Die Geschichte einer ungewöhnlichen Reise. Ein junger Übersetzer verliebt sich in eine Frau, die einen eigenwilligen Sohn hat. Der Junge, Samuel, interessiert sich nur selten für andere Menschen und lebt in der Welt von Science-fiction-Romanen. Er schickt Briefe an den Autor dieser Bücher, einen alten Mann in Krakau, in dem unschwer Stanislaw Lem zu erkennen ist, und träumt davon, ihn eines Tages zu treffen. Als die Mutter Samuels ein vierwöchiges Stipendium in Amerika erhält, reist ihr Freund mit dem Jungen nach Polen. In Krakau angekommen, verschwindet Samuel plötzlich, und der Mann begegnet auf der Suche nach ihm Menschen, deren Leben und Geschichte ihn auf die geheimen Wege dieser Stadt im Wandel führen und ihn unentrinnbar verändern.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.05.2005Authentische Doppelgänger
Herzensbildung: Gernot Wolfram sucht in Polen das wahre Leben
Sie sind ein seltsames Paar: ein dreißigjähriger Mann, der für das Englisch des achtzehnten Jahrhunderts schwärmt, zum Wohlbefinden unbedingt einige feste Koordinaten in seinem Alltag braucht - ein ruhiger, unaufgeregter, solider Mensch. Und ein zwölfjähriger Junge, der Science-fiction-Romane verschlingt und sein Anderssein gern durch anstrengende Selbstinszenierungen demonstriert: indem er mal vieldeutig schweigt, mal sich ohne jede Vorwarnung zu Boden fallen läßt. Der Mann ist mit der Mutter des Jungen zusammen, aber dieser ist ihm im Grunde völlig fremd. Und doch sollen ausgerechnet sie diese spezifische Art von Intimität erleben, die eine gemeinsame Reise mit sich bringt.
In Gernot Wolframs Erstlingsroman "Samuels Reise" geht es vor allem um verschiedene Varianten, Stufen und Schattierungen des Fremdseins; schon sein vor zwei Jahre erschienener Erzählband trug den Titel "Der Fremdländer". Wolframs Erzähler ist literarischer Übersetzer, und er übt diesen Beruf, gewissermaßen als Profi für die Überwindung von Fremdheit, mit großer Hingabe aus. Als er gerade an der Neuübersetzung von James Boswells "Londoner Tagebuch" arbeitet, reißt ihn ein spontaner Reiseplan aus seinem geregelten Alltag. Seine Freundin Anna, ebenfalls Übersetzerin, hat ein vierwöchiges Stipendium in den Staaten bekommen, und er soll während ihrer Abwesenheit mit ihrem Sohn Samuel nach Krakau fahren. Die Idee stammt von Annas Vater, der die Reise auch finanziert und damit dem Enkelsohn seinen sehnlichsten Wunsch erfüllen will: Der Junge möchte seinem Idol, einem berühmten Science-fiction-Autor (sprich: Stanislaw Lem), begegnen. Doch noch bevor sie ihr Reiseziel erreichen, erleben die beiden eine Reihe von Überraschungen und Turbulenzen.
Die Handlung kommt erst richtig in Gang, als Samuel plötzlich aus ihrem Krakauer Hotel verschwindet. Diesmal ist es allerdings keine weitere Demonstration pubertärer Exzentrik, sondern ein Racheakt: Die von polnischen Mittelsmännern organisierte Begegnung mit dem berühmten Autor, die sofort nach der Ankunft in Krakau stattfand, war nichts als Schwindel, und der Junge erkannte dies viel schneller als sein Begleiter. In Wirklichkeit saßen die beiden nicht dem Schriftsteller, sondern seinem Doppelgänger gegenüber - einem Schauspieler und zugleich Inhaber einer Agentur, die Imitatoren von Prominenten vermittelt. Ein falscher Papst gehört ebenso zu seinem Team wie Doubles von Bill Clinton oder Lech Walesa. Samuel macht seinem Ärger über den Betrug Luft, indem er sich selbständig macht, und dem Erzähler bleibt nichts anderes übrig, als seinen Spuren zu folgen. So wird die Reise zu einer Art inneren Bildungsreise, die dem Erzähler manche Selbsterkenntnisse beschert.
