Santa Esperanza ein Schmelztiegel der unterschiedlichsten Völker im Schwarzen Meer: Georgier, Genueser, Osmanen und schließlich die Briten haben im Laufe der Geschichte die drei wundersamen Inseln heimgesucht. Wer geblieben ist, hat eigene Traditionen, Gesetze und Bräuche erdacht, um auf dem geliebten Fleck Erde mit List und Ironie dem stetigen Strom der Eroberer zu trotzen. Nun schreibt man das Jahr 2002, und der Abzug der Briten steht unmittelbar bevor. Aber was dann? Kann man die schmächtige alte Agatia, die letzte Nachfahrin des Herrschergeschlechts der Artchiliani die einmal den Titel "Verwalter der Ferne, des Wassers und des Himmels" trugen dazu bewegen, wieder den Thron zu besteigen? Darf ein Genuesen-Sprössling leidenschaftliche Liebesbriefe an seine georgische Angebetete mit den kirschfarbenen Augen schicken, ohne dass eine Familienfehde zu befürchten ist?
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.12.2006Es war einmal in Georgien
Die tragische, verrückte, knallbunte Chronik eines Phantasie-Archipels: Zu Besuch bei Aka Morchiladze in Tiflis
Es ist ein tödliches Viereck. Im Parlament verschanzt sich der Präsident, Swiad Gamsachurdia; im Intourist-Hotel lauern die Männer Tengis Kitowanis, der mal Bohemien war und nun Warlord ist. Ein paar Bewaffnete hocken im Kirchturm, und im KGB-Knast gegenüber wartet Dschaba Iosseliani, Ex-Krimineller, Schriftsteller und Putschist, auf seine Stunde. Irgendwann eröffnet einer das Feuer, und der Bürgerkrieg bekommt neuen, entsetzlichen Schwung.
Fünfzehn Jahre ist das her, aber Aka Morchiladze findet die Einschusslöcher in der Kirchenmauer blind. „Der Rustaweli-Bouleverad war mit Seilen abgetrennt, eins am oberen Ende, eines unten. Und dazwischen brachten sie sich um: Literaten, Künstler, Krieger”, sagt er: „Kurz zuvor waren die Filme von Sergio Leone zu uns gekommen: ,Es war einmal in Amerika‘. Ein Politiker hat später gesagt: Schade, dass Leone nie erfahren hat, welchen Einfluss er auf ein kleines Land im Kaukasus hatte. Verrückt nicht? Aber das ist Georgien.”
Die Irren der Hoffnungsinsel
Das ist Georgien. Für Aka Morchiladze liegt in diesem Satz alle Wahrheit, alle Tragik seines Landes. Für die meisten Menschen außerhalb Georgiens liegt darin erst mal nichts. In seiner Heimat ist Morchiladze Starautor, TV-Moderator, Soap-Schreiber, Sportkolumnist, und so bekannt, dass er sich ein Pseudonym zulegte: In Wahrheit heißt er Gio Akhvlediani. Jenseits des Kaukasus ist er ein Mensch mit zwei unaussprechlichen Namen, dessen Werke in einer Schrift verfasst sind, die aussieht wie der Geheimcode einer Kinderbande. 25 Bücher hat Aka Morchiladze geschrieben. Sie haben für Georgien phantastische Auflagen erreicht. Nicht eines wurde übersetzt. Bis jetzt. Nun hat der Münchner Pendo-Verlag Morchiladzes Werk „Santa Esperanza” herausgebracht (übersetzt von Natia Mikeladse-Bachsoliani, München und Zürich 2006, 850 Seiten, 27,50 Euro), und es ist, vorsichtig formuliert, die wohl verrückteste und verwegenste verlegerische Leistung der Saison.
Denn „Santa Esperanza” ist kein Buch, sondern eine Sammlung von kleinen regenbogenbunten Heften in einem karamelbraunen Filzschuber. „Diese ewigen Deckel, diese Bindung, ich wollte mal etwas anderes!”, sagt Mordchiladze. Man müsse die ruhmreiche Saga der „Inseln der Hoffnung” auch gar nicht von vorn nach hinten lesen und vielleicht nicht mal vollständig. Fast hätte er den Schluss von „Santa Esperanza” als Kreuzworträtsel angelegt. So gesehen wirken die Hefte direkt zurückhaltend.
