Der Restaurant-Chef, der seinen Stammgästen ab und zu als Spezialität des Hauses einen der Ihren serviert; der kleine Angestellte, der für seinen mächtigen Chef einen Quälgeist aus dem Hochhausfenster fallen lässt; der schizophrene Schachspieler, der die Züge der weißen Figuren ebenso dem anderen überlässt wie den Mord an seiner Frau: scheinbar harmlose Mitbürger allesamt, deren verborgene Abgründe der amerikanische Kriminalschriftsteller Stanley Ellin in zehn Geschichten vorsichtig und fast liebevoll beleuchtet.
Eigentlich mochte Arno Schmidt das Krimi-Genre nicht besonders, aber als ihm 1960 ein Band mit Kurzgeschichten Stanley Ellins zur Übersetzung angeboten wurde, zögerte er nicht - und urteilte ein Jahr später in seinem Essay Die 10 Kammern des Blaubart über den amerikanischen Kollegen: »Falls es ihm gelingen sollte, (und in diesen 10 Geschichten zeigen sich unverächtliche Ansätze), zum Tiefsinn seiner Fabeln und der schlechthin vorbildlich knappen Konstruktion sich auchnoch eine dichterische Sprache zu erarbeiten - ja, dann könnte es sein, daß wir binnen kurzem einen neuen, wiederum amerikanischen, Poe begrüßen dürfen. Zeit wäre es.«
Eigentlich mochte Arno Schmidt das Krimi-Genre nicht besonders, aber als ihm 1960 ein Band mit Kurzgeschichten Stanley Ellins zur Übersetzung angeboten wurde, zögerte er nicht - und urteilte ein Jahr später in seinem Essay Die 10 Kammern des Blaubart über den amerikanischen Kollegen: »Falls es ihm gelingen sollte, (und in diesen 10 Geschichten zeigen sich unverächtliche Ansätze), zum Tiefsinn seiner Fabeln und der schlechthin vorbildlich knappen Konstruktion sich auchnoch eine dichterische Sprache zu erarbeiten - ja, dann könnte es sein, daß wir binnen kurzem einen neuen, wiederum amerikanischen, Poe begrüßen dürfen. Zeit wäre es.«
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.04.2019Leis=sausend
Stanley Ellins ruchlose Geschichten
Wahrscheinlich hätte Arno Schmidt schon aus Prinzip der Behauptung nicht zugestimmt, dass ein Übersetzer eng mit dem Forensiker verwandt ist. Aber wenn man das Lesen als Spurensuche versteht, wäre das Übersetzen eine Ermittlung im Fall des Ursprungstextes.
Im Herbst 1960, Schmidt ermittelte gerade in den frühen journalistischen Texten William Faulkners, erreichte ihn die Anfrage, ob er Kurzgeschichten des amerikanischen Autors Stanley Ellin übersetzen wolle, was Schmidt wahrscheinlich, wie viele andere Anfragen auch, reflexhaft abgelehnt hätte, wäre da nicht das großzügige Honorar von 2000 D-Mark gewesen und außerdem die Behauptung von Seiten des Verlags, Stanley Ellin sei der neue Edgar Allan Poe.
Schmidt sagte zu, notierte aber wenige Tage später: „Also steht die nächste Übersetzung bereits fest – oh leck!“ Auch die Poe-Vergleiche entkräftete er in seinem Tagebuch sofort – „primitiv – kein Vergleich mit ‚Poe‘“ –, revidierte dieses Urteil aber wenige Monate später in einem Brief an Wilhelm Michels und in einer Rezension über den von ihm selbst übersetzten Band in der Anderen Zeitung.
Die Anekdoten um diesen nun neu in der ursprünglichen Arno-Schmidt-Fassung – mit Semikolons als Sprechpausen, „leis=sausenden Gasflammen“ und „Symfonien“ – editierten Band kann man so schön nachvollziehen, weil der Herausgeber Bernd Rauschenbach im Anhang alle Korrespondenzen und „schmidtschen Färbungen“ zusammengetragen hat. Der sonstige Einfluss Ellins auf das Werk Schmidts war überschaubar, wie die von der Arno-Schmidt-Stiftung im Januar online zur Verfügung gestellte, komplett durchsuchbare Fassung der Gesamtausgabe verrät: In „Der Sonn’ entgegen“ und in dem Dialog „Der Titel aller Titel!“ wird er erwähnt.
Dass Schmidt nach der Übersetzung wohl genug von Stanley Ellin hatte, soll aber nichts heißen. Die Neuedition ist nicht nur eine Kuriosität für Arno-Schmidt-Fans, sondern auch eine Wiederentdeckung des in Deutschland halb vergessenen Ellin. Dem tut man mit den Poe-Vergleichen zwar wirklich keinen Gefallen, dennoch sind seine mit außergewöhnlicher erzählerischer Ökonomie sowie nüchterner Kenntnis der Psyche seiner Figuren und Leser konstruierten Geschichten eine kleine Besonderheit.
