Botticellis verführerische "Geburt der Venus" oder die anmutige "Primavera" zählen zu den bekanntesten und beliebtesten Kunstwerken der italienischen Renaissance. Seine Neuinterpretationen antiker Mythen und die religiösen Gemälde wurden zum Inbegriff eines künstlerischen Aufbruchs, der ganz Europa erfasste. Frank Zöllner, ausgewiesener Kenner der italienischen Renaissance, präsentiert die neuesten Erkenntnisse zu Leben und Werk Botticellis im Rahmen einer umfassenden und prächtigen Werkschau.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.02.2006Dämonen des Erhabenen
Frank Zöllners Monographie über den Maler Sandro Botticelli
Um die makellose Schönheit seiner Werke zu feiern, fehlt uns heute die Sprache, vielleicht auch das Sensorium. Weit haben wir uns vom Botticelli-Kult des neunzehnten Jahrhunderts entfernt, zumal von den Delirien der englischen Präraffaeliten, für die der Florentiner Maler eine Ausstiegsdroge war, die aus einer häßlichen Moderne entführte. Die Nachfolge wurde aufgegeben, die Suggestion schwächte sich damit ab. Dennoch blieben seine Bilder Magnete, wie man in den Botticelli-Sälen der Londoner oder Berliner Gemäldegalerie beobachten kann. Weltweit nahm das Publikum zuletzt teil an der Restaurierung und strahlenden Wiedergeburt seiner berühmten Tafeln in den Uffizien, der "Primavera", der "Ankunft der Venus" und der großen Altarbilder. Die Befreiung dieses einzigartigen Florentiner Bestandes (fünfzehn Werke) von den grauen Schleiern und Verfärbungen hat ein Vierteljahrhundert gedauert und den Bildern die frühlingshafte Klarheit, Pracht und Leuchtkraft zurückgegeben.
Der verjüngte Botticelli verlangt nach einer neuen Vergegenwärtigung, nach Interpretation und Debatte. Manche Bilder stellen sich nach Entfernung der Schmutzschichten völlig anders dar als zuvor. Der Kolorist muß neu gewürdigt, Zuschreibungen oder Abschreibungen, Fragen nach Eigenhändigkeit oder Werkstatt-Routine müssen neu erörtert werden. Eine langerwartete Monographie hat nun der Leipziger Kunsthistoriker Frank Zöllner vorgelegt. Sie kommt im Monumentalformat daher. Zur Lektüre bedarf es eines großen Tischs oder, besser noch, eines Lesepults wie für Meßbücher. Beim Durchblättern des Folianten wirkt aber sogleich wieder die alte Schönheitsdroge, auch wenn nicht alle Vorlagen und Reproduktionen höchsten Ansprüchen genügen.
Zöllner wendet sich an den passionierten Liebhaber sowie an den Kenner und Gelehrten und gliedert sein Buch in zwei Teile. Der erste Teil, der ohne Anmerkungen auskommt und sie im Anhang kursorisch nachträgt, verbindet den Werdegang des Künstlers mit einer Darstellung der spezifischen Bildgattungen, die Botticelli eigenständig entfaltet. Neun Kapitel behandeln das Frühwerk, die ersten Erfolge im Florenz der Medici, den Porträtisten, den Schöpfer der "Primavera" und ihres Widerparts "Minerva und der Kentaur", dann den Wandmaler in der Sixtinischen Kapelle in Rom, den Erzähler grausamer Moritaten, schließlich den ingeniösen Erfinder der späteren Mythologien, den Maler großformatiger und raummächtiger Altarbilder und das unruhige, zum Teil aufgewühlte Alterswerk. Der zweite, wissenschaftliche Teil der Monographie entwirft und diskutiert ein Werkverzeichnis nach neuestem Erkenntnisstand. Es führt nur noch 89 eigenhändige Werke und neun "aktuelle strittige Zuschreibungen" auf.
Botticelli (1445 bis 1510) war in den siebziger Jahren des Quattrocento zum Starporträtisten der Medici aufgestiegen. In der "Anbetung der Könige" der Uffizien (um 1475), der Auftragsarbeit eines Medici-Lobbyisten, verschlüsselt er die Bildnisse von fünf Familienmitgliedern und verknüpft dabei Lebende und Tote zum Generationenbild. Zöllner arbeitet pointierter als ältere Autoren die überragende Rolle des Porträtmalers heraus, der in seiner Epoche zu den Produktivsten und Besten seines Fachs gehörte und die Florentiner Konkurrenz schnell überflügelte. Botticelli bediente die mediceische Bildnispolitik, woraus sich die Wiederholung und Serienproduktion gewisser Porträttypen über den Tod der Porträtierten hinaus - vor allem Guilianos de Medici und der schönen Simonetta Vespucci - erklärt.
Sorgfältig werden die Textquellen ausgewertet, aus denen sich die synkretistische Ikonographie von Botticellis heilsgeschichtlichen wie mythologischen Bildern speist. Kein anderer Maler hatte zuvor profane, vor allem antike Sujets und literarische Stoffe in so monumentalem Stil umgesetzt. Die "heidnischen" Bilder sind das Produkt des humanistischen Geistesklimas in Florenz. Sie verdanken sich der hier auch im häuslichen Ambiente beliebten Wand- und Paneelen-Malerei, den Bildaufträgen für das Studiolo der Humanisten, für den Dekor von Möbeln und Truhen und überhaupt der städtischen Festkultur in Florenz. Der statuarische Figurenstil, den Botticelli im neuen Geist entwickelt, kommt auch den geselligen Ensembles der Altäre, dem erhabenen Diskursstil der "Sacra conversazione"-Szenarien zugute.
Zöllner quält seine Leser zum Glück nicht allzu exzessiv mit der intellektuellen Akrobatik der Neuplatoniker und den ikonographischen Spitzfindigkeiten der Humanisten. Allzuviel Tiefsinn und Gelehrsamkeit dienen nicht der Erschließung, eher einer Versperrung der Bilder: Die klar gebauten, groß gedachten, fast aufklärerischen Kompositionen verwandeln sich in tüftelige Rätselbilder. Zu welch elementarer, ja dämonischer Ausdruckskraft der Erzähler Botticelli fähig ist, bezeugt der vierteilige "Nastagio"-Zyklus nach Geschichten aus Boccaccios "Decamerone", dem Zöllner ein eigenes Kapitel widmet. Die vier Streifenbilder statuieren ein Ehe-Exempel: Nastagio wird von seiner Angebeteten, einer jungen Dame aus Ravenna, verschmäht und zieht sich zur Bewältigung seiner Depression in einen Wald zurück. Hier wird er Zeuge der Hetzjagd eines Ritters auf eine nackte junge Frau, die sich jeden Freitag wiederholt und mit dem Tod der Verfolgten endet: Der Ritter weidet den Körper des Opfers aus und wirft Herz und Leber seinen Hunden zum Fraß hin. Dem grausamen Schauspiel liegt, in genauer Spiegelung des Rahmengeschehens, eine Liebes- und Eheverweigerung zugrunde, die mit der mörderischen Jagd bestraft wird. Der liebeskranke Eremit lädt daraufhin die Familie der vergeblich Geliebten zum Abschiedsmahl in den Wald. In einer surrealen Schockszene wird nun auch die Tafelgesellschaft Zeuge der freitäglichen Verfolgungsjagd, welche die spröde junge Dame so erschreckt, daß sie schleunigst in die Ehe einwilligt. Botticellis doppelbödige Darstellung verschränkt und verspiegelt zwei Handlungsabläufe und schwankt zwischen Fiktion und Wirklichkeit, Märchenton und Albtraum.
Besonders spannend sind der Ausdruckswechsel und die Turbulenz in den Werken der neunziger Jahre. Die so gelassenen und erhabenen Bilder scheinen plötzlich leidenschaftlich aufgeputscht, die Darstellungen wirken ruhelos und getrieben. Schon Vasari, der Künstlerbiograph, beklagte im Rückblick, daß Botticelli dem radikalen Reformmönch, Fundamentalisten, Bußprediger und Bilderstürmer Savonarola verfallen und zum "Klagebruder" geworden sei. Der fanatische Dominikaner wiegelte die Bürger von Florenz gegen die Medici-Herrschaft auf, prangerte den Luxus an und bekämpfte eine verweltlichte, heidnisch-hedonistische Kunst, speziell auch jene Frauenporträts und Aktbilder, die Botticelli zu so großartiger Entfaltung gebracht hatte. Savonarola veranstaltete 1498, kurz bevor er selber auf dem Scheiterhaufen endete, Bücher- und Bilderverbrennungen. Botticelli war nicht unbeeindruckt, er geht offenbar in sich und wendet sich vom höfischen Schönheitskult und den weltlichen Umtrieben ab. Seine Nachdenklichkeit und Bußfertigkeit schlagen sich in der Spiritualität und expressiven Aufladung seiner späten Bilder nieder, die sich am schönsten in der Erschütterung zweier "Beweinungen" (heute in München und Mailand), in einer "Mystischen Kreuzigung" und einer "Mystischen Geburt Christi" manifestieren. Stilistisch wollte man hier teils spätgotische Reminiszenzen, teils frühmanieristische Artikulationen sehen. Doch in der Florentiner Kunst waren solche seelischen Ekstasen längst vorbereitet, wenn man an den erzählerischen Furor der späten Reliefs Donatellos denkt. Der Bildhauer hatte bereits die Kunst Oberitaliens, zumal Ferraras, durch seine Arbeit in Padua in Unruhe versetzt.
Zu den eindringlichsten Partien des Buches gehören die Analysen von Bildern, die sich in die Zeitgeschichte einmischen, die so zum Beispiel den apokalyptischen Ängsten der Zeit um 1500 ein Weihnachts-, Friedens- und Versöhnungsbild entgegensetzen und damit die Dämonen vertreiben. Die "Verleumdung des Apelles" ist ein Gemälde auch in eigener Sache: Botticelli verteidigt das Recht des Kunstpraktikers gegen die hegemonialen Ansprüche der Kunsttheorie.
Rätselhaft bleibt, warum Botticellis Produktion in seinem letzten Lebensjahrzehnt verebbt. Vasari schreibt sie dem "grübelnden Verstand" des Malers zu, der den Lehren Savonarolas verfiel. Überdies habe ihn die zehrende Arbeit an der Illuminierung von Dantes "Göttlicher Komödie" am Malen gehindert und "große Unordnung" in sein Leben gebracht. Zöllner sieht das heute anders: Botticelli habe sein Werk getan und seine Produktion zuletzt einer gut trainierten Werkstatt überlassen können.
EDUARD BEAUCAMP
Frank Zöllner: "Botticelli". Prestel Verlag, München 2005. 320 S., 240 zum Teil ganzseitige Farb-Abb., geb., in Kassette, 148,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Frank Zöllners Monographie über den Maler Sandro Botticelli
Um die makellose Schönheit seiner Werke zu feiern, fehlt uns heute die Sprache, vielleicht auch das Sensorium. Weit haben wir uns vom Botticelli-Kult des neunzehnten Jahrhunderts entfernt, zumal von den Delirien der englischen Präraffaeliten, für die der Florentiner Maler eine Ausstiegsdroge war, die aus einer häßlichen Moderne entführte. Die Nachfolge wurde aufgegeben, die Suggestion schwächte sich damit ab. Dennoch blieben seine Bilder Magnete, wie man in den Botticelli-Sälen der Londoner oder Berliner Gemäldegalerie beobachten kann. Weltweit nahm das Publikum zuletzt teil an der Restaurierung und strahlenden Wiedergeburt seiner berühmten Tafeln in den Uffizien, der "Primavera", der "Ankunft der Venus" und der großen Altarbilder. Die Befreiung dieses einzigartigen Florentiner Bestandes (fünfzehn Werke) von den grauen Schleiern und Verfärbungen hat ein Vierteljahrhundert gedauert und den Bildern die frühlingshafte Klarheit, Pracht und Leuchtkraft zurückgegeben.
Der verjüngte Botticelli verlangt nach einer neuen Vergegenwärtigung, nach Interpretation und Debatte. Manche Bilder stellen sich nach Entfernung der Schmutzschichten völlig anders dar als zuvor. Der Kolorist muß neu gewürdigt, Zuschreibungen oder Abschreibungen, Fragen nach Eigenhändigkeit oder Werkstatt-Routine müssen neu erörtert werden. Eine langerwartete Monographie hat nun der Leipziger Kunsthistoriker Frank Zöllner vorgelegt. Sie kommt im Monumentalformat daher. Zur Lektüre bedarf es eines großen Tischs oder, besser noch, eines Lesepults wie für Meßbücher. Beim Durchblättern des Folianten wirkt aber sogleich wieder die alte Schönheitsdroge, auch wenn nicht alle Vorlagen und Reproduktionen höchsten Ansprüchen genügen.
Zöllner wendet sich an den passionierten Liebhaber sowie an den Kenner und Gelehrten und gliedert sein Buch in zwei Teile. Der erste Teil, der ohne Anmerkungen auskommt und sie im Anhang kursorisch nachträgt, verbindet den Werdegang des Künstlers mit einer Darstellung der spezifischen Bildgattungen, die Botticelli eigenständig entfaltet. Neun Kapitel behandeln das Frühwerk, die ersten Erfolge im Florenz der Medici, den Porträtisten, den Schöpfer der "Primavera" und ihres Widerparts "Minerva und der Kentaur", dann den Wandmaler in der Sixtinischen Kapelle in Rom, den Erzähler grausamer Moritaten, schließlich den ingeniösen Erfinder der späteren Mythologien, den Maler großformatiger und raummächtiger Altarbilder und das unruhige, zum Teil aufgewühlte Alterswerk. Der zweite, wissenschaftliche Teil der Monographie entwirft und diskutiert ein Werkverzeichnis nach neuestem Erkenntnisstand. Es führt nur noch 89 eigenhändige Werke und neun "aktuelle strittige Zuschreibungen" auf.
Botticelli (1445 bis 1510) war in den siebziger Jahren des Quattrocento zum Starporträtisten der Medici aufgestiegen. In der "Anbetung der Könige" der Uffizien (um 1475), der Auftragsarbeit eines Medici-Lobbyisten, verschlüsselt er die Bildnisse von fünf Familienmitgliedern und verknüpft dabei Lebende und Tote zum Generationenbild. Zöllner arbeitet pointierter als ältere Autoren die überragende Rolle des Porträtmalers heraus, der in seiner Epoche zu den Produktivsten und Besten seines Fachs gehörte und die Florentiner Konkurrenz schnell überflügelte. Botticelli bediente die mediceische Bildnispolitik, woraus sich die Wiederholung und Serienproduktion gewisser Porträttypen über den Tod der Porträtierten hinaus - vor allem Guilianos de Medici und der schönen Simonetta Vespucci - erklärt.
Sorgfältig werden die Textquellen ausgewertet, aus denen sich die synkretistische Ikonographie von Botticellis heilsgeschichtlichen wie mythologischen Bildern speist. Kein anderer Maler hatte zuvor profane, vor allem antike Sujets und literarische Stoffe in so monumentalem Stil umgesetzt. Die "heidnischen" Bilder sind das Produkt des humanistischen Geistesklimas in Florenz. Sie verdanken sich der hier auch im häuslichen Ambiente beliebten Wand- und Paneelen-Malerei, den Bildaufträgen für das Studiolo der Humanisten, für den Dekor von Möbeln und Truhen und überhaupt der städtischen Festkultur in Florenz. Der statuarische Figurenstil, den Botticelli im neuen Geist entwickelt, kommt auch den geselligen Ensembles der Altäre, dem erhabenen Diskursstil der "Sacra conversazione"-Szenarien zugute.
Zöllner quält seine Leser zum Glück nicht allzu exzessiv mit der intellektuellen Akrobatik der Neuplatoniker und den ikonographischen Spitzfindigkeiten der Humanisten. Allzuviel Tiefsinn und Gelehrsamkeit dienen nicht der Erschließung, eher einer Versperrung der Bilder: Die klar gebauten, groß gedachten, fast aufklärerischen Kompositionen verwandeln sich in tüftelige Rätselbilder. Zu welch elementarer, ja dämonischer Ausdruckskraft der Erzähler Botticelli fähig ist, bezeugt der vierteilige "Nastagio"-Zyklus nach Geschichten aus Boccaccios "Decamerone", dem Zöllner ein eigenes Kapitel widmet. Die vier Streifenbilder statuieren ein Ehe-Exempel: Nastagio wird von seiner Angebeteten, einer jungen Dame aus Ravenna, verschmäht und zieht sich zur Bewältigung seiner Depression in einen Wald zurück. Hier wird er Zeuge der Hetzjagd eines Ritters auf eine nackte junge Frau, die sich jeden Freitag wiederholt und mit dem Tod der Verfolgten endet: Der Ritter weidet den Körper des Opfers aus und wirft Herz und Leber seinen Hunden zum Fraß hin. Dem grausamen Schauspiel liegt, in genauer Spiegelung des Rahmengeschehens, eine Liebes- und Eheverweigerung zugrunde, die mit der mörderischen Jagd bestraft wird. Der liebeskranke Eremit lädt daraufhin die Familie der vergeblich Geliebten zum Abschiedsmahl in den Wald. In einer surrealen Schockszene wird nun auch die Tafelgesellschaft Zeuge der freitäglichen Verfolgungsjagd, welche die spröde junge Dame so erschreckt, daß sie schleunigst in die Ehe einwilligt. Botticellis doppelbödige Darstellung verschränkt und verspiegelt zwei Handlungsabläufe und schwankt zwischen Fiktion und Wirklichkeit, Märchenton und Albtraum.
Besonders spannend sind der Ausdruckswechsel und die Turbulenz in den Werken der neunziger Jahre. Die so gelassenen und erhabenen Bilder scheinen plötzlich leidenschaftlich aufgeputscht, die Darstellungen wirken ruhelos und getrieben. Schon Vasari, der Künstlerbiograph, beklagte im Rückblick, daß Botticelli dem radikalen Reformmönch, Fundamentalisten, Bußprediger und Bilderstürmer Savonarola verfallen und zum "Klagebruder" geworden sei. Der fanatische Dominikaner wiegelte die Bürger von Florenz gegen die Medici-Herrschaft auf, prangerte den Luxus an und bekämpfte eine verweltlichte, heidnisch-hedonistische Kunst, speziell auch jene Frauenporträts und Aktbilder, die Botticelli zu so großartiger Entfaltung gebracht hatte. Savonarola veranstaltete 1498, kurz bevor er selber auf dem Scheiterhaufen endete, Bücher- und Bilderverbrennungen. Botticelli war nicht unbeeindruckt, er geht offenbar in sich und wendet sich vom höfischen Schönheitskult und den weltlichen Umtrieben ab. Seine Nachdenklichkeit und Bußfertigkeit schlagen sich in der Spiritualität und expressiven Aufladung seiner späten Bilder nieder, die sich am schönsten in der Erschütterung zweier "Beweinungen" (heute in München und Mailand), in einer "Mystischen Kreuzigung" und einer "Mystischen Geburt Christi" manifestieren. Stilistisch wollte man hier teils spätgotische Reminiszenzen, teils frühmanieristische Artikulationen sehen. Doch in der Florentiner Kunst waren solche seelischen Ekstasen längst vorbereitet, wenn man an den erzählerischen Furor der späten Reliefs Donatellos denkt. Der Bildhauer hatte bereits die Kunst Oberitaliens, zumal Ferraras, durch seine Arbeit in Padua in Unruhe versetzt.
Zu den eindringlichsten Partien des Buches gehören die Analysen von Bildern, die sich in die Zeitgeschichte einmischen, die so zum Beispiel den apokalyptischen Ängsten der Zeit um 1500 ein Weihnachts-, Friedens- und Versöhnungsbild entgegensetzen und damit die Dämonen vertreiben. Die "Verleumdung des Apelles" ist ein Gemälde auch in eigener Sache: Botticelli verteidigt das Recht des Kunstpraktikers gegen die hegemonialen Ansprüche der Kunsttheorie.
Rätselhaft bleibt, warum Botticellis Produktion in seinem letzten Lebensjahrzehnt verebbt. Vasari schreibt sie dem "grübelnden Verstand" des Malers zu, der den Lehren Savonarolas verfiel. Überdies habe ihn die zehrende Arbeit an der Illuminierung von Dantes "Göttlicher Komödie" am Malen gehindert und "große Unordnung" in sein Leben gebracht. Zöllner sieht das heute anders: Botticelli habe sein Werk getan und seine Produktion zuletzt einer gut trainierten Werkstatt überlassen können.
EDUARD BEAUCAMP
Frank Zöllner: "Botticelli". Prestel Verlag, München 2005. 320 S., 240 zum Teil ganzseitige Farb-Abb., geb., in Kassette, 148,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Ein Vierteljahrhundert hat die Restaurierung der Florentiner Botticelli-Bilder in Anspruch genommen, und die Entfernung der Schmutzschichten hat den Gemälden eine solch neue, alte "Klarheit, Pracht und Leuchtkraft" zurückgeben, schreibt Edouard Beaukamp, dass sie tatsächlich neu betrachtet werden müssen. In seiner monumentalen Monografie hat Frank Zöllner dies getan, und der Rezensent ist beeindruckt. Zöllners Arbeit ist für passionierte Liebhaber wie Kenner und Gelehrte angelegt. Im ersten Teil zeichnet sie sie Botticellis Werdegang nach, von seinem Frühwerk, seinen Porträts und Wandmalereien in der Sixtinischen Kapelle über die Moritaten und Monumentalgemälde bis zu seinem unruhigen Alterswerk. Der zweite Teil ist der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Werk nach neuen Erkenntnissen gewidmet. Wohlwollend bemerkt Beaucamp, dass Zöllner auf "intellektuelle Akrobatik" verzichte, denn "allzu viel Tiefsinn" versperre eher den Blick auf die Bilder, als ihn zu erschließen. "Die klar gebauten, groß gedachten, fast aufklärerischen Kompositionen verwandeln sich in tüftelige Rätselbilder." Sanfte Kritik übt Beaucamp an den Reproduktionen, die nicht immer "höchsten Ansprüchen" genüge. Trotzdem, versichert er, wirke die "Schönheitsdroge" Botticelli sofort.
© Perlentaucher Medien GmbH
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