Vor zehn Jahren: drei Menschen am Wasserturmplatz. Lynn ist Praktikantin in einem Architekturbüro und lernt das, was sie in ihrer Studie zu Sanierungsgebieten in Berlin erarbeitet hat, am eigenen Leibe kennen. Donata hingegen ist alleinerziehende Mutter und Redakteurin einer Gewerkschaftszeitung, sie muss sich durchbeißen - und aufsteigen. Ihr Ex-Freund, der Schriftsteller Otti, will dagegen an die Traditionen der Poeten des Prenzlauer Bergs anknüpfen und arbeitet an widerständigen Zeitschriftenprojekten. Stone wiederum hat sich von allen abgewandt, er will den Niedergang seines Kiezes nicht miterleben und zieht nach Neukölln - doch auch da holt ihn die Umwälzung der Stadtlandschaft ein. Enno Stahl zeigt in seinem großen Roman "Sanierungsgebiete", wie die Gentrifizierung den Menschen zunehmend die Partizipation am urbanen Leben versagt. Und wie sie die Kieze selbst verändert, wenn nicht verödet. Dies tut er als Erzähler, doch in die Geschichten seiner Figuren bettet er immer wieder historische Exkurse, Statistiken und Interviews mit realen Menschen ein, die die Umwandlung ihrer Straßen erleben mussten. So komponiert er ein mitreißendes vielstimmiges Konzert, das schließlich der Stadt selbst eine Stimme verleiht.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.12.2019Wir Zombies von Prenzlauer Berg
Sozial-realistischer Roman: Enno Stahl untersucht die bauliche Sanierung Ostberlins nach 1989
"Zum Wohnungsmakler müsst ihr ein positives, warmherziges und liebevolles Verhältnis gewinnen, ein Verhältnis wie zu barem Geld, sage ich euch." In seiner "Rede an die Sperlinge vom Prenzlauer Berg" warnte 1991 der bereits Jahre zuvor in den Westen umgesiedelte sächsische Autor Bernd Wagner seine ostdeutschen Landsleute vor den Tücken der liberalen Marktwirtschaft. Zwei Jahre darauf wurden 32 000 marode Wohneinheiten des Pankower Ortsteils zum größten Sanierungsgebiet Europas erklärt.
Ein weiteres Jahrzehnt später lebte noch ein knappes Fünftel der ursprünglichen Einwohner in dem Viertel, das gerade im Westen der Republik als Hotspot des neuen Berlins galt. In seinem Roman "Sanierungsgebiete" geht der Autor und Journalist Enno Stahl nun zumindest den sozialstrukturellen Folgen des Verkaufs landeseigener Immobilien und deren Sanierung durch Privateigentümer nach.
Das, was unter den Schlagworten Gentrifizierung und Verdrängung längst zum politischen Allgemeingut geworden ist, exemplifiziert Stahl literarisch am Beispiel eines Straßenzugs und seiner Bewohner im Jahr 2009. Die ehemalige Waldorfschülerin Lynn ist zum Architektur-Studium aus Düsseldorf nach Prenzlauer Berg gezogen und hat sich von ihrer Mutter, einer gutverdienenden Anwältin, eine hübsch sanierte Altbauwohnung kaufen lassen. Ein paar Häuser weiter brütet der Philologe "Otti" in seinem Refugium mit DDR-Mietvertrag über einem Manuskript zur "Kriegsbohème" und dem literarisch-sozialistischen Widerstand im ausgehenden Kaiserreich. Otti wehrt sich als Mitglied der "Autonomen Zelle gegen Spekulation und Luxussanierung" hartnäckig gegen die perfiden Entmietungsstrategien des neuen bayerischen Hauseigentümers und zugleich gegen die angedrohte Mittelkürzung des Jobcenters. Seine frühere Geliebte, Donata, einst ostdeutsche Leistungsschwimmerin und Punk-Rebellin, hat sich derweil mit einiger Unerschrockenheit in der Marktwirtschaft eingerichtet und reüssiert als Chefredakteurin einer Parteizeitung namens "Voran!". Ein dritter Protagonist namens Stone, zu DDR-Zeiten Hooligan, Boxer und Bautzen-Insasse, ist vor der Invasion der "Großwesire und Mandarine aus Besserverdienenden-Land" vom Prenzlauer Berg nach Neukölln geflüchtet: "Ick hier inne Zivilesation und du da oben bei de Zombies."