„Die Spezialität des Hauses“ über ein Restaurant, in dem es unfassbar gutes Fleisch gibt und in dem ein Stammgast nach dem anderen verschwindet, spielt mit den Deutungen der Leser, ohne konkret zu werden, was das Geheimnis der stets verschlossenen Küche ist. Schmidt las die Story in seiner Rezension nicht als Schauergeschichte, sondern als existenzialistische Allegorie. „Hochleistungswerkzeuge GmbH“ ist eine Kafka-Vergleiche provozierende Studie des autoritären Charakters in der modernen Arbeitswelt; in der eiskalt konstruierten Geschichte „Die geordnete Welt des Mr. Appleby“ wird ein Heiratsschwindler mit den eigenen Methoden überführt.
Meist geht es in den Kurzgeschichten um tiefe Konflikte zwischen Mann und Frau, Chef und Angestelltem, Armen und Reichen oder zwischen verschiedenen Lebensentwürfen, die in fiesen kleinen Szenen und mit einfachsten Mitteln zu großer Klarheit kristallisieren. „Ich schätze den ‚Kriminalroman‘ als solchen nicht“, grummelte Arno Schmidt in seiner Rezension. In diesem Fall sprechen die Indizien gegen ihn.
NICOLAS FREUND
Stanley Ellin: Sanfter Schrecken. 10 ruchlose Geschichten. Deutsch von Arno Schmidt. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 304 Seiten, 22 Euro.
Zwischen Mann und Frau,
Chef und Angestelltem spielen
sich fiese kleine Szenen ab
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Stanley Ellins ruchlose Geschichten
Wahrscheinlich hätte Arno Schmidt schon aus Prinzip der Behauptung nicht zugestimmt, dass ein Übersetzer eng mit dem Forensiker verwandt ist. Aber wenn man das Lesen als Spurensuche versteht, wäre das Übersetzen eine Ermittlung im Fall des Ursprungstextes.
Im Herbst 1960, Schmidt ermittelte gerade in den frühen journalistischen Texten William Faulkners, erreichte ihn die Anfrage, ob er Kurzgeschichten des amerikanischen Autors Stanley Ellin übersetzen wolle, was Schmidt wahrscheinlich, wie viele andere Anfragen auch, reflexhaft abgelehnt hätte, wäre da nicht das großzügige Honorar von 2000 D-Mark gewesen und außerdem die Behauptung von Seiten des Verlags, Stanley Ellin sei der neue Edgar Allan Poe.
Schmidt sagte zu, notierte aber wenige Tage später: „Also steht die nächste Übersetzung bereits fest – oh leck!“ Auch die Poe-Vergleiche entkräftete er in seinem Tagebuch sofort – „primitiv – kein Vergleich mit ‚Poe‘“ –, revidierte dieses Urteil aber wenige Monate später in einem Brief an Wilhelm Michels und in einer Rezension über den von ihm selbst übersetzten Band in der Anderen Zeitung.
Die Anekdoten um diesen nun neu in der ursprünglichen Arno-Schmidt-Fassung – mit Semikolons als Sprechpausen, „leis=sausenden Gasflammen“ und „Symfonien“ – editierten Band kann man so schön nachvollziehen, weil der Herausgeber Bernd Rauschenbach im Anhang alle Korrespondenzen und „schmidtschen Färbungen“ zusammengetragen hat. Der sonstige Einfluss Ellins auf das Werk Schmidts war überschaubar, wie die von der Arno-Schmidt-Stiftung im Januar online zur Verfügung gestellte, komplett durchsuchbare Fassung der Gesamtausgabe verrät: In „Der Sonn’ entgegen“ und in dem Dialog „Der Titel aller Titel!“ wird er erwähnt.
Dass Schmidt nach der Übersetzung wohl genug von Stanley Ellin hatte, soll aber nichts heißen. Die Neuedition ist nicht nur eine Kuriosität für Arno-Schmidt-Fans, sondern auch eine Wiederentdeckung des in Deutschland halb vergessenen Ellin. Dem tut man mit den Poe-Vergleichen zwar wirklich keinen Gefallen, dennoch sind seine mit außergewöhnlicher erzählerischer Ökonomie sowie nüchterner Kenntnis der Psyche seiner Figuren und Leser konstruierten Geschichten eine kleine Besonderheit.
„Die Spezialität des Hauses“ über ein Restaurant, in dem es unfassbar gutes Fleisch gibt und in dem ein Stammgast nach dem anderen verschwindet, spielt mit den Deutungen der Leser, ohne konkret zu werden, was das Geheimnis der stets verschlossenen Küche ist. Schmidt las die Story in seiner Rezension nicht als Schauergeschichte, sondern als existenzialistische Allegorie. „Hochleistungswerkzeuge GmbH“ ist eine Kafka-Vergleiche provozierende Studie des autoritären Charakters in der modernen Arbeitswelt; in der eiskalt konstruierten Geschichte „Die geordnete Welt des Mr. Appleby“ wird ein Heiratsschwindler mit den eigenen Methoden überführt.
Meist geht es in den Kurzgeschichten um tiefe Konflikte zwischen Mann und Frau, Chef und Angestelltem, Armen und Reichen oder zwischen verschiedenen Lebensentwürfen, die in fiesen kleinen Szenen und mit einfachsten Mitteln zu großer Klarheit kristallisieren. „Ich schätze den ‚Kriminalroman‘ als solchen nicht“, grummelte Arno Schmidt in seiner Rezension. In diesem Fall sprechen die Indizien gegen ihn.
NICOLAS FREUND
Stanley Ellin: Sanfter Schrecken. 10 ruchlose Geschichten. Deutsch von Arno Schmidt. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 304 Seiten, 22 Euro.
Zwischen Mann und Frau,
Chef und Angestelltem spielen
sich fiese kleine Szenen ab
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.12.2019Normale Unmenschen
Weshalb ist der Schrecken sanft, oder der Horror still, wie es im Originaltitel der Sammlung von Stanley Ellins Geschichten hieß? Weil in ihnen das Verbrechen von normalen Unmenschen begangen wird, die um jeden Preis die Ordnung aufrechterhalten wollen, in der sie sich aufgefangen sehen. Der Büroangestellte, der durch einen Mord seinen sinnlosen Arbeitsplatz verteidigt. Der Antiquitätenhändler, der sich davor ängstigt, Stücke abzugeben, weswegen er zur Aufrechterhaltung seiner Nichtgeschäftstätigkeit einem Lehrbuch der Gerichtsmedizin Anregungen entnimmt, seine Ehefrauen zu beerben. Das alte Geschwisterpaar, das im Hass aufeinander und durch eine ungesühnte Tat vereint ist. Der Restaurantbesitzer, der seine Gäste buchstäblich mit Leibgerichten mästet. Und so weiter. Stanley Ellin, der von 1916 bis 1986 in Brooklyn lebte, erforscht in seinen grausamen Miniaturen die Versuchung durch das Böse mit unglaublicher Genauigkeit. Arno Schmidt, der den großen Stilisten glänzend übersetzt hat, fühlte sich durch sie an Edgar Allan Poe erinnert, wir an Julien Green. So oder so: Sie gehören zum Besten, das die Gattung Kurzgeschichte hervorgebracht hat.
kau.
Stanley Ellin: "Sanfter Schrecken". Zehn ruchlose Geschichten.
Aus dem Englischen von Arno Schmidt.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 304. S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Weshalb ist der Schrecken sanft, oder der Horror still, wie es im Originaltitel der Sammlung von Stanley Ellins Geschichten hieß? Weil in ihnen das Verbrechen von normalen Unmenschen begangen wird, die um jeden Preis die Ordnung aufrechterhalten wollen, in der sie sich aufgefangen sehen. Der Büroangestellte, der durch einen Mord seinen sinnlosen Arbeitsplatz verteidigt. Der Antiquitätenhändler, der sich davor ängstigt, Stücke abzugeben, weswegen er zur Aufrechterhaltung seiner Nichtgeschäftstätigkeit einem Lehrbuch der Gerichtsmedizin Anregungen entnimmt, seine Ehefrauen zu beerben. Das alte Geschwisterpaar, das im Hass aufeinander und durch eine ungesühnte Tat vereint ist. Der Restaurantbesitzer, der seine Gäste buchstäblich mit Leibgerichten mästet. Und so weiter. Stanley Ellin, der von 1916 bis 1986 in Brooklyn lebte, erforscht in seinen grausamen Miniaturen die Versuchung durch das Böse mit unglaublicher Genauigkeit. Arno Schmidt, der den großen Stilisten glänzend übersetzt hat, fühlte sich durch sie an Edgar Allan Poe erinnert, wir an Julien Green. So oder so: Sie gehören zum Besten, das die Gattung Kurzgeschichte hervorgebracht hat.
kau.
Stanley Ellin: "Sanfter Schrecken". Zehn ruchlose Geschichten.
Aus dem Englischen von Arno Schmidt.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 304. S., geb., 22,- [Euro].
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»Sie gehören zum Besten, das die Gattung Kurzgeschichte hervorgebracht hat.« Frankfurter Allgemeine Zeitung 20191202