Am Anfang herrscht bohrende Stille, doch das Brodeln hat bereits begonnen. Majas Forschungen über den Ausbruch eines Vulkans geraten ins Stocken. Zeitgleich findet in ihrem Hotel der Kongress zur »Regulation von Tierpopulationen« statt und sinistre Gestalten tummeln sich um sie. - In einer zweiten Zeitebene gerät Sebastian mit dem düsteren Jäger Mészáros aneinander, und es geht um Leben und Tod. - Und die leicht schrullig-überdrehte Helga-Maria scheint eine Mittlerin und Wanderin zwischen den Zeiten zu sein. Wie hängt all das zusammen?Die Figuren in Volha Hapeyevas Roman reisen um den halben Erdball, gehen Beziehungen ein und erkunden die Welt von Tieren, Menschen und Vulkanen. Die beiden sensiblen, empathischen Protagonist_innen Maja und Sebastian stehen dabei dem Bösen in unterschiedlicher Gestalt gegenüber, kämpfen um das eigene Überleben, das von Tieren und das von Werten. Im Zentrum von Samota steht die Empathie und die Frage, warum sie so vielen Menschen fehlt oder abhandengekommen ist. Ein geheimnisvolles, verspieltes Buch mit Noir-Elementen und magischem Realismus, das für nicht weniger einsteht als eine bessere Welt und ein glückliches, friedvolles Miteinander.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.02.2024Alles ist hier explosiv
Volha Hapeyevas Roman "Samota"
"Samota" bedeutet in vielen slawischen Sprachen Einsamkeit, auch in der Muttersprache von Volha Hapeyeva. Die belarussische Schriftstellerin, Lyrikerin, Essayistin und Übersetzerin erzählt in ihrem neuen Roman "Samota" von zwei einsamen Frauen, zudem von Empathie auch für Tiere und deren ruchloser ökonomischer Verwertung, also vom Guten und Bösen. Die Icherzählerin, Vulkanologin mit "wissenschaftlichen Meriten und emotionaler Arktis", bleibt namenlos, ihre Bekannte, eine zupackende Universitätsdozentin, heißt Helga-Maria. Gegensätzlicher könnten die Frauen nicht sein, und doch sind beide Verlassene. Die eine hat einen geliebten Hund, die andere einen Menschen verloren.
Sie halten sich in einem japanischen Hotel am Meer auf. Die Vulkanologin leidet an Müdigkeit und Stillstand. Ihr versagt die Sprache wie einst Lord Chandos: In ihrem Mund wuchert Gras. Sie denkt über die Standardisierung von Hotelzimmern nach, die Beliebigkeit von Geburtstagen, das Hotelfrühstück als "Miniaturbild der Gesellschaft". Der Roman beginnt mit kurzen Szenen einer existenziellen Verstörung.
Volha Hapeyeva, von der auf Belarussisch vierzehn Bücher mit Lyrik, Prosa und Essays vorliegen, nahm Stipendien in Graz und München wahr, als die Proteste gegen Präsident Lukaschenko die Straßen in ihrer Geburtsstadt Minsk beherrschten. Sie blieb im Ausland und musste die blutige Niederschlagung des Aufstands mitansehen. Im Schatten des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine wirft der Diktator die Oppositionellen inzwischen ungestört in Haft- und Folterzellen. Die 1982 geborene und nun in Deutschland lebende Exilantin hat allen Anlass zu lähmenden Gefühlen der Hilf- und Sinnlosigkeit.
Ihre Vulkanologin wird von Helga-Maria reanimiert. Die Tatkräftige taucht wie eine Dea ex machina auf, um zu Gesprächen und einem Ausflug zu motivieren, einmal auch, um überraschend bei ihrer Bekannten zu duschen. Beide erfahren, dass Haustiere in Japan häufig ihre Besitzer verlassen und sich Rudeln anschließen. Pferde stehen reglos auf Feldern, und Schweizer Kühe, so liest die Vulkanologin, wählen den Freitod. Hapeyeva bezeichnet sich als "Nomadin", nicht - in Abhängigkeit vom Staat - als Emigrantin; ihren Roman lässt sie thematisch umherschweifen.