„Santa Esperanza” ist die fiktive Chronik eines fiktiven Archipels im Schwarzen Meer. Aber eigentlich, sagt Morchiladze, geht es nur um Georgien. Genauer: um ein utopisches Georgien, das nie von den Russen annektiert, nie von der Sowjetunion unterjocht wurde. Auf den drei Inseln leben Georgier, Türken, Italiener, Juden und Briten, jawohl Briten. Im Jahr 1919 hat nämlich der osmanische Pascha Sari Beg die Inselgruppe an den britischen Colonel Rollston verpachtet. 145 Jahre später geben die Briten den Archipel zurück, und um diesen heiklen Moment im Jahr 2002 kreist Morchiladzes Geschichte. „Es ist eine Hongkong-Story”, sagt er. Aber eine ohne Happy End.
Denn so wie Georgien nach der Unabhängigkeit in Elend und Bürgerkrieg versank – „Wir waren das reichste Land der Sowjetunion und wurden das ärmste Land der GUS, an einem Tag” – , so liefern sich auch auf den Hoffnungsinseln Clans und Cliquen wüste Gefechte: die verhasste Bürgerfamilie der Wisramianis, die tapferen, aber barbarischen Sungalen und das genuesische Händlergeschlecht der Da Costas. Britische Spione wollen Agatia, die greise Urenkelin Sari Begs, als Königin installieren. Und die grausame Wisramiani-Tochter Salomea besetzt mit ihrer Armee ganze Inselteile – ganz so, wie einst Abchasien und Südossetien Georgiens Schwäche ausnutzten und ihre Unabhängigkeit erklärten.
Manche Geschichten klingen zu ungeheuerlich, um wahr zu sein und sind es doch: Wenn die Feinde die Irrenanstalten und Gefängnisse öffnen und die Kranken und Verbrecher die Sungaleninsel verwüsten, schwingt Morchiladzes eigenes Entsetzen mit. Ganz ähnlich, sagt er, wurde es auch in Georgien gemacht. Dann wieder findet er neue, unvergessliche Bilder für einen tausendfach beschriebenen Schrecken: Das große Morden hat den Sungalen buchstäblich das Blut in den Adern gefrieren lassen. Nun stechen sie sich in Hände und Bäuche, um zu prüfen, ob es nicht doch noch fließt, ob sie doch noch leben.
Ein Staatszwerg als Spielball großer Mächte, eine Kollision von vormodernem Ehrbegriff und bourgeoiser Cleverness – ja, man kann „Santa Esperanza” als große Georgien-Metapher lesen. Aber man muss es nicht. Denn Morchiladze, der sich inzwischen im putzigen Café eines befreundeten Puppenspielers niedergelassen hat und eine Art selbstgebrauten Glühwein eingießt, Morchiladze hat eine so verspielte, wahnsinninge, quicklebendige Welt geschafen, dass der winzige Vielvölkerstaat unbedingt einen Platz in den Vereinten Nationen verdient.
Es ist ein eigener Kulturraum, der im Wesentlichen von einem bridgeähnlichen Kartenspiel namens Inti geprägt wird, das sechs Spieler braucht: Vier greifen an, zwei verteidigen sich. „Aus der Verteidigung heraus gewinnen, das ist die georgische Ur-Situation”, sagt Morchiladze. Eher zu Hochkultur gehören die Klagefrauen, deren Lieder wortlos wie das Meer sind und Männern den Verstand rauben, weshalb sie nur in streng lizensierten Clubs auftreten dürfen.
Hollywood, nicht Eisenstein
Morchiladze erzählt dieses knallbunte Epos nicht als schnöden Roman. Sondern in Briefen und Kirchenchroniken, Tagebüchern und Dramoletten. Er verwebt Auszüge aus der Verfassung, Internetseiten, ein Testament. Meist fügen sich die Fragmente fugenlos ineinander, manchmal blühen die schönsten Blumen auf toten Gleisen. Er liebe es, Texte zu imitieren, sagt Morchiladze. Aber natürlich müsse die Simulation jederzeit erkennbar sein. So wie Ingo Schulzes „33 Augenblicke des Glücks” eine postmoderne Verneigung vor den russischen Klassikern waren, so verbeugt sich der Georgier vor der Literatur des Westens, was dazu führt, dass sein Ton dem Leser wunderbar vertraut ist.
