Essays vorliegen, nahm Stipendien in Graz und München wahr, als die Proteste gegen Präsident Lukaschenko die Straßen in ihrer Geburtsstadt Minsk beherrschten. Sie blieb im Ausland und musste die blutige Niederschlagung des Aufstands mitansehen. Im Schatten des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine wirft der Diktator die Oppositionellen inzwischen ungestört in Haft- und Folterzellen. Die 1982 geborene und nun in Deutschland lebende Exilantin hat allen Anlass zu lähmenden Gefühlen der Hilf- und Sinnlosigkeit.
Ihre Vulkanologin wird von Helga-Maria reanimiert. Die Tatkräftige taucht wie eine Dea ex machina auf, um zu Gesprächen und einem Ausflug zu motivieren, einmal auch, um überraschend bei ihrer Bekannten zu duschen. Beide erfahren, dass Haustiere in Japan häufig ihre Besitzer verlassen und sich Rudeln anschließen. Pferde stehen reglos auf Feldern, und Schweizer Kühe, so liest die Vulkanologin, wählen den Freitod. Hapeyeva bezeichnet sich als "Nomadin", nicht - in Abhängigkeit vom Staat - als Emigrantin; ihren Roman lässt sie thematisch umherschweifen.
Erst verdrängen Tiere die depressiven Selbstbeobachtungen, dann verdrängt ein allwissender Erzähler das Ich der Vulkanologin. Er schildert einen Jüngling, der zarte Liebesbriefe "voll süßer Vorfreude" schreibt und auch sonst aus der Zeit gefallen ist: Diesem Sebastian wird in der Apotheke Heroin als Medikament angeboten, er kauft jedoch Aspirin, um nach einigen empfindsamen Gesprächen sein vielversprechendes Leben bei der edlen Rettung eines Wolfswelpen auszuhauchen. Ein Mordgeselle bringt ihn um, der das hilflose Tier wie Vieh aufziehen und verkaufen wollte. Unterbrochen ist die finstere Mär von Ereignissen in Japan. So belauscht die Vulkanologin eine Gruppe, deren Anführerin erläutert, wie entlaufene, also ungehorsame Hunde zu bestrafen sind: indem sie gehäutet werden.
Das Grauen freilich hat Hapeyeva den Elementen des Schauerromans ausgetrieben. Der zartfühlende Jüngling, dessen innige Briefe übrigens an Helga-Maria gerichtet sind, entstammt dem Reich der Poesie. Eine politische, auf Belarus bezogene Lesart des Konflikts zwischen denen, die Tiere achten, und denen, die sie verwerten, wirkt daher roh. Immerhin formuliert die Universitätsdozentin in einer tierethischen Vorlesung Gedanken zur schöpfungsumfassenden Empathie und fordert die Vulkanologin auf, endlich zu sich zu kommen. Die Chancen dafür stehen nicht allzu gut: Der Schleier der Entrückung und Unwirklichkeit über dem Buch ist dicht, was auch an der mindestens erstaunlichen, teilweise abenteuerlichen Verbindung von Hapeyevas Themen Heimat, Sprache, Zeit, Empathie und Identität liegt. Das Buch scheint eher die Bestandsaufnahme eines traurigen Zustands zu sein als seine künstlerische Bewältigung. JÖRG PLATH
Volha Hapeyeva: "Samota - Die Einsamkeit wohnte im Zimmer gegenüber". Roman.
Aus dem Belarussischen von Tina Wünschmann & Matthias Göritz. Verlag Droschl, Wien 2024. 194 S., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Volha Hapeyevas Roman "Samota"
"Samota" bedeutet in vielen slawischen Sprachen Einsamkeit, auch in der Muttersprache von Volha Hapeyeva. Die belarussische Schriftstellerin, Lyrikerin, Essayistin und Übersetzerin erzählt in ihrem neuen Roman "Samota" von zwei einsamen Frauen, zudem von Empathie auch für Tiere und deren ruchloser ökonomischer Verwertung, also vom Guten und Bösen. Die Icherzählerin, Vulkanologin mit "wissenschaftlichen Meriten und emotionaler Arktis", bleibt namenlos, ihre Bekannte, eine zupackende Universitätsdozentin, heißt Helga-Maria. Gegensätzlicher könnten die Frauen nicht sein, und doch sind beide Verlassene. Die eine hat einen geliebten Hund, die andere einen Menschen verloren.
Sie halten sich in einem japanischen Hotel am Meer auf. Die Vulkanologin leidet an Müdigkeit und Stillstand. Ihr versagt die Sprache wie einst Lord Chandos: In ihrem Mund wuchert Gras. Sie denkt über die Standardisierung von Hotelzimmern nach, die Beliebigkeit von Geburtstagen, das Hotelfrühstück als "Miniaturbild der Gesellschaft". Der Roman beginnt mit kurzen Szenen einer existenziellen Verstörung.
Volha Hapeyeva, von der auf Belarussisch vierzehn Bücher mit Lyrik, Prosa und Essays vorliegen, nahm Stipendien in Graz und München wahr, als die Proteste gegen Präsident Lukaschenko die Straßen in ihrer Geburtsstadt Minsk beherrschten. Sie blieb im Ausland und musste die blutige Niederschlagung des Aufstands mitansehen. Im Schatten des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine wirft der Diktator die Oppositionellen inzwischen ungestört in Haft- und Folterzellen. Die 1982 geborene und nun in Deutschland lebende Exilantin hat allen Anlass zu lähmenden Gefühlen der Hilf- und Sinnlosigkeit.
Ihre Vulkanologin wird von Helga-Maria reanimiert. Die Tatkräftige taucht wie eine Dea ex machina auf, um zu Gesprächen und einem Ausflug zu motivieren, einmal auch, um überraschend bei ihrer Bekannten zu duschen. Beide erfahren, dass Haustiere in Japan häufig ihre Besitzer verlassen und sich Rudeln anschließen. Pferde stehen reglos auf Feldern, und Schweizer Kühe, so liest die Vulkanologin, wählen den Freitod. Hapeyeva bezeichnet sich als "Nomadin", nicht - in Abhängigkeit vom Staat - als Emigrantin; ihren Roman lässt sie thematisch umherschweifen.
Erst verdrängen Tiere die depressiven Selbstbeobachtungen, dann verdrängt ein allwissender Erzähler das Ich der Vulkanologin. Er schildert einen Jüngling, der zarte Liebesbriefe "voll süßer Vorfreude" schreibt und auch sonst aus der Zeit gefallen ist: Diesem Sebastian wird in der Apotheke Heroin als Medikament angeboten, er kauft jedoch Aspirin, um nach einigen empfindsamen Gesprächen sein vielversprechendes Leben bei der edlen Rettung eines Wolfswelpen auszuhauchen. Ein Mordgeselle bringt ihn um, der das hilflose Tier wie Vieh aufziehen und verkaufen wollte. Unterbrochen ist die finstere Mär von Ereignissen in Japan. So belauscht die Vulkanologin eine Gruppe, deren Anführerin erläutert, wie entlaufene, also ungehorsame Hunde zu bestrafen sind: indem sie gehäutet werden.
Das Grauen freilich hat Hapeyeva den Elementen des Schauerromans ausgetrieben. Der zartfühlende Jüngling, dessen innige Briefe übrigens an Helga-Maria gerichtet sind, entstammt dem Reich der Poesie. Eine politische, auf Belarus bezogene Lesart des Konflikts zwischen denen, die Tiere achten, und denen, die sie verwerten, wirkt daher roh. Immerhin formuliert die Universitätsdozentin in einer tierethischen Vorlesung Gedanken zur schöpfungsumfassenden Empathie und fordert die Vulkanologin auf, endlich zu sich zu kommen. Die Chancen dafür stehen nicht allzu gut: Der Schleier der Entrückung und Unwirklichkeit über dem Buch ist dicht, was auch an der mindestens erstaunlichen, teilweise abenteuerlichen Verbindung von Hapeyevas Themen Heimat, Sprache, Zeit, Empathie und Identität liegt. Das Buch scheint eher die Bestandsaufnahme eines traurigen Zustands zu sein als seine künstlerische Bewältigung. JÖRG PLATH
Volha Hapeyeva: "Samota - Die Einsamkeit wohnte im Zimmer gegenüber". Roman.
Aus dem Belarussischen von Tina Wünschmann & Matthias Göritz. Verlag Droschl, Wien 2024. 194 S., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Einen "anthropologischen Romanessay" bekommt Rezensent Jens Uthoff von der belarussischen Autorin Volha Hapeyeva vorgelegt. Im Zentrum stehen die Vulkanologin Maya und die Tiertherapeutin Helga-Maria, erklärt Uthoff, später kommt noch eine dritte Figur hinzu - Sebastian, der dem "Fin de Siècle" zu enstammen scheint und Liebesbriefe an Helga-Maria schreibt. Von dieser Figurenkonstellation aus begibt sich Hapeyeva auf eine philosophische Erkundungsreise, während der viele Themen angeschnitten werden, so Uthoff. Es geht um "zeitlose, große Menschheitsthemen", wie Einsamkeit, Sinnsuche und um das Verhältnis zwischen Tier und Mensch. Tatsächlich hätte Uthoff thematisch gerne eine etwas klarere Linie gehabt, er wird dafür aber von Hapeyevas Sprache entschädigt, die "poetisch, tief" und "dicht" ist und Uthoff beeindruckt zurücklässt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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