Erst verdrängen Tiere die depressiven Selbstbeobachtungen, dann verdrängt ein allwissender Erzähler das Ich der Vulkanologin. Er schildert einen Jüngling, der zarte Liebesbriefe "voll süßer Vorfreude" schreibt und auch sonst aus der Zeit gefallen ist: Diesem Sebastian wird in der Apotheke Heroin als Medikament angeboten, er kauft jedoch Aspirin, um nach einigen empfindsamen Gesprächen sein vielversprechendes Leben bei der edlen Rettung eines Wolfswelpen auszuhauchen. Ein Mordgeselle bringt ihn um, der das hilflose Tier wie Vieh aufziehen und verkaufen wollte. Unterbrochen ist die finstere Mär von Ereignissen in Japan. So belauscht die Vulkanologin eine Gruppe, deren Anführerin erläutert, wie entlaufene, also ungehorsame Hunde zu bestrafen sind: indem sie gehäutet werden.
Das Grauen freilich hat Hapeyeva den Elementen des Schauerromans ausgetrieben. Der zartfühlende Jüngling, dessen innige Briefe übrigens an Helga-Maria gerichtet sind, entstammt dem Reich der Poesie. Eine politische, auf Belarus bezogene Lesart des Konflikts zwischen denen, die Tiere achten, und denen, die sie verwerten, wirkt daher roh. Immerhin formuliert die Universitätsdozentin in einer tierethischen Vorlesung Gedanken zur schöpfungsumfassenden Empathie und fordert die Vulkanologin auf, endlich zu sich zu kommen. Die Chancen dafür stehen nicht allzu gut: Der Schleier der Entrückung und Unwirklichkeit über dem Buch ist dicht, was auch an der mindestens erstaunlichen, teilweise abenteuerlichen Verbindung von Hapeyevas Themen Heimat, Sprache, Zeit, Empathie und Identität liegt. Das Buch scheint eher die Bestandsaufnahme eines traurigen Zustands zu sein als seine künstlerische Bewältigung. JÖRG PLATH
Volha Hapeyeva: "Samota - Die Einsamkeit wohnte im Zimmer gegenüber". Roman.
Aus dem Belarussischen von Tina Wünschmann & Matthias Göritz. Verlag Droschl, Wien 2024. 194 S., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Volha Hapeyevas Roman "Samota"
"Samota" bedeutet in vielen slawischen Sprachen Einsamkeit, auch in der Muttersprache von Volha Hapeyeva. Die belarussische Schriftstellerin, Lyrikerin, Essayistin und Übersetzerin erzählt in ihrem neuen Roman "Samota" von zwei einsamen Frauen, zudem von Empathie auch für Tiere und deren ruchloser ökonomischer Verwertung, also vom Guten und Bösen. Die Icherzählerin, Vulkanologin mit "wissenschaftlichen Meriten und emotionaler Arktis", bleibt namenlos, ihre Bekannte, eine zupackende Universitätsdozentin, heißt Helga-Maria. Gegensätzlicher könnten die Frauen nicht sein, und doch sind beide Verlassene. Die eine hat einen geliebten Hund, die andere einen Menschen verloren.
Sie halten sich in einem japanischen Hotel am Meer auf. Die Vulkanologin leidet an Müdigkeit und Stillstand. Ihr versagt die Sprache wie einst Lord Chandos: In ihrem Mund wuchert Gras. Sie denkt über die Standardisierung von Hotelzimmern nach, die Beliebigkeit von Geburtstagen, das Hotelfrühstück als "Miniaturbild der Gesellschaft". Der Roman beginnt mit kurzen Szenen einer existenziellen Verstörung.