Wenn die Frauen der Wisramianis um Macht und Einfluss ringen – liegt darin nicht eine weibliche Spielart von Puzos „Pate”? Wenn Salomea ihren Geliebten nicht heiraten darf, weil Sandro da Costa aus einem verfeindeten Geschlecht stammt („Für ihn würde ich sterben, für dich aber nicht mal einen Faden durch ein Nadelöhr ziehen!”), wer dächte nicht an Shakespeare? Man findet Steinbeck-Spuren und Melville-Sedimente, die Figuren tragen Namen wie Theveneau de Morande nach dem Verräter des Rokoko-Hochstaplers Cagliostro oder Gines des Passamonte nach Cervantes’ „Don Quijote”. Morchiladze hat eine englische Schule besucht, Hollywood hat ihn mehr geprägt als Eisenstein. Irgendwann findet man Niko, Salomeas kriminellen Gatten, am Fenster der Klosterbibliothek mit einem Pfeil im Herzen – eine Erinnerung an die Leone-Sequenz auf dem Rustaweli-Boulevard: Es war einmal in Georgien.
Überhaupt, Amerika. Während Morchiladze in London in zweieinhalb Monaten seine Inselsaga runterriss, brach in Georgien die Rosenrevolution los. Seitdem ist die Westorientierung Staatsdoktrin in Georgien. Das Verhältnis zu Russland ist zerrüttet. Es geht um Abchasien und Südossetien, die als russische Protektorate für die Stabilität im Kaukasus so hilfreich sind wie ein paar Tonnen TNT. Es ging vor kurzem um eine einsame Felsspalte, deren irrer Herrscher sungalen-hafte Züge trug, und um ein russisches Importverbot für georgischen Wein und georgisches Mineralwasser. Aber im Grunde geht es einzig darum, dass der Kreml das Übergreifen des revolutionären atlantischen Bazillus verhindern möchte. „1989 haben die Russen Demonstranten in Tiflis mit geschliffenen Spaten erschlagen”, sagt Morchiladze: „Seitdem ist ihre Zeit hier vorbei. Sie haben es nur noch nicht begriffen.”
Im Herbst hatte Präsident Michail Saakaschwili russische Offiziere unter dem Vorwurf der Spionage festnehmen lassen und von weiblichen Polizisten (!) aus dem Land werfen lassen. Es war eine kindische, gefährliche, überflüssige Demütigung. Aber was für eine Szene! „Schreiben Sie das nicht”, sagt Morchiladze kichernd: „Aber mir hat das gefallen. Mischa ist so. Symbole, Gesten – das kann er. Was er inszeniert, vergisst man nie.” Die Russen vergaßen es auch nicht und warfen Hunderte Georgier aus dem Land, hetzten VIPs wie dem Krimi-Autor Boris Akunin und dem Monumental-Bildhauer Surab Zereteli die Steuerbehörden auf den Hals – woraufhin Letzterer sich gerührt seiner Herkunft entsann und Tiflis eine Figur des Heiligen Georg schenkte, die seit ein paar Tagen – riesig, golden und präpotent wie alle Zereteli-Helden – von einer Säule auf den Kreisverkehr vor dem Rathaus hinabschaut, wo die Rosenrevolution begann.
„Seit der Revolution haben wir wenigstens Gas und Strom”, sagt Morchiladze: „Jedenfalls mehr als früher.” Dass dies nicht für alle gilt, vor allem nicht, seit Russland die Gaspreise verdoppelt hat, ahnt man, wenn ein alter Mann an einem Baum auf der Metekhis-Brücke Brennholz absägt. Oder wenn drei junge Kerle Flaschen mit einer goldenen Flüssigkeit in die Kneipen tragen. „Nein, das ist etwas anderes”, beschwichtigt Morchiladze: „Die verkaufen Brandy. Ich schätze, sie haben Spielschulden.” Vielleicht ist Santa Esperanza doch ein Vorort von Tiflis. Vielleicht gibt es sie wirklich, diese unentdeckten Orte mit den nie geschriebenen Dramen: „Wissen Sie”, sagt er fröhlich: „Ich glaube sowieso nicht, dass die Erde rund ist.”
SONJA ZEKRI
Tiflis im Januar 1992: Artillerie vor dem Gebäude der beim Putsch gegen Präsident Gamsachrudia beschädigten Nationalgalerie
Foto: Patrick Robert/Corbis
„Santa Esperanza”: Der Autor Aka Morchiladze in Tiflis.
Foto: Zekri
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Die tragische, verrückte, knallbunte Chronik eines Phantasie-Archipels: Zu Besuch bei Aka Morchiladze in Tiflis
Es ist ein tödliches Viereck. Im Parlament verschanzt sich der Präsident, Swiad Gamsachurdia; im Intourist-Hotel lauern die Männer Tengis Kitowanis, der mal Bohemien war und nun Warlord ist. