«Er aß und trank, bürstete seine Kleider ab, leerte den Sand aus seinen Taschen und überprüfte noch einmal die Innentasche des Blazers. Er wusch sich unter dem Tisch die Hände mit ein wenig Trinkwasser, goss den Rest über seine geplagten Füße und schaute die Straße entlang. Sandfarbene Kinder spielten mit einem sandfarbenen Fußball zwischen sandfarbenen Hütten. Dreck und zerlumpte Gestalten, und ihm fiel ein, wie gefährlich es im Grunde war, eine weiße, blonde, ortsunkundige Frau in einem Auto hierherzubestellen.»
Während in München Palästinenser des «Schwarzen September» das Olympische Dorf überfallen, geschehen in der Sahara mysteriöse Dinge. In einer Hippie-Kommune werden vier Menschen ermordet, ein Geldkoffer verschwindet, und ein unterbelichteter Kommissar versucht sich an der Aufklärung des Falles. Ein verwirrter Atomspion, eine platinblonde Amerikanerin, ein Mann ohne Gedächtnis - Nordafrika 1972.
Während in München Palästinenser des «Schwarzen September» das Olympische Dorf überfallen, geschehen in der Sahara mysteriöse Dinge. In einer Hippie-Kommune werden vier Menschen ermordet, ein Geldkoffer verschwindet, und ein unterbelichteter Kommissar versucht sich an der Aufklärung des Falles. Ein verwirrter Atomspion, eine platinblonde Amerikanerin, ein Mann ohne Gedächtnis - Nordafrika 1972.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.11.2011Wo Schmuggler, Hippies, Künstler und Agenten auftanken
Im vergangenen Jahr begeisterte er mit der Ausreißergeschichte "Tschick". Jetzt legt Wolfgang Herrndorf einen literarischen Thriller vor: den grandiosen Wüstenroman "Sand".
Wer Wolfgang Herrndorfs Roman "Tschick" (2010) gelesen hatte, ein Buch von franker Lustigkeit und herzerwärmender Solidarität mit der Jugend, der konnte sich den Autor nur als einen glücklichen Menschen vorstellen. So ist es schockierend, aus seinem Blog zu erfahren, dass er schon länger mit dem Tod um die Wette schreibt. Und so erregt schon der Umschlag seines neuen Romans die Assoziationen, die sich seit biblischen Zeiten angesammelt haben. Sand, der unaufhörlich durch das Stundenglas rinnt, den wir uns gegenseitig in die Augen streuen, auf den alles Menschenwesen gebaut ist, der die Spuren verweht und bald vielleicht das Gesicht der Menschheit.
Die Befürchtung aber, es könnte sich bei dem Roman um ein deprimierendes Exemplar der Gattung tapferer Krankheitsbewältigungsbericht handeln, ist unbegründet, wie sich rasch herausstellt. Nach wie vor ist hier ein gewitzter und universal belesener Artist am Werk, der auf seinem Hochseil mit Gewalt, Tod, Verderben und Vergessen jongliert und die Nichtigkeit der menschlichen Existenz als großes Kunststück aufführt.
Zeit und Ort werden klassisch angelegt. Die Handlung spielt im September 1972. Bei den Olympischen Spielen in München nehmen die Terroristen des "Schwarzen September" Mitglieder der israelischen Delegation als Geiseln. Bei der dilettantischen Befreiungsaktion kommen siebzehn Menschen ums Leben, weitere Tote folgten bei Racheaktionen des israelischen Geheimdiensts und in der Verschärfung des Palästina-Konflikts und den Auswirkungen in der arabischen Welt. Fortan wächst die Angst vor der Waffentechnologie in arabischen Händen.
Schauplatz ist aber ein Land im Maghreb, halbzivilisiert, schmutzig, chaotisch, gewalttätig und korrupt. Der Erzähler stellt es dem Leser mit geographischer Akkuratesse vor. Eine Stadt am Meer, das Leere Viertel, das Salzviertel der Suq, die Touristenzone der Altstadt, das Sheraton Hotel mit seinen Bungalows, die Slums im Gürtel. Dahinter die Berge, dann die Wüste mit einer Piste, die zu einer Oase führt. Trotz verfremdeter Namen erkennt der Leser unschwer das Königreich Marokko mit seinen Residuen aus der französischen Kolonialzeit und der "Interzone", das Tanger der berauschten Künstler und Literaten, der Partys bei amerikanischen Lebedamen, der schwulen Subkultur, die sich arabische Lustknaben in Adidas-Hosen hält, der bekifften Hippies und der Agenten, Schmuggler und Geschäftemacher aus aller Herren Länder.
Es beginnt damit, dass vier Mitglieder einer internationalen Hippiekommune in der Oase ermordet werden, mehr Tote folgen. Als Täter wird ein Junge mit dem hübschen Namen Amadou Amadou verhaftet und von zwei lustlosen Kommissaren verhört. Den einen, Polidario, beschäftigt mehr, dass er pünktlich um vier Uhr nachmittags unter Kopfschmerzen zu leiden beginnt, weshalb er schon vorsorglich Aspirin einwirft. Der andere, Canisades, ist in der Halbwelt der Künstler mit ihrem zynischem Gequatsche über "Atombomben in den Händen von Kameltreibern" wohlbekannt. Seinem Kollegen, dem arabischstämmigen pieds-noir mit französischen Pass, geht das alles auf die Nerven. "Da eine Bombe rein."