Wem dieses literarische Setting eine Spur zu plakativ erscheint, der schlage in Enno Stahls poetologischem Programm des "sozial-realistischen Romans" nach. In der seit rund zwei Jahrhunderten laufenden Debatte darüber, wie sehr Literatur der Wirklichkeit des Lebens verpflichtet sei, wie viel "Welthaltigkeit" man ihr abfordern und inwiefern sie sich gar politisch positionieren müsse, gehört Enno Stahl zu denen, die den zeitgenössischen Literaten einmal mehr vorwerfen, sie litten an "Erfahrungsarmut" und hätten nichts zu erzählen. Nach der "Wahrhaftigkeit romanhafter Darstellung" sucht der Autor deshalb im "sozial-realistischen Roman", der sich als zeitgenössische Auflage des Naturalismus von Émile Zola versteht.
Als "Haltung" liegt Stahls Poetologie eine "Attacke gegen den elaborierten Mainstream" zugrunde, wie es in einem in Kürze erscheinenden Essayband des Autors heißt. "Die Probleme, die die Menschen in diesen Büchern haben, sind Scheinprobleme oder Kitsch, die eigentliche, die ökonomische Frage, wird nicht gestellt." Kritikern seiner Romantheorie, in der übrigens auch "Fake News im Dienste des Richtigen" ausdrücklich erlaubt sind, bescheinigt Stahl kurzerhand eine "psychopolitische Gehirnwäsche".
Ungeachtet solcher anmaßenden Polemik des Essayisten, entfaltet sein literarisches Konzept im Roman "Sanierungsgebiete" durchaus eine dokudramatische Wirkung. Wie in einem Bestiarium nimmt Stahl Vertreter verschiedener Milieus unter die Lupe, beschreibt nicht nur ihr Wohnumfeld, sondern erklärt zugleich detailliert Hintergründe ihrer sozialen und finanziellen Lebenssituation. Zur Beglaubigung seiner literarischen Wirklichkeitsanordnung werden zahlreiche Realreferenzen ins Feld geführt. Die Straßenzüge, in denen die Renitenten des Bevölkerungsaustauschs im Ortsteil Prenzlauer Berg unterwegs sind, die Kneipen, in denen Lynn sich beim Cocktail vom Studium erholt, der Kleinverlag, der Ottis Untergrund-Zeitschrift "Der Weg nach unten" publiziert, die Restaurants, in denen die Journalistin Donata an ihrem Aufstieg feilt, und auch die antikapitalistische Kampfgruppe, die Brandanschläge gegen die schicken Neubauten "des Systems" verübt, entlehnt Stahl der Realität.
Zu Beginn des knapp sechshundertseitigen Textes gelingt es, diese ausführlich recherchierten Essenzen der Wirklichkeit mit multiperspektivischen inneren Monologen, Interviews, Pamphleten und Statistiken zu einem literarischen Szenario zu verweben.
Was aber aus der "sozial-realistischen" Literatur wird, wenn ihr der Wirklichkeitsstoff ausgeht, ist im zweiten Teil des Romans zu lesen. In einer ebenso phantasielosen wie langatmigen Aneinanderreihung von historischen Exkursen und fiktiven melodramatischen Handlungsszenen führt Stahl seine Figuren als Untote einer vermeintlich "wahrhaften" literarischen Darstellung einer merkwürdig konsistenten Wirklichkeit vor. Nachdem sich das Kind der dauerbeschäftigten Karrierejournalistin Donata beim Sturz aus dem Fenster verletzt, entdecken die einander entfremdeten Eltern ihr Begehren ausgerechnet während der gemeinsamen Nachtwache im Krankenhaus wieder.
Der Sympathieträger Stone wiederum, der sich mit seiner Schäferhündin im Nahkampf auf Neuköllns Straßen übt, kommt kurz vor der Verwirklichung seines Lebenstraums als Kioskbetreiber im Umland bei einem Autounfall ums Leben. Das tragische Unglück reflektiert die Studentin Lynn dann in einem kitschigen inneren Monolog. Nachdem sie als Praktikantin in einem hippen Architekturbüro ausgebeutet wurde und sich ihr Freund als Spitzel des Staatsschutzes erwies, kehrt Lynn doch lieber ins heimelige Düsseldorf-Gerresheim zurück: "Einiges habe ich wirklich schon geschafft, ich kann stolz auf mich sein, wenn sich das mal nicht sehen lassen kann!"
Was Stahl als literarisch-analytische Untersuchung der Wirklichkeit verstanden haben will, entpuppt sich am Ende bloß als einseitig gefilterte dokufiktionale Materialsammlung zum breiten Spektrum der Liberalismuskritik. Für "feinsinnige Untersuchungen noch der verästeltsten Filiationen des menschlichen Gefühls ist kein Platz", schreibt Stahl selbst in einem seiner Essays. Genau deswegen wirken seine Romanfiguren am Ende wie Zombies vom Prenzlauer Berg.
CORNELIUS WÜLLENKEMPER
Enno Stahl: "Sanierungsgebiete".
Roman. Verbrecher Verlag,
Berlin 2019.
591 S., geb., 29,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sozial-realistischer Roman: Enno Stahl untersucht die bauliche Sanierung Ostberlins nach 1989
"Zum Wohnungsmakler müsst ihr ein positives, warmherziges und liebevolles Verhältnis gewinnen, ein Verhältnis wie zu barem Geld, sage ich euch." In seiner "Rede an die Sperlinge vom Prenzlauer Berg" warnte 1991 der bereits Jahre zuvor in den Westen umgesiedelte sächsische Autor Bernd Wagner seine ostdeutschen Landsleute vor den Tücken der liberalen Marktwirtschaft. Zwei Jahre darauf wurden 32 000 marode Wohneinheiten des Pankower Ortsteils zum größten Sanierungsgebiet Europas erklärt.
Ein weiteres Jahrzehnt später lebte noch ein knappes Fünftel der ursprünglichen Einwohner in dem Viertel, das gerade im Westen der Republik als Hotspot des neuen Berlins galt. In seinem Roman "Sanierungsgebiete" geht der Autor und Journalist Enno Stahl nun zumindest den sozialstrukturellen Folgen des Verkaufs landeseigener Immobilien und deren Sanierung durch Privateigentümer nach.
Das, was unter den Schlagworten Gentrifizierung und Verdrängung längst zum politischen Allgemeingut geworden ist, exemplifiziert Stahl literarisch am Beispiel eines Straßenzugs und seiner Bewohner im Jahr 2009. Die ehemalige Waldorfschülerin Lynn ist zum Architektur-Studium aus Düsseldorf nach Prenzlauer Berg gezogen und hat sich von ihrer Mutter, einer gutverdienenden Anwältin, eine hübsch sanierte Altbauwohnung kaufen lassen. Ein paar Häuser weiter brütet der Philologe "Otti" in seinem Refugium mit DDR-Mietvertrag über einem Manuskript zur "Kriegsbohème" und dem literarisch-sozialistischen Widerstand im ausgehenden Kaiserreich. Otti wehrt sich als Mitglied der "Autonomen Zelle gegen Spekulation und Luxussanierung" hartnäckig gegen die perfiden Entmietungsstrategien des neuen bayerischen Hauseigentümers und zugleich gegen die angedrohte Mittelkürzung des Jobcenters. Seine frühere Geliebte, Donata, einst ostdeutsche Leistungsschwimmerin und Punk-Rebellin, hat sich derweil mit einiger Unerschrockenheit in der Marktwirtschaft eingerichtet und reüssiert als Chefredakteurin einer Parteizeitung namens "Voran!". Ein dritter Protagonist namens Stone, zu DDR-Zeiten Hooligan, Boxer und Bautzen-Insasse, ist vor der Invasion der "Großwesire und Mandarine aus Besserverdienenden-Land" vom Prenzlauer Berg nach Neukölln geflüchtet: "Ick hier inne Zivilesation und du da oben bei de Zombies."
Wem dieses literarische Setting eine Spur zu plakativ erscheint, der schlage in Enno Stahls poetologischem Programm des "sozial-realistischen Romans" nach. In der seit rund zwei Jahrhunderten laufenden Debatte darüber, wie sehr Literatur der Wirklichkeit des Lebens verpflichtet sei, wie viel "Welthaltigkeit" man ihr abfordern und inwiefern sie sich gar politisch positionieren müsse, gehört Enno Stahl zu denen, die den zeitgenössischen Literaten einmal mehr vorwerfen, sie litten an "Erfahrungsarmut" und hätten nichts zu erzählen. Nach der "Wahrhaftigkeit romanhafter Darstellung" sucht der Autor deshalb im "sozial-realistischen Roman", der sich als zeitgenössische Auflage des Naturalismus von Émile Zola versteht.
Als "Haltung" liegt Stahls Poetologie eine "Attacke gegen den elaborierten Mainstream" zugrunde, wie es in einem in Kürze erscheinenden Essayband des Autors heißt. "Die Probleme, die die Menschen in diesen Büchern haben, sind Scheinprobleme oder Kitsch, die eigentliche, die ökonomische Frage, wird nicht gestellt." Kritikern seiner Romantheorie, in der übrigens auch "Fake News im Dienste des Richtigen" ausdrücklich erlaubt sind, bescheinigt Stahl kurzerhand eine "psychopolitische Gehirnwäsche".
Ungeachtet solcher anmaßenden Polemik des Essayisten, entfaltet sein literarisches Konzept im Roman "Sanierungsgebiete" durchaus eine dokudramatische Wirkung. Wie in einem Bestiarium nimmt Stahl Vertreter verschiedener Milieus unter die Lupe, beschreibt nicht nur ihr Wohnumfeld, sondern erklärt zugleich detailliert Hintergründe ihrer sozialen und finanziellen Lebenssituation. Zur Beglaubigung seiner literarischen Wirklichkeitsanordnung werden zahlreiche Realreferenzen ins Feld geführt. Die Straßenzüge, in denen die Renitenten des Bevölkerungsaustauschs im Ortsteil Prenzlauer Berg unterwegs sind, die Kneipen, in denen Lynn sich beim Cocktail vom Studium erholt, der Kleinverlag, der Ottis Untergrund-Zeitschrift "Der Weg nach unten" publiziert, die Restaurants, in denen die Journalistin Donata an ihrem Aufstieg feilt, und auch die antikapitalistische Kampfgruppe, die Brandanschläge gegen die schicken Neubauten "des Systems" verübt, entlehnt Stahl der Realität.
Zu Beginn des knapp sechshundertseitigen Textes gelingt es, diese ausführlich recherchierten Essenzen der Wirklichkeit mit multiperspektivischen inneren Monologen, Interviews, Pamphleten und Statistiken zu einem literarischen Szenario zu verweben.
Was aber aus der "sozial-realistischen" Literatur wird, wenn ihr der Wirklichkeitsstoff ausgeht, ist im zweiten Teil des Romans zu lesen. In einer ebenso phantasielosen wie langatmigen Aneinanderreihung von historischen Exkursen und fiktiven melodramatischen Handlungsszenen führt Stahl seine Figuren als Untote einer vermeintlich "wahrhaften" literarischen Darstellung einer merkwürdig konsistenten Wirklichkeit vor. Nachdem sich das Kind der dauerbeschäftigten Karrierejournalistin Donata beim Sturz aus dem Fenster verletzt, entdecken die einander entfremdeten Eltern ihr Begehren ausgerechnet während der gemeinsamen Nachtwache im Krankenhaus wieder.
Der Sympathieträger Stone wiederum, der sich mit seiner Schäferhündin im Nahkampf auf Neuköllns Straßen übt, kommt kurz vor der Verwirklichung seines Lebenstraums als Kioskbetreiber im Umland bei einem Autounfall ums Leben. Das tragische Unglück reflektiert die Studentin Lynn dann in einem kitschigen inneren Monolog. Nachdem sie als Praktikantin in einem hippen Architekturbüro ausgebeutet wurde und sich ihr Freund als Spitzel des Staatsschutzes erwies, kehrt Lynn doch lieber ins heimelige Düsseldorf-Gerresheim zurück: "Einiges habe ich wirklich schon geschafft, ich kann stolz auf mich sein, wenn sich das mal nicht sehen lassen kann!"
Was Stahl als literarisch-analytische Untersuchung der Wirklichkeit verstanden haben will, entpuppt sich am Ende bloß als einseitig gefilterte dokufiktionale Materialsammlung zum breiten Spektrum der Liberalismuskritik. Für "feinsinnige Untersuchungen noch der verästeltsten Filiationen des menschlichen Gefühls ist kein Platz", schreibt Stahl selbst in einem seiner Essays. Genau deswegen wirken seine Romanfiguren am Ende wie Zombies vom Prenzlauer Berg.
CORNELIUS WÜLLENKEMPER
Enno Stahl: "Sanierungsgebiete".
Roman. Verbrecher Verlag,
Berlin 2019.
591 S., geb., 29,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Es gibt hier einen ersten und einen zweiten Teil des Romans, stellt Rezensent Cornelius Wüllenkemper fest. Der erste Teil scheint ihm im Sinne des "sozial-realistischen" Romankonzepts des streitbaren Autors ganz stimmig angelegt, auch durchaus gelungen in den miteinander verwobenen Leben der Hauptfiguren. Im zweiten Teil aber herrscht Langatmigkeit und es fehlt dem Kritiker die Fantasie für glaubwürdige und interessante Lösungen. So wird das Sozialdrama der Gentrifizierung im Osten der Hauptstadt am Ende zu einer platten Erzählung der Kapitalismuskritik und ihre Protagonisten werden zu Untoten vom Prenzlauer Berg. Das hat dem Rezensenten ziemlich missfallen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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