Auf einmal entdeckt er nämlich, daß er durchaus imstande ist, sich einfach treiben zu lassen, auf überraschende Situationen spontan zu reagieren, zu improvisieren und sich mit widrigen Umständen zu arrangieren. Kurz: Er lernt Gelassenheit, und zwar so schnell, daß er mit jedem Tag stärker den Wunsch verspürt, sein altes Leben hinter sich zu lassen. Dafür hat er auch ein neues persönliches Motiv: die Schwester eines Doppelgängers, die ihn bei seiner Suche nach Samuel begleitet und unterstützt - und die dieses andere Lebensgefühl auf eine sehr natürliche und reizvolle Weise ausstrahlt. Irgendwann taucht der Junge wieder auf, und das Polen-Abenteuer ist zu Ende. Das neue Leben des Erzählers, wo auch immer, kann beginnen.
Wolframs Roman ist bei aller Leichtigkeit und Frische des Tons ein sorgfältig komponiertes Werk, dessen Motive sehr durchdacht sind: Es geht immer wieder um die Grenze zwischen Realität und Illusion, zwischen Nachahmung und Täuschung, zwischen Originalität und Austauschbarkeit - und somit über die Beschaffenheit einer Welt, in der Vertrautheit und Fremdheit nur einen Schritt voneinander entfernt liegen.
Es ist wohl kein Zufall, daß Wolfram seinem erwachsenen Protagonisten einen zwölfjährigen Jungen zur Seite stellt. Er selbst war in diesem Alter, als er erstmals die Erfahrung der Fremdheit machte: 1987 übersiedelte seine Familie aus der DDR nach Westdeutschland und ließ sich im württembergischen Nürtingen nieder. Heute ist Wolfram genau im Alter seines Erzählers, und die Erinnerung an die Umsiedlung läßt ihn offenbar immer noch nicht los. Er lebt seit Jahren in Berlin, doch die alte Heimat, das Land zwischen Dresden und Prag, bezeichnet er weiterhin als seine "Herzensgegend".
Diese Vorliebe merkt man auch seinem Roman an: Sosehr er auf persönliche Erfahrungen in Polen zurückgreift (eine Zeitlang lehrte Wolfram in Breslau "interkulturelle Kommunikation"), seine Schilderungen bekommen immer wieder einen leicht ostdeutschen oder tschechischen Anstrich, der gelegentlich auf Kosten der Glaubwürdigkeit geht. Die eigentlichen Drahtzieher in seiner Geschichte etwa sind Samuels Großvater und sein Jugendfreund, der besagte Agenturbesitzer: zwei alte Krakauer, die, einst unzertrennlich, später zerstritten, heute ein zögerlich korrektes Verhältnis pflegen. Abgesehen davon, daß schon ihre Namen, Predotta und Klima, merkwürdig unpolnisch anmuten und daß das Bild von Krakau erstaunlich blaß ausfällt, geht Wolfram mit den Mäandern der Zeitgeschichte mit irritierender Sorglosigkeit um.
Daß Predotta in Ost-Berlin studierte, ist denkbar - daß er sich aber als Gaststudent "eine ideologische Unzuverlässigkeit" leistete und dafür, statt sofort nach Polen zurückgeschickt zu werden, "auf Mecklenburgs Feldern schuftete", bevor er "in die freie Hälfte des Landes" wechselte, klingt eher nach einer Hommage an die Eltern als nach sorgfältiger Recherche. Auch die auf Klima bezogene Formulierung, seine Schauspielerkarriere sei zu Ende gewesen, als "die Kommunisten anfingen, sich über die Juden zu mokieren" (je nachdem, ob die vierziger oder die sechziger Jahre gemeint sind, wurden die polnischen Juden entweder umgebracht oder auf brutale Weise aus dem Land vertrieben), zeugt von gewissen Wissenslücken. So sind dem Autor auch einige unfreiwillige Verfremdungseffekte gelungen, die auf einen Landeskundigen etwas befremdend wirken - so gern er seinen Roman auch sonst gelesen hat.
MARTA KIJOWSKA
Gernot Wolfram: "Samuels Reise". Roman. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2005. 203 S., geb., 18,90 [Euro].
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Herzensbildung: Gernot Wolfram sucht in Polen das wahre Leben
Sie sind ein seltsames Paar: ein dreißigjähriger Mann, der für das Englisch des achtzehnten Jahrhunderts schwärmt, zum Wohlbefinden unbedingt einige feste Koordinaten in seinem Alltag braucht - ein ruhiger, unaufgeregter, solider Mensch. Und ein zwölfjähriger Junge, der Science-fiction-Romane verschlingt und sein Anderssein gern durch anstrengende Selbstinszenierungen demonstriert: indem er mal vieldeutig schweigt, mal sich ohne jede Vorwarnung zu Boden fallen läßt. Der Mann ist mit der Mutter des Jungen zusammen, aber dieser ist ihm im Grunde völlig fremd. Und doch sollen ausgerechnet sie diese spezifische Art von Intimität erleben, die eine gemeinsame Reise mit sich bringt.
In Gernot Wolframs Erstlingsroman "Samuels Reise" geht es vor allem um verschiedene Varianten, Stufen und Schattierungen des Fremdseins; schon sein vor zwei Jahre erschienener Erzählband trug den Titel "Der Fremdländer". Wolframs Erzähler ist literarischer Übersetzer, und er übt diesen Beruf, gewissermaßen als Profi für die Überwindung von Fremdheit, mit großer Hingabe aus. Als er gerade an der Neuübersetzung von James Boswells "Londoner Tagebuch" arbeitet, reißt ihn ein spontaner Reiseplan aus seinem geregelten Alltag. Seine Freundin Anna, ebenfalls Übersetzerin, hat ein vierwöchiges Stipendium in den Staaten bekommen, und er soll während ihrer Abwesenheit mit ihrem Sohn Samuel nach Krakau fahren. Die Idee stammt von Annas Vater, der die Reise auch finanziert und damit dem Enkelsohn seinen sehnlichsten Wunsch erfüllen will: Der Junge möchte seinem Idol, einem berühmten Science-fiction-Autor (sprich: Stanislaw Lem), begegnen. Doch noch bevor sie ihr Reiseziel erreichen, erleben die beiden eine Reihe von Überraschungen und Turbulenzen.
Die Handlung kommt erst richtig in Gang, als Samuel plötzlich aus ihrem Krakauer Hotel verschwindet. Diesmal ist es allerdings keine weitere Demonstration pubertärer Exzentrik, sondern ein Racheakt: Die von polnischen Mittelsmännern organisierte Begegnung mit dem berühmten Autor, die sofort nach der Ankunft in Krakau stattfand, war nichts als Schwindel, und der Junge erkannte dies viel schneller als sein Begleiter. In Wirklichkeit saßen die beiden nicht dem Schriftsteller, sondern seinem Doppelgänger gegenüber - einem Schauspieler und zugleich Inhaber einer Agentur, die Imitatoren von Prominenten vermittelt. Ein falscher Papst gehört ebenso zu seinem Team wie Doubles von Bill Clinton oder Lech Walesa. Samuel macht seinem Ärger über den Betrug Luft, indem er sich selbständig macht, und dem Erzähler bleibt nichts anderes übrig, als seinen Spuren zu folgen. So wird die Reise zu einer Art inneren Bildungsreise, die dem Erzähler manche Selbsterkenntnisse beschert.
Auf einmal entdeckt er nämlich, daß er durchaus imstande ist, sich einfach treiben zu lassen, auf überraschende Situationen spontan zu reagieren, zu improvisieren und sich mit widrigen Umständen zu arrangieren. Kurz: Er lernt Gelassenheit, und zwar so schnell, daß er mit jedem Tag stärker den Wunsch verspürt, sein altes Leben hinter sich zu lassen. Dafür hat er auch ein neues persönliches Motiv: die Schwester eines Doppelgängers, die ihn bei seiner Suche nach Samuel begleitet und unterstützt - und die dieses andere Lebensgefühl auf eine sehr natürliche und reizvolle Weise ausstrahlt. Irgendwann taucht der Junge wieder auf, und das Polen-Abenteuer ist zu Ende. Das neue Leben des Erzählers, wo auch immer, kann beginnen.
Wolframs Roman ist bei aller Leichtigkeit und Frische des Tons ein sorgfältig komponiertes Werk, dessen Motive sehr durchdacht sind: Es geht immer wieder um die Grenze zwischen Realität und Illusion, zwischen Nachahmung und Täuschung, zwischen Originalität und Austauschbarkeit - und somit über die Beschaffenheit einer Welt, in der Vertrautheit und Fremdheit nur einen Schritt voneinander entfernt liegen.
Es ist wohl kein Zufall, daß Wolfram seinem erwachsenen Protagonisten einen zwölfjährigen Jungen zur Seite stellt. Er selbst war in diesem Alter, als er erstmals die Erfahrung der Fremdheit machte: 1987 übersiedelte seine Familie aus der DDR nach Westdeutschland und ließ sich im württembergischen Nürtingen nieder. Heute ist Wolfram genau im Alter seines Erzählers, und die Erinnerung an die Umsiedlung läßt ihn offenbar immer noch nicht los. Er lebt seit Jahren in Berlin, doch die alte Heimat, das Land zwischen Dresden und Prag, bezeichnet er weiterhin als seine "Herzensgegend".
Diese Vorliebe merkt man auch seinem Roman an: Sosehr er auf persönliche Erfahrungen in Polen zurückgreift (eine Zeitlang lehrte Wolfram in Breslau "interkulturelle Kommunikation"), seine Schilderungen bekommen immer wieder einen leicht ostdeutschen oder tschechischen Anstrich, der gelegentlich auf Kosten der Glaubwürdigkeit geht. Die eigentlichen Drahtzieher in seiner Geschichte etwa sind Samuels Großvater und sein Jugendfreund, der besagte Agenturbesitzer: zwei alte Krakauer, die, einst unzertrennlich, später zerstritten, heute ein zögerlich korrektes Verhältnis pflegen. Abgesehen davon, daß schon ihre Namen, Predotta und Klima, merkwürdig unpolnisch anmuten und daß das Bild von Krakau erstaunlich blaß ausfällt, geht Wolfram mit den Mäandern der Zeitgeschichte mit irritierender Sorglosigkeit um.
Daß Predotta in Ost-Berlin studierte, ist denkbar - daß er sich aber als Gaststudent "eine ideologische Unzuverlässigkeit" leistete und dafür, statt sofort nach Polen zurückgeschickt zu werden, "auf Mecklenburgs Feldern schuftete", bevor er "in die freie Hälfte des Landes" wechselte, klingt eher nach einer Hommage an die Eltern als nach sorgfältiger Recherche. Auch die auf Klima bezogene Formulierung, seine Schauspielerkarriere sei zu Ende gewesen, als "die Kommunisten anfingen, sich über die Juden zu mokieren" (je nachdem, ob die vierziger oder die sechziger Jahre gemeint sind, wurden die polnischen Juden entweder umgebracht oder auf brutale Weise aus dem Land vertrieben), zeugt von gewissen Wissenslücken. So sind dem Autor auch einige unfreiwillige Verfremdungseffekte gelungen, die auf einen Landeskundigen etwas befremdend wirken - so gern er seinen Roman auch sonst gelesen hat.
MARTA KIJOWSKA
Gernot Wolfram: "Samuels Reise". Roman. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2005. 203 S., geb., 18,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Ein gut lesbarer Roman aus dem deutschen Sprachraum, der eine gewisse Leichtigkeit transportiert, besitzt für Hans-Peter Kunisch Seltenheitswert. Seines Erachtens hat Gernot Wolfram mit "Samuels Reise" ein solches Buch geliefert, das trotz seiner Gängigkeit schweren Stoff bearbeitet - es geht um Polen und die deutsche Vergangenheit in Polen. Dort gibt es beispielsweise Menschen wie einen Mann namens Klima, der eine Agentur für Doppelgänger führt, die sich notfalls sogar als KZ-Insassen ausgeben und so die Frage aufwerfen, formuliert der Rezensent beeindruckt, was Authentizität bedeute beziehungsweise was wichtiger sei, die Wahrheit oder die Wirkung? Wolframs Sprache ist dabei ganz klar und durchsichtig, analysiert Kunisch weiter, aber auch etwas geheimnislos. Wenn man dem Roman eine Schwäche anlasten dürfe, dann nämlich seine Berechenbarkeit. Irritationen vermisst der Rezensent, der sich stimmungsmäßig teilweise an Nooteboom, teilweise an Kundera erinnert fühlt. Doch in der Klima-Figur sieht er auch einen "Rest an Widerständigkeit" bewahrt, die dem Buch sonst abgehe.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Unter der sicheren Hand des Erzählers, hinter dem Wohlgesetzten seiner Worte (die Sätze fallen oft wie wunderbare musikalische Kadenzen), tut sich ein geradezu extravaganter Reichtum an Figurenpsychologie auf." Süddeutsche Zeitung
"Ein beeindruckendes Debüt ... Wolfram verfügt über einen angenehmen, nicht auf Pointen kalkulierenden Humor." Frankfurter Allgemeine Zeitung
"Ein beeindruckendes Debüt ... Wolfram verfügt über einen angenehmen, nicht auf Pointen kalkulierenden Humor." Frankfurter Allgemeine Zeitung