Im Fall des Hippiemords geht es zum ersten Mal um einen Koffer, nämlich um einen voller Geld, leider in "Goethe", nämlich in der Währung der DDR. Es scheint aber noch eine andere Bewandtnis damit zu haben, und das sorgt allein schon für reichlich Verkehr von der Stadt in die Wüste und zurück. Überhaupt wird viel Auto gefahren. Auch auf dem Zentralkommissariat geht es auch zu wie im Taubenschlag. Obwohl der Täter eindeutig überführt zu sein scheint, ist man höheren Orts nicht an seiner Verurteilung interessiert. Im Hafen landet derweil ein Schiff, dem die attraktive Amerikanerin Helen Giese entsteigt, die den Vertrieb von Kosmetika sondieren soll. Als ein Araberjunge ihr den Musterkoffer abnehmen oder entreißen will, entleert sich der Inhalt ins Meer.
Dann gibt es neben einem gewissen Cetrois, der offenbar der Kommune Versicherungen andrehen wollte, einen mysteriösen Lundgren, der sich in der Oase einfindet, wo er sich als Herrlichkoffer ausgibt und folglich eine Kofferübergabe anstrebt, bei der jedoch irgendetwas schiefgeht. Vor allem die Kommunikation, alle scheinen Zwecke zu verfolgen, reden aber aneinander vorbei. Überhaupt gibt es in diesem nordafrikanischen Babel ziemlich viele Missverständnisse, nicht nur wegen der Sprachenvielfalt. Die Tankstelle an der Piste, wo sich die Fäden der Handlung verknüpfen, macht jedenfalls gute Geschäfte, da kommen alle einmal vorbei.
Das sind nach dem ersten Buch schon ziemlich viele, und was die ähnlich zahlreichen Personen angeht, so keimt bald der Verdacht, das einige davon nicht die sind, für die sie sich ausgeben. Was soll das werden, fragt sich der gespannte Leser, ein postkolonialer Gesellschaftsroman, ein exotischer Krimi, ein Spionagethriller, ein zeitgeschichtliches Melodram à la "Casablanca"?
Aber dann geht es erst richtig los: "Tabula Rasa". Drei Männer streiten sich um den Bastkoffer und scheitern an der Verfolgung von Cetrois. Ein Vierter gerät in den Tumult und bekommt einen Schlag mit dem Wagenheber auf den Hinterkopf. Als er aufwacht, weiß er nicht mehr, wer er ist und wie er heißt. Er kann sich an einiges erinnern, sein funktionales Gedächtnis ist intakt, sein Weltwissen noch vorhanden, aber es gelingt ihm nicht, "das Memorykärtchen seiner Identität" umzudrehen. Er schleppt sich zur Tankstelle, wo Helen den Verwundeten einsteigen lässt.
Zurück in der Stadt, beginnen seine Bemühungen, das Rätsel seiner Identität zu lösen. Papierfetzen die er bei sich hat, ergeben keinen Sinn, Sein Nachdenken gerät regelmäßig zum "Versinken im Nebel", das Gehirn arbeitet pausenlos ohne Ergebnis, er träumt von hölzernen Ziegen, in denen verkleidete Priester sitzen. "Nichts von dem, was er erzählte, ergab einen Sinn." Helen kann ihm nicht helfen, ein dubioser Psychiater auch nicht. Der entdeckt freilich an der Krankheit des Mannes "Züge des Inexistenten". Aber vielleicht möchte ja so ein Ich bei Gelegenheit einmal wandern gehen, hinaus aus dem Kerker der Identität ins Freie, in die Wüste, um sich als unbeschriebenes Blatt zu erleben.
Nun beginnt ein Leidensweg, schrecklich und quälend, zugleich beklemmend komisch. Wie in einem überlangen Slapstick stolpert der Held von einem Schlamassel zum nächsten. Er wird bedroht, entführt, verletzt und gefoltert, und er weiß nicht warum. Alle wollen etwas von ihm, von Kleingaunern und drogensüchtigen Prostituierten über Adil Bassi, den König der Schieber, bis zu einem zusammengewürfelten Haufen von Agenten. Er aber weiß nicht, was sie suchen, und der Leser weiß es vorerst auch nicht. Was der Mann sagt, ist vermutlich die Wahrheit, aber nicht das, was seine Peiniger aus ihm herausprügeln wollen. Da die Wahrheit so unwahrscheinlich klingt, erfindet er wahrscheinlichere Aussagen, aber der Zufall will ihm nicht zu Hilfe kommen.
Dabei könnte das Ganze als eine Verkettung von dummen Zufällen erscheinen. Die Verbrecher, die Polizisten, die Geheimdienstagenten ergänzen sich in ihrer Stümperhaftigkeit. Die Ereignisse und Gewalttaten scheinen jeweils keinen oder einen falschen Grund zu haben. Das Leben ist auch ein Fehlerspiel von Zufällen, aber da nennt man es Schicksal. Gütigenfalls führt es einen aus der Wüste, wo das Gegenteil von Zivilisation nicht die Barbarei ist, sondern die Einsamkeit, an die Hotelbar. Für Michelle aus der Kommune, Helens Jugendfreundin, schlicht im Geiste, aber eine Meisterin des Tarot, fügt sich aber alles zum Sinn, selbst wenn sie die Karte mit dem Gehängten herauslässt. "Alles, was dabei herauskam, war so ungeheuer treffend, viel treffender noch als für gewöhnlich die Aussagen des Keltischen Kreuzes."
Irgendwann geht dem Leser dann auch ohne Kartenlesen ein Licht auf. Offenbar gilt der ganze Aufwand von Gewalttätigkeit und Verstellung einer "Mine". Aber was bezeichnet das? Ein Codewort, eine Bombe, Gold, ein Schreibgerät, eine Person? Der Leser muss es in Herrndorfs grandiosem Spiel der Mehrdeutigkeiten und Irrtümer selbst herausfinden. Verraten wird ihm hingegen, wer der identitätsvergessene Mann ist beziehungsweise war. Metaphorisch begabte Leser können sich in ihm aber auch selbst erkennen. Im Nachhinein erscheint jedenfalls alles so logisch wie bei Hitchcock, Stendhal oder Borges.
Am Ende stürzt bei einer Säuberungswelle im Salzviertel ein Bauwerk zusammen, und der ganze Schamott wird nebst einer kleinen Leiche den Hügel hinabgeschoben. Das ist noch einmal ein bitterer Kommentar zum Irrsinn der globalisierten Welt, der blutigen Macht der universalen Unvernunft des Mängelwesens Mensch, zugleich aber eine Gebärde des Triumphs einer glasklaren poetischen Intelligenz über "die große Zerstörerin Zeit".
FRIEDMAR APEL
Wolfgang Herrndorf: "Sand". Roman.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2011. 480 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Im vergangenen Jahr begeisterte er mit der Ausreißergeschichte "Tschick". Jetzt legt Wolfgang Herrndorf einen literarischen Thriller vor: den grandiosen Wüstenroman "Sand".
Wer Wolfgang Herrndorfs Roman "Tschick" (2010) gelesen hatte, ein Buch von franker Lustigkeit und herzerwärmender Solidarität mit der Jugend, der konnte sich den Autor nur als einen glücklichen Menschen vorstellen. So ist es schockierend, aus seinem Blog zu erfahren, dass er schon länger mit dem Tod um die Wette schreibt. Und so erregt schon der Umschlag seines neuen Romans die Assoziationen, die sich seit biblischen Zeiten angesammelt haben. Sand, der unaufhörlich durch das Stundenglas rinnt, den wir uns gegenseitig in die Augen streuen, auf den alles Menschenwesen gebaut ist, der die Spuren verweht und bald vielleicht das Gesicht der Menschheit.
Die Befürchtung aber, es könnte sich bei dem Roman um ein deprimierendes Exemplar der Gattung tapferer Krankheitsbewältigungsbericht handeln, ist unbegründet, wie sich rasch herausstellt. Nach wie vor ist hier ein gewitzter und universal belesener Artist am Werk, der auf seinem Hochseil mit Gewalt, Tod, Verderben und Vergessen jongliert und die Nichtigkeit der menschlichen Existenz als großes Kunststück aufführt.
Zeit und Ort werden klassisch angelegt. Die Handlung spielt im September 1972. Bei den Olympischen Spielen in München nehmen die Terroristen des "Schwarzen September" Mitglieder der israelischen Delegation als Geiseln. Bei der dilettantischen Befreiungsaktion kommen siebzehn Menschen ums Leben, weitere Tote folgten bei Racheaktionen des israelischen Geheimdiensts und in der Verschärfung des Palästina-Konflikts und den Auswirkungen in der arabischen Welt. Fortan wächst die Angst vor der Waffentechnologie in arabischen Händen.
Schauplatz ist aber ein Land im Maghreb, halbzivilisiert, schmutzig, chaotisch, gewalttätig und korrupt. Der Erzähler stellt es dem Leser mit geographischer Akkuratesse vor. Eine Stadt am Meer, das Leere Viertel, das Salzviertel der Suq, die Touristenzone der Altstadt, das Sheraton Hotel mit seinen Bungalows, die Slums im Gürtel. Dahinter die Berge, dann die Wüste mit einer Piste, die zu einer Oase führt. Trotz verfremdeter Namen erkennt der Leser unschwer das Königreich Marokko mit seinen Residuen aus der französischen Kolonialzeit und der "Interzone", das Tanger der berauschten Künstler und Literaten, der Partys bei amerikanischen Lebedamen, der schwulen Subkultur, die sich arabische Lustknaben in Adidas-Hosen hält, der bekifften Hippies und der Agenten, Schmuggler und Geschäftemacher aus aller Herren Länder.
Es beginnt damit, dass vier Mitglieder einer internationalen Hippiekommune in der Oase ermordet werden, mehr Tote folgen. Als Täter wird ein Junge mit dem hübschen Namen Amadou Amadou verhaftet und von zwei lustlosen Kommissaren verhört. Den einen, Polidario, beschäftigt mehr, dass er pünktlich um vier Uhr nachmittags unter Kopfschmerzen zu leiden beginnt, weshalb er schon vorsorglich Aspirin einwirft. Der andere, Canisades, ist in der Halbwelt der Künstler mit ihrem zynischem Gequatsche über "Atombomben in den Händen von Kameltreibern" wohlbekannt. Seinem Kollegen, dem arabischstämmigen pieds-noir mit französischen Pass, geht das alles auf die Nerven. "Da eine Bombe rein."
Im Fall des Hippiemords geht es zum ersten Mal um einen Koffer, nämlich um einen voller Geld, leider in "Goethe", nämlich in der Währung der DDR. Es scheint aber noch eine andere Bewandtnis damit zu haben, und das sorgt allein schon für reichlich Verkehr von der Stadt in die Wüste und zurück. Überhaupt wird viel Auto gefahren. Auch auf dem Zentralkommissariat geht es auch zu wie im Taubenschlag. Obwohl der Täter eindeutig überführt zu sein scheint, ist man höheren Orts nicht an seiner Verurteilung interessiert. Im Hafen landet derweil ein Schiff, dem die attraktive Amerikanerin Helen Giese entsteigt, die den Vertrieb von Kosmetika sondieren soll. Als ein Araberjunge ihr den Musterkoffer abnehmen oder entreißen will, entleert sich der Inhalt ins Meer.
Dann gibt es neben einem gewissen Cetrois, der offenbar der Kommune Versicherungen andrehen wollte, einen mysteriösen Lundgren, der sich in der Oase einfindet, wo er sich als Herrlichkoffer ausgibt und folglich eine Kofferübergabe anstrebt, bei der jedoch irgendetwas schiefgeht. Vor allem die Kommunikation, alle scheinen Zwecke zu verfolgen, reden aber aneinander vorbei. Überhaupt gibt es in diesem nordafrikanischen Babel ziemlich viele Missverständnisse, nicht nur wegen der Sprachenvielfalt. Die Tankstelle an der Piste, wo sich die Fäden der Handlung verknüpfen, macht jedenfalls gute Geschäfte, da kommen alle einmal vorbei.
Das sind nach dem ersten Buch schon ziemlich viele, und was die ähnlich zahlreichen Personen angeht, so keimt bald der Verdacht, das einige davon nicht die sind, für die sie sich ausgeben. Was soll das werden, fragt sich der gespannte Leser, ein postkolonialer Gesellschaftsroman, ein exotischer Krimi, ein Spionagethriller, ein zeitgeschichtliches Melodram à la "Casablanca"?
Aber dann geht es erst richtig los: "Tabula Rasa". Drei Männer streiten sich um den Bastkoffer und scheitern an der Verfolgung von Cetrois. Ein Vierter gerät in den Tumult und bekommt einen Schlag mit dem Wagenheber auf den Hinterkopf. Als er aufwacht, weiß er nicht mehr, wer er ist und wie er heißt. Er kann sich an einiges erinnern, sein funktionales Gedächtnis ist intakt, sein Weltwissen noch vorhanden, aber es gelingt ihm nicht, "das Memorykärtchen seiner Identität" umzudrehen. Er schleppt sich zur Tankstelle, wo Helen den Verwundeten einsteigen lässt.
Zurück in der Stadt, beginnen seine Bemühungen, das Rätsel seiner Identität zu lösen. Papierfetzen die er bei sich hat, ergeben keinen Sinn, Sein Nachdenken gerät regelmäßig zum "Versinken im Nebel", das Gehirn arbeitet pausenlos ohne Ergebnis, er träumt von hölzernen Ziegen, in denen verkleidete Priester sitzen. "Nichts von dem, was er erzählte, ergab einen Sinn." Helen kann ihm nicht helfen, ein dubioser Psychiater auch nicht. Der entdeckt freilich an der Krankheit des Mannes "Züge des Inexistenten". Aber vielleicht möchte ja so ein Ich bei Gelegenheit einmal wandern gehen, hinaus aus dem Kerker der Identität ins Freie, in die Wüste, um sich als unbeschriebenes Blatt zu erleben.
Nun beginnt ein Leidensweg, schrecklich und quälend, zugleich beklemmend komisch. Wie in einem überlangen Slapstick stolpert der Held von einem Schlamassel zum nächsten. Er wird bedroht, entführt, verletzt und gefoltert, und er weiß nicht warum. Alle wollen etwas von ihm, von Kleingaunern und drogensüchtigen Prostituierten über Adil Bassi, den König der Schieber, bis zu einem zusammengewürfelten Haufen von Agenten. Er aber weiß nicht, was sie suchen, und der Leser weiß es vorerst auch nicht. Was der Mann sagt, ist vermutlich die Wahrheit, aber nicht das, was seine Peiniger aus ihm herausprügeln wollen. Da die Wahrheit so unwahrscheinlich klingt, erfindet er wahrscheinlichere Aussagen, aber der Zufall will ihm nicht zu Hilfe kommen.
Dabei könnte das Ganze als eine Verkettung von dummen Zufällen erscheinen. Die Verbrecher, die Polizisten, die Geheimdienstagenten ergänzen sich in ihrer Stümperhaftigkeit. Die Ereignisse und Gewalttaten scheinen jeweils keinen oder einen falschen Grund zu haben. Das Leben ist auch ein Fehlerspiel von Zufällen, aber da nennt man es Schicksal. Gütigenfalls führt es einen aus der Wüste, wo das Gegenteil von Zivilisation nicht die Barbarei ist, sondern die Einsamkeit, an die Hotelbar. Für Michelle aus der Kommune, Helens Jugendfreundin, schlicht im Geiste, aber eine Meisterin des Tarot, fügt sich aber alles zum Sinn, selbst wenn sie die Karte mit dem Gehängten herauslässt. "Alles, was dabei herauskam, war so ungeheuer treffend, viel treffender noch als für gewöhnlich die Aussagen des Keltischen Kreuzes."
Irgendwann geht dem Leser dann auch ohne Kartenlesen ein Licht auf. Offenbar gilt der ganze Aufwand von Gewalttätigkeit und Verstellung einer "Mine". Aber was bezeichnet das? Ein Codewort, eine Bombe, Gold, ein Schreibgerät, eine Person? Der Leser muss es in Herrndorfs grandiosem Spiel der Mehrdeutigkeiten und Irrtümer selbst herausfinden. Verraten wird ihm hingegen, wer der identitätsvergessene Mann ist beziehungsweise war. Metaphorisch begabte Leser können sich in ihm aber auch selbst erkennen. Im Nachhinein erscheint jedenfalls alles so logisch wie bei Hitchcock, Stendhal oder Borges.
Am Ende stürzt bei einer Säuberungswelle im Salzviertel ein Bauwerk zusammen, und der ganze Schamott wird nebst einer kleinen Leiche den Hügel hinabgeschoben. Das ist noch einmal ein bitterer Kommentar zum Irrsinn der globalisierten Welt, der blutigen Macht der universalen Unvernunft des Mängelwesens Mensch, zugleich aber eine Gebärde des Triumphs einer glasklaren poetischen Intelligenz über "die große Zerstörerin Zeit".
FRIEDMAR APEL
Wolfgang Herrndorf: "Sand". Roman.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2011. 480 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.12.2011Mord
und
Schuld
und
CIA
Man ist begeistert:
Wolfgang Herrndorf streut
uns „Sand“ in die Augen
und wischt ihn wieder aus
Von Stephan Speicher
In einem nordafrikanischen Land 1972: Ein sonderbarer Prediger ruft bei Sonnenaufgang die Kinder des Elendsviertels zusammen. In der Polizeiverwaltung werden planlos Akten weggeworfen. Eine Kommune wird überfallen, vier Hippies aus Nordamerika und Europa erschossen. In einem Suq kommt es zu einer Verfolgungsjagd. Waffenschieber und Schwarzmarktkönige treten auf; ein fetter Polizeigeneral treibt seine eigenen Interessen voran, und einer seiner Offiziere wird erwürgt. Eine blonde Illustriertenschönheit, um auch vom Norden zu sprechen, sieht dumm aus und erweist sich als so scharfsinnig wie tatkräftig. Neben Mord spielen Raub, Körperverletzung, Entführung, Vergewaltigung, Folter und die CIA wichtige Rollen. Kurzum, es ist viel los in Wolfgang Herrndorfs neuem Roman „Sand“.
Der Leser wird davon tüchtig verwirrt. Er liest einen Agentenroman, so viel ist rasch klar. Aber wo verlaufen die Frontlinien? Was für die Haupthandlung von Belang ist und was nur zufällig den Gang der Dinge kreuzt, das ist auf Anhieb schwer zu sagen. Aber Verwirrung und denkbarer Unlust wirkt die Schärfe in der Zeichnung der einzelnen Episoden entgegen. Jedes Moment tritt hier mit blendender Klarheit dem Leser entgegen, von der ersten Seite an entsteht eine Wachheit, die man seit jeher dem Aufenthalt in der Wüste zuschreibt.
Wo der Leser noch nicht weiß, wie er die Episoden miteinander verknüpfen soll, da hat er schon Spaß an der psychologischen Durchdringung der Situationen. Und Herrndorf verfügt über einen ganz ungewöhnlichen Ton, der das Höchste mit dem Alltäglichen, Selbstverständlichen mischt, ohne dass es je wie Komplexitäts-Bastelei aussähe. Das gibt seinem Erzählen die Autorität realistischen Erzählens, die da günstig ist, wo der Leser auch dem Unglaubwürdigen folgen soll.
Die Haupthandlung setzt nach achtzig Seiten mit einem scharfen Schnitt ein. In einem Schuppen mitten in der Wüste erwacht ein Mann mit Schmerzen, „als versuche eine Faust, ihm von innen die Augen aus dem Kopf zu drücken.“ Er hat einen gewaltigen Schlag auf den Kopf bekommen; er weiß nicht, wo er ist, wie er dort hinkam, warum er niedergeschlagen wurde. Und vor allem: Er weiß nicht, wer er ist und wie er heißt, nichts von dem, was er vor dem Schlag war und tat. Es ist eine vollständige Amnesie, alle vorangegangene Biographie ist ausgelöscht.
Der Namenlose, der später den Notnamen Carl erhält, schleppt sich zur Straße. An einer Tankstelle nimmt ihn die illustriertenschöne Blondine, die Helen Gliese heißt, mit in ihren Bungalow. Fortan geht es unablässig um die Frage: Was hat der Namenlose erlebt, bevor seine Erinnerung ausgelöscht wurde? Und warum sind verschiedene Gruppen hinter ihm her, ihn zu kidnappen? Wer sind Frau und Kinder, mit denen er erpresst wird? Ein Cetrois wird gesucht, wer ist das? Und was hat es mit der Mine auf sich, um die der Kampf zu gehen scheint? Ist es ein Bergwerk, ein Sprengkörper, ein Schreibgerät, eine antike Münze? Ein amerikanischer Psychologe (aber ist er überhaupt Psychologe?) taucht unverhofft auf, er zweifelt an der Amnesie seines Patienten.
Doch auch der hat Gründe zum Misstrauen. Seine Retterin Helen hat zwei Paar Handschellen verschiedener Größe im Gepäck. Hat es nur damit zu tun, dass „manche Bienchen ihre Blümchen auch in Handschellen bestäuben“? Immerhin telefoniert sie mit der CIA. Dass irgendwer in diesem Land Atomspionage betreibt und höchsten Wert auf eine Ultrazentrifuge zur Urananreicherung legt, das war für den Leser schon früher zu erfahren. Die Konstellation wird die Handlung später zum Höhepunkt treiben.
Der Roman lenkt die Sympathien des Lesers auf den erinnerungslosen Carl. Sie sind Schicksalsgenossen, sie durchschauen die Situation nicht. Und als durch einen Zufall ein Indiz auftaucht, da ist es das falsche, das allerdings zum richtigen Ergebnis führt. Missverständnisse sind „das Wesen der Kommunikation“, schreibt Herrndorf in seinem Blog. „Ich halte den Roman für den Aufbewahrungsort des Falschen. Richtige Theorien gehören in die Wissenschaft, im Roman ist Wahrheit lächerlich. Das Unglück, die neurotische Persönlichkeit, das falsche Weltbild, das falsche Leben. Das richtige Leben, das in den Abgrund führt. Das Böse. Die Zeit.“ Es ist eine pittoreske, doch düstere Sphäre, in der sich die Figuren behaupten müssen.
Insofern unterscheidet sich „Sand“ stark von dem vorangegangenen, so erfolgreichen Buch „Tschick“, das auf einem Eichendorffhaften „es war alles, alles gut“ endete. So sieht es auch der Autor: „Der Verlag geht davon aus, einen Teil der Tschick-Leser mitnehmen zu können – kann man vergessen. Über weite Strecken parallel geschrieben ist der im Wüstenroman Kapitel für Kapitel wiederholte und gegen Ende völlig aus dem Ruder laufende deprimierende Nihilismus ja eine direkte Reaktion auf die Freundlichkeit der Welt in Tschick.“
Doch was heißt Nihilismus? Die Handlung entwickelt sich durch entschlossene Grausamkeit, auch wenn der Erzähler darin keineswegs badet und sein Buch nie aus dem Genre des Thrillers in den des Horrors umschlagen lässt. Menschen werden geopfert; wer die Macht hat, geht unbewegt weiter. Es ist eine Welt voller Schrecken, nicht eine des moralischen Nihilismus. Der Leser wird an die Seite des unglücklichen Amnestikers geführt, aber dort, wo es um die Verbreitung von Atomwaffen geht, verschwimmen wohl die Grenzen von Recht und Humanität. Und wie steht es überhaupt mit Schuld und Unschuld der Hauptperson?
„Tschick“ war ein Roman der Unschuld, einer ungeprüften Unschuld allerdings. Um Schuld und Unschuld geht es auch in „Sand“. Die Handlung findet ihr Ende nicht zufällig im Schicksal eines kleinen Mädchens. Sie ist nicht intelligent, aber jeden Morgen die erste in der Schule des Elendsviertels und von jener „engelsgleichen Güte des Herzens, die das ewige Leben gewinnt“. Als die Planierraupen der Obrigkeit wieder einmal ein Elendsviertel wegschieben, rennt sie zurück, um ihre Puppe zu retten und wird unter den zusammenstürzenden Mauern begraben. Der Bulldozer „hob seine Schaufel hoch wie ein Priester die Bundeslade, zeigte sie den Ungläubigen und schob den ganzen Schamott den Hügel hinab“. Herrndorf leidet an einem Hirntumor, ob er das kommende Jahr überleben wird, ist ungewiss; davon handelt sein Blog. Von Religion hält er wenig, aber die Unschuld – und an dieser Unschuld hat sich die Welt auch schon vergangen – ist es wert, hochgehalten zu werden zu werden, auch wenn es nur Ungläubige sind, die es sehen und zuletzt aller Schamott den Hügel hinabrutscht.
Wolfgang Herrndorf
Sand
Roman. Rowohlt Berlin, Berlin 2011. 480 Seiten, 19,95 Euro.
Im Hitzeflirren einer literarischen Fata Morgana
Foto: Raymond Depardon/
Magnum/Agentur Focus
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
und
Schuld
und
CIA
Man ist begeistert:
Wolfgang Herrndorf streut
uns „Sand“ in die Augen
und wischt ihn wieder aus
Von Stephan Speicher
In einem nordafrikanischen Land 1972: Ein sonderbarer Prediger ruft bei Sonnenaufgang die Kinder des Elendsviertels zusammen. In der Polizeiverwaltung werden planlos Akten weggeworfen. Eine Kommune wird überfallen, vier Hippies aus Nordamerika und Europa erschossen. In einem Suq kommt es zu einer Verfolgungsjagd. Waffenschieber und Schwarzmarktkönige treten auf; ein fetter Polizeigeneral treibt seine eigenen Interessen voran, und einer seiner Offiziere wird erwürgt. Eine blonde Illustriertenschönheit, um auch vom Norden zu sprechen, sieht dumm aus und erweist sich als so scharfsinnig wie tatkräftig. Neben Mord spielen Raub, Körperverletzung, Entführung, Vergewaltigung, Folter und die CIA wichtige Rollen. Kurzum, es ist viel los in Wolfgang Herrndorfs neuem Roman „Sand“.
Der Leser wird davon tüchtig verwirrt. Er liest einen Agentenroman, so viel ist rasch klar. Aber wo verlaufen die Frontlinien? Was für die Haupthandlung von Belang ist und was nur zufällig den Gang der Dinge kreuzt, das ist auf Anhieb schwer zu sagen. Aber Verwirrung und denkbarer Unlust wirkt die Schärfe in der Zeichnung der einzelnen Episoden entgegen. Jedes Moment tritt hier mit blendender Klarheit dem Leser entgegen, von der ersten Seite an entsteht eine Wachheit, die man seit jeher dem Aufenthalt in der Wüste zuschreibt.
Wo der Leser noch nicht weiß, wie er die Episoden miteinander verknüpfen soll, da hat er schon Spaß an der psychologischen Durchdringung der Situationen. Und Herrndorf verfügt über einen ganz ungewöhnlichen Ton, der das Höchste mit dem Alltäglichen, Selbstverständlichen mischt, ohne dass es je wie Komplexitäts-Bastelei aussähe. Das gibt seinem Erzählen die Autorität realistischen Erzählens, die da günstig ist, wo der Leser auch dem Unglaubwürdigen folgen soll.
Die Haupthandlung setzt nach achtzig Seiten mit einem scharfen Schnitt ein. In einem Schuppen mitten in der Wüste erwacht ein Mann mit Schmerzen, „als versuche eine Faust, ihm von innen die Augen aus dem Kopf zu drücken.“ Er hat einen gewaltigen Schlag auf den Kopf bekommen; er weiß nicht, wo er ist, wie er dort hinkam, warum er niedergeschlagen wurde. Und vor allem: Er weiß nicht, wer er ist und wie er heißt, nichts von dem, was er vor dem Schlag war und tat. Es ist eine vollständige Amnesie, alle vorangegangene Biographie ist ausgelöscht.
Der Namenlose, der später den Notnamen Carl erhält, schleppt sich zur Straße. An einer Tankstelle nimmt ihn die illustriertenschöne Blondine, die Helen Gliese heißt, mit in ihren Bungalow. Fortan geht es unablässig um die Frage: Was hat der Namenlose erlebt, bevor seine Erinnerung ausgelöscht wurde? Und warum sind verschiedene Gruppen hinter ihm her, ihn zu kidnappen? Wer sind Frau und Kinder, mit denen er erpresst wird? Ein Cetrois wird gesucht, wer ist das? Und was hat es mit der Mine auf sich, um die der Kampf zu gehen scheint? Ist es ein Bergwerk, ein Sprengkörper, ein Schreibgerät, eine antike Münze? Ein amerikanischer Psychologe (aber ist er überhaupt Psychologe?) taucht unverhofft auf, er zweifelt an der Amnesie seines Patienten.
Doch auch der hat Gründe zum Misstrauen. Seine Retterin Helen hat zwei Paar Handschellen verschiedener Größe im Gepäck. Hat es nur damit zu tun, dass „manche Bienchen ihre Blümchen auch in Handschellen bestäuben“? Immerhin telefoniert sie mit der CIA. Dass irgendwer in diesem Land Atomspionage betreibt und höchsten Wert auf eine Ultrazentrifuge zur Urananreicherung legt, das war für den Leser schon früher zu erfahren. Die Konstellation wird die Handlung später zum Höhepunkt treiben.
Der Roman lenkt die Sympathien des Lesers auf den erinnerungslosen Carl. Sie sind Schicksalsgenossen, sie durchschauen die Situation nicht. Und als durch einen Zufall ein Indiz auftaucht, da ist es das falsche, das allerdings zum richtigen Ergebnis führt. Missverständnisse sind „das Wesen der Kommunikation“, schreibt Herrndorf in seinem Blog. „Ich halte den Roman für den Aufbewahrungsort des Falschen. Richtige Theorien gehören in die Wissenschaft, im Roman ist Wahrheit lächerlich. Das Unglück, die neurotische Persönlichkeit, das falsche Weltbild, das falsche Leben. Das richtige Leben, das in den Abgrund führt. Das Böse. Die Zeit.“ Es ist eine pittoreske, doch düstere Sphäre, in der sich die Figuren behaupten müssen.
Insofern unterscheidet sich „Sand“ stark von dem vorangegangenen, so erfolgreichen Buch „Tschick“, das auf einem Eichendorffhaften „es war alles, alles gut“ endete. So sieht es auch der Autor: „Der Verlag geht davon aus, einen Teil der Tschick-Leser mitnehmen zu können – kann man vergessen. Über weite Strecken parallel geschrieben ist der im Wüstenroman Kapitel für Kapitel wiederholte und gegen Ende völlig aus dem Ruder laufende deprimierende Nihilismus ja eine direkte Reaktion auf die Freundlichkeit der Welt in Tschick.“
Doch was heißt Nihilismus? Die Handlung entwickelt sich durch entschlossene Grausamkeit, auch wenn der Erzähler darin keineswegs badet und sein Buch nie aus dem Genre des Thrillers in den des Horrors umschlagen lässt. Menschen werden geopfert; wer die Macht hat, geht unbewegt weiter. Es ist eine Welt voller Schrecken, nicht eine des moralischen Nihilismus. Der Leser wird an die Seite des unglücklichen Amnestikers geführt, aber dort, wo es um die Verbreitung von Atomwaffen geht, verschwimmen wohl die Grenzen von Recht und Humanität. Und wie steht es überhaupt mit Schuld und Unschuld der Hauptperson?
„Tschick“ war ein Roman der Unschuld, einer ungeprüften Unschuld allerdings. Um Schuld und Unschuld geht es auch in „Sand“. Die Handlung findet ihr Ende nicht zufällig im Schicksal eines kleinen Mädchens. Sie ist nicht intelligent, aber jeden Morgen die erste in der Schule des Elendsviertels und von jener „engelsgleichen Güte des Herzens, die das ewige Leben gewinnt“. Als die Planierraupen der Obrigkeit wieder einmal ein Elendsviertel wegschieben, rennt sie zurück, um ihre Puppe zu retten und wird unter den zusammenstürzenden Mauern begraben. Der Bulldozer „hob seine Schaufel hoch wie ein Priester die Bundeslade, zeigte sie den Ungläubigen und schob den ganzen Schamott den Hügel hinab“. Herrndorf leidet an einem Hirntumor, ob er das kommende Jahr überleben wird, ist ungewiss; davon handelt sein Blog. Von Religion hält er wenig, aber die Unschuld – und an dieser Unschuld hat sich die Welt auch schon vergangen – ist es wert, hochgehalten zu werden zu werden, auch wenn es nur Ungläubige sind, die es sehen und zuletzt aller Schamott den Hügel hinabrutscht.
Wolfgang Herrndorf
Sand
Roman. Rowohlt Berlin, Berlin 2011. 480 Seiten, 19,95 Euro.
Im Hitzeflirren einer literarischen Fata Morgana
Foto: Raymond Depardon/
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
"Tüchtig verwirrt" fühlt sich Rezensent Stephan Speicher zunächst von diesem "Agentenroman" um einen namenlosen Mann, der sein Gedächtnis verloren hat. Doch auch wenn der Rezensent lange nicht weiß, wie die einzelnen Episoden miteinander zusammenhängen, so findet er die Episoden selbst sehr klar gezeichnet. Das hält ihn bei der Stange. Auch der "ganz ungewöhnliche Ton" Herrndorfs, der "das Höchste" mit dem Gewöhnlichen verbinde, hat den Rezensenten weiterlesen lassen. Liebhaber von Herrndorfs vorherigem Roman "Tschick" warnt Speicher allerdings: "Sand" ist ganz anders, nihilistischer, düsterer.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Was immer der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf vorlegt, nie duldet es einen Zweifel, dass hier einer der einfallsreichsten und stilsichersten Autoren der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur am Werk ist. Neue Zürcher Zeitung