Volha Hapeyeva, von der auf Belarussisch vierzehn Bücher mit Lyrik, Prosa und Essays vorliegen, nahm Stipendien in Graz und München wahr, als die Proteste gegen Präsident Lukaschenko die Straßen in ihrer Geburtsstadt Minsk beherrschten. Sie blieb im Ausland und musste die blutige Niederschlagung des Aufstands mitansehen. Im Schatten des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine wirft der Diktator die Oppositionellen inzwischen ungestört in Haft- und Folterzellen. Die 1982 geborene und nun in Deutschland lebende Exilantin hat allen Anlass zu lähmenden Gefühlen der Hilf- und Sinnlosigkeit.
Ihre Vulkanologin wird von Helga-Maria reanimiert. Die Tatkräftige taucht wie eine Dea ex machina auf, um zu Gesprächen und einem Ausflug zu motivieren, einmal auch, um überraschend bei ihrer Bekannten zu duschen. Beide erfahren, dass Haustiere in Japan häufig ihre Besitzer verlassen und sich Rudeln anschließen. Pferde stehen reglos auf Feldern, und Schweizer Kühe, so liest die Vulkanologin, wählen den Freitod. Hapeyeva bezeichnet sich als "Nomadin", nicht - in Abhängigkeit vom Staat - als Emigrantin; ihren Roman lässt sie thematisch umherschweifen.
Erst verdrängen Tiere die depressiven Selbstbeobachtungen, dann verdrängt ein allwissender Erzähler das Ich der Vulkanologin. Er schildert einen Jüngling, der zarte Liebesbriefe "voll süßer Vorfreude" schreibt und auch sonst aus der Zeit gefallen ist: Diesem Sebastian wird in der Apotheke Heroin als Medikament angeboten, er kauft jedoch Aspirin, um nach einigen empfindsamen Gesprächen sein vielversprechendes Leben bei der edlen Rettung eines Wolfswelpen auszuhauchen. Ein Mordgeselle bringt ihn um, der das hilflose Tier wie Vieh aufziehen und verkaufen wollte. Unterbrochen ist die finstere Mär von Ereignissen in Japan. So belauscht die Vulkanologin eine Gruppe, deren Anführerin erläutert, wie entlaufene, also ungehorsame Hunde zu bestrafen sind: indem sie gehäutet werden.
Das Grauen freilich hat Hapeyeva den Elementen des Schauerromans ausgetrieben. Der zartfühlende Jüngling, dessen innige Briefe übrigens an Helga-Maria gerichtet sind, entstammt dem Reich der Poesie. Eine politische, auf Belarus bezogene Lesart des Konflikts zwischen denen, die Tiere achten, und denen, die sie verwerten, wirkt daher roh. Immerhin formuliert die Universitätsdozentin in einer tierethischen Vorlesung Gedanken zur schöpfungsumfassenden Empathie und fordert die Vulkanologin auf, endlich zu sich zu kommen. Die Chancen dafür stehen nicht allzu gut: Der Schleier der Entrückung und Unwirklichkeit über dem Buch ist dicht, was auch an der mindestens erstaunlichen, teilweise abenteuerlichen Verbindung von Hapeyevas Themen Heimat, Sprache, Zeit, Empathie und Identität liegt. Das Buch scheint eher die Bestandsaufnahme eines traurigen Zustands zu sein als seine künstlerische Bewältigung. JÖRG PLATH
Volha Hapeyeva: "Samota - Die Einsamkeit wohnte im Zimmer gegenüber". Roman.
Aus dem Belarussischen von Tina Wünschmann & Matthias Göritz. Verlag Droschl, Wien 2024. 194 S., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Einen "anthropologischen Romanessay" bekommt Rezensent Jens Uthoff von der belarussischen Autorin Volha Hapeyeva vorgelegt. Im Zentrum stehen die Vulkanologin Maya und die Tiertherapeutin Helga-Maria, erklärt Uthoff, später kommt noch eine dritte Figur hinzu - Sebastian, der dem "Fin de Siècle" zu enstammen scheint und Liebesbriefe an Helga-Maria schreibt. Von dieser Figurenkonstellation aus begibt sich Hapeyeva auf eine philosophische Erkundungsreise, während der viele Themen angeschnitten werden, so Uthoff. Es geht um "zeitlose, große Menschheitsthemen", wie Einsamkeit, Sinnsuche und um das Verhältnis zwischen Tier und Mensch. Tatsächlich hätte Uthoff thematisch gerne eine etwas klarere Linie gehabt, er wird dafür aber von Hapeyevas Sprache entschädigt, die "poetisch, tief" und "dicht" ist und Uthoff beeindruckt zurücklässt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.03.2024Was tun gegen die Einsamkeit?
Seit den Demonstrationen in Belarus lebt Volha Hapeyeva im Exil. Ihr funkelnder
Roman „Samota“ stellt die große Frage aller Heimatlosen.
Zu den großen Vorzügen von Volha Hapeyevas Roman „Samota“ gehört es, dass man beim Lesen ständig das Gefühl hat, in mehreren Welten parallel unterwegs zu sein. Darin ähnelt der Roman ein wenig einem Buch, in dem die Hauptfigur Maja einmal blättert. Obwohl ein Nachschlagewerk, ist es doch voller überraschender Zwischentitel und fantastischer Einfälle. Nur stimmt etwas mit der Struktur nicht. Die Fotos sind chaotisch angeordnet und gehören nicht zum Text auf der jeweiligen Seite.
Anders als in dem vermeintlichen Sachbuch ist die kalkulierte Unschärfe in „Samota“ durchaus mehr als nur formale Spielerei oder witziges Gimmick. Man braucht ein bisschen, um in den Kosmos des Romans einzutauchen. Denn Hapeyeva, die in Minsk geboren wurde, schickt ihre Figuren an ganz unterschiedliche Orte und lässt sie durch die Zeiten wandern. Nach und nach zeigt sich, dass es ihr um nicht weniger als eine andere Art des gegenseitigen Umgangs geht, von Menschen untereinander ebenso wie von Menschen und Tieren. Und dass sich diese neue Art von Aufmerksamkeit in der Art des Sprechens und Schreibens spiegeln soll.
Den Umschlag von Hapeyevas letztem Gedichtband „Trapezherz“ ziert eine frostige Landschaft, Eisberge in einer Formation, die an Caspar David Friedrichs Gemälde „Das Eismeer“ erinnert. So ist es nicht überraschend, dass sie in ihrem Roman zu Beginn eine Figur inszeniert, die von sich selbst sagt, in ihr herrsche eine „emotionale Arktis“. Maja versteht sich als Wissenschaftlerin. Sie setzt auf logisches Denken. Empathie hält sie für eine „komplizierte Charaktereigenschaft“ und am Leben anderer Menschen scheint sie wenig interessiert zu sein.
Tatsächlich aber, stellt sich bald heraus, ist ihr Selbstbild Projektion. Schon als Kind zeichnete sie sich durch das genaue Gegenteil emotionaler Kälte aus, durch „Hypersensibilität“. Ihr Mitgefühl ist manchmal so stark, dass sie sich kaum dagegen wehren kann, und wenn sie Filme ansieht oder Romane liest, kann sie die Realitäten tagelang nicht auseinanderhalten. Um sich an die gesellschaftlichen Normvorstellungen anzupassen, versucht sie, nicht mehr zu fantasieren, und flüchtet sich in die „sogenannte Objektivität“ der Wissenschaft.
Doch diese Selbstkonstruktion ist allzu brüchig und wird vollends in Frage gestellt, als Maja im Zuge einer wissenschaftlichen Tagung Helga-Maria wieder trifft. „Liebe“ und „Harmonie“ sind Helga-Marias Lieblingswörter, als Tierpsychotherapeutin setzt sie sich für eine empathische Verbindung zwischen Menschen und Tieren ein.
Obwohl Maja Helga-Maria für ihre Kenntnisse und ihre Weisheit bewundert („als sei mein Wissen künstlich, ihres aber – echt“), ist auch die Freundin nicht frei von untergründigen Widersprüchen. Weil das Einkommen aus ihrer therapeutischen Tätigkeit nicht reicht, schreibt sie etwa für ein Unternehmen die kleinen Prophezeiungen, die in Glückskekse eingebacken werden – und bedient so unter der Hand jenes Warendenken, das sie an anderer Stelle heftig kritisiert.
Allerdings hat Helga-Maria auch eine wichtige erzähltechnische Aufgabe. Sie hat Zugang zu jener fremden Welt, in der die dritte Hauptfigur unterwegs ist und in der die Frage nach dem Verhältnis von Mitgefühl und emotionaler Kälte noch einmal auf ganz andere Art und Weise durchgespielt wird. Es ist eine zum Teil fantastische Welt, die nicht nur in ihrem sprachlich antiquierten Stil, sondern auch in ihrer Beschwörung von Läden voller Zahnpulver, Bartpflegemittel und Glycerinstifte, voller Kardamom, Zimt, Vanilleschoten und sogar „Kindertränen gegen Zahnschmerz“ an die Erzählungen des großen Bruno Schulz erinnert. Hier trifft der schwärmerische, einfühlsame Sebastian auf den wortkargen Mészáros, der Wölfe jagt und quält und nur auf seinen eigenen Nutzen aus ist.
Es ist ein wenig überraschend, dass Hapeyeva nach all den Volten über Einfühlungsvermögen und ein harmonisches Miteinander gegen Ende des Romans der Einsamkeit und der Stille nachtastet und sie stark macht. Andererseits hat dieses Vorgehen seine eigene Logik innerhalb ihres Schreibens. Hatte sie in ihren Gedichten die elementare Bedeutung der Sprache betont, so hat sie in ihrem preisgekrönten Essay „Die Verteidigung der Poesie in Zeiten dauernden Exils“ das Unterwegssein und ein nomadisches Denken entwickelt, immer vor dem Hintergrund ihres Lebens in Belarus und der späteren Emigration.
In „Samota“ nun verschiebt sie den zeithistorischen Kontext von der Kritik an autoritären Strukturen innerhalb einer Diktatur zur Kritik an einem weltweiten, aber nicht minder zeitlich verorteten funktionalistischen Verhältnis gegenüber anderen Lebewesen. Und fügt Sprachesein und Unterwegssein als drittes Moment ein emphatisches Verständnis von Alleinsein hinzu, indem sie den Begriff geschickt umdeutet: „Traurigkeit samt Melancholie, Stille und Heiterkeit, das Gefühl der Zugehörigkeit zum Universum, zu den Bäumen, den Vögeln, Insekten und Kräutern, das Aufgehen im Abendlicht, sodass man nichts und niemanden mehr braucht, erfüllte Existenz. Nicht Alleinsein, sondern allein Sein. Nicht einsam sein, sondern eins sein. Allsein.“
Indessen ist die Ordnung, nach der Hapeyeva ihre unterschiedlichen Erzählstränge zusammenzufügen versucht, eine sehr lose. Manchmal sind es nur kleine Motive, die eine Verbindung herstellen, ein Tintenfässchen etwa oder eine bestimmte Erinnerung. Andernorts stehen Reflexionen oder unversehens eingeführte Figuren so unvermittelt nebeneinander, dass ein Satz von Maja Gültigkeit gewinnt: „Die wenigen Details wollten sich zu keinem Bild fügen“.
Und immer wieder gibt es Stellen, an denen überdeutliche Kommentarsätze, die in die Erzählung eingeschoben werden, noch einmal unterstreichen sollen, um was es hier geht. Trotzdem, Volha Hapeyeva hat einen funkelnden Roman über die Einzigartigkeit jeden Lebens und über eine neue Form von Begegnung und Nähe geschrieben. Und das offene Gefüge, in das Hapeyeva ihre Ideen verwandelt, vermittelt eine Vorstellung davon, wie ein Sprechen jenseits von Herrschaftsstrukturen und Machtrede aussehen oder besser: klingen könnte.
NICO BLEUTGE
„Die wenigen Details
wollten sich zu
keinem Bild fügen.“
Volha Hapeyeva:
Samota. Die Einsamkeit wohnte im Zimmer
gegenüber. Roman. Deutsch von Tina
Wünschmann
und Matthias Göritz.
Droschl Verlag,
Graz und Wien 2024.
192 Seiten, 25 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Seit den Demonstrationen in Belarus lebt Volha Hapeyeva im Exil. Ihr funkelnder
Roman „Samota“ stellt die große Frage aller Heimatlosen.
Zu den großen Vorzügen von Volha Hapeyevas Roman „Samota“ gehört es, dass man beim Lesen ständig das Gefühl hat, in mehreren Welten parallel unterwegs zu sein. Darin ähnelt der Roman ein wenig einem Buch, in dem die Hauptfigur Maja einmal blättert. Obwohl ein Nachschlagewerk, ist es doch voller überraschender Zwischentitel und fantastischer Einfälle. Nur stimmt etwas mit der Struktur nicht. Die Fotos sind chaotisch angeordnet und gehören nicht zum Text auf der jeweiligen Seite.
Anders als in dem vermeintlichen Sachbuch ist die kalkulierte Unschärfe in „Samota“ durchaus mehr als nur formale Spielerei oder witziges Gimmick. Man braucht ein bisschen, um in den Kosmos des Romans einzutauchen. Denn Hapeyeva, die in Minsk geboren wurde, schickt ihre Figuren an ganz unterschiedliche Orte und lässt sie durch die Zeiten wandern. Nach und nach zeigt sich, dass es ihr um nicht weniger als eine andere Art des gegenseitigen Umgangs geht, von Menschen untereinander ebenso wie von Menschen und Tieren. Und dass sich diese neue Art von Aufmerksamkeit in der Art des Sprechens und Schreibens spiegeln soll.
Den Umschlag von Hapeyevas letztem Gedichtband „Trapezherz“ ziert eine frostige Landschaft, Eisberge in einer Formation, die an Caspar David Friedrichs Gemälde „Das Eismeer“ erinnert. So ist es nicht überraschend, dass sie in ihrem Roman zu Beginn eine Figur inszeniert, die von sich selbst sagt, in ihr herrsche eine „emotionale Arktis“. Maja versteht sich als Wissenschaftlerin. Sie setzt auf logisches Denken. Empathie hält sie für eine „komplizierte Charaktereigenschaft“ und am Leben anderer Menschen scheint sie wenig interessiert zu sein.
Tatsächlich aber, stellt sich bald heraus, ist ihr Selbstbild Projektion. Schon als Kind zeichnete sie sich durch das genaue Gegenteil emotionaler Kälte aus, durch „Hypersensibilität“. Ihr Mitgefühl ist manchmal so stark, dass sie sich kaum dagegen wehren kann, und wenn sie Filme ansieht oder Romane liest, kann sie die Realitäten tagelang nicht auseinanderhalten. Um sich an die gesellschaftlichen Normvorstellungen anzupassen, versucht sie, nicht mehr zu fantasieren, und flüchtet sich in die „sogenannte Objektivität“ der Wissenschaft.
Doch diese Selbstkonstruktion ist allzu brüchig und wird vollends in Frage gestellt, als Maja im Zuge einer wissenschaftlichen Tagung Helga-Maria wieder trifft. „Liebe“ und „Harmonie“ sind Helga-Marias Lieblingswörter, als Tierpsychotherapeutin setzt sie sich für eine empathische Verbindung zwischen Menschen und Tieren ein.
Obwohl Maja Helga-Maria für ihre Kenntnisse und ihre Weisheit bewundert („als sei mein Wissen künstlich, ihres aber – echt“), ist auch die Freundin nicht frei von untergründigen Widersprüchen. Weil das Einkommen aus ihrer therapeutischen Tätigkeit nicht reicht, schreibt sie etwa für ein Unternehmen die kleinen Prophezeiungen, die in Glückskekse eingebacken werden – und bedient so unter der Hand jenes Warendenken, das sie an anderer Stelle heftig kritisiert.
Allerdings hat Helga-Maria auch eine wichtige erzähltechnische Aufgabe. Sie hat Zugang zu jener fremden Welt, in der die dritte Hauptfigur unterwegs ist und in der die Frage nach dem Verhältnis von Mitgefühl und emotionaler Kälte noch einmal auf ganz andere Art und Weise durchgespielt wird. Es ist eine zum Teil fantastische Welt, die nicht nur in ihrem sprachlich antiquierten Stil, sondern auch in ihrer Beschwörung von Läden voller Zahnpulver, Bartpflegemittel und Glycerinstifte, voller Kardamom, Zimt, Vanilleschoten und sogar „Kindertränen gegen Zahnschmerz“ an die Erzählungen des großen Bruno Schulz erinnert. Hier trifft der schwärmerische, einfühlsame Sebastian auf den wortkargen Mészáros, der Wölfe jagt und quält und nur auf seinen eigenen Nutzen aus ist.
Es ist ein wenig überraschend, dass Hapeyeva nach all den Volten über Einfühlungsvermögen und ein harmonisches Miteinander gegen Ende des Romans der Einsamkeit und der Stille nachtastet und sie stark macht. Andererseits hat dieses Vorgehen seine eigene Logik innerhalb ihres Schreibens. Hatte sie in ihren Gedichten die elementare Bedeutung der Sprache betont, so hat sie in ihrem preisgekrönten Essay „Die Verteidigung der Poesie in Zeiten dauernden Exils“ das Unterwegssein und ein nomadisches Denken entwickelt, immer vor dem Hintergrund ihres Lebens in Belarus und der späteren Emigration.
In „Samota“ nun verschiebt sie den zeithistorischen Kontext von der Kritik an autoritären Strukturen innerhalb einer Diktatur zur Kritik an einem weltweiten, aber nicht minder zeitlich verorteten funktionalistischen Verhältnis gegenüber anderen Lebewesen. Und fügt Sprachesein und Unterwegssein als drittes Moment ein emphatisches Verständnis von Alleinsein hinzu, indem sie den Begriff geschickt umdeutet: „Traurigkeit samt Melancholie, Stille und Heiterkeit, das Gefühl der Zugehörigkeit zum Universum, zu den Bäumen, den Vögeln, Insekten und Kräutern, das Aufgehen im Abendlicht, sodass man nichts und niemanden mehr braucht, erfüllte Existenz. Nicht Alleinsein, sondern allein Sein. Nicht einsam sein, sondern eins sein. Allsein.“
Indessen ist die Ordnung, nach der Hapeyeva ihre unterschiedlichen Erzählstränge zusammenzufügen versucht, eine sehr lose. Manchmal sind es nur kleine Motive, die eine Verbindung herstellen, ein Tintenfässchen etwa oder eine bestimmte Erinnerung. Andernorts stehen Reflexionen oder unversehens eingeführte Figuren so unvermittelt nebeneinander, dass ein Satz von Maja Gültigkeit gewinnt: „Die wenigen Details wollten sich zu keinem Bild fügen“.
Und immer wieder gibt es Stellen, an denen überdeutliche Kommentarsätze, die in die Erzählung eingeschoben werden, noch einmal unterstreichen sollen, um was es hier geht. Trotzdem, Volha Hapeyeva hat einen funkelnden Roman über die Einzigartigkeit jeden Lebens und über eine neue Form von Begegnung und Nähe geschrieben. Und das offene Gefüge, in das Hapeyeva ihre Ideen verwandelt, vermittelt eine Vorstellung davon, wie ein Sprechen jenseits von Herrschaftsstrukturen und Machtrede aussehen oder besser: klingen könnte.
NICO BLEUTGE
„Die wenigen Details
wollten sich zu
keinem Bild fügen.“
Volha Hapeyeva:
Samota. Die Einsamkeit wohnte im Zimmer
gegenüber. Roman. Deutsch von Tina
Wünschmann
und Matthias Göritz.
Droschl Verlag,
Graz und Wien 2024.
192 Seiten, 25 Euro.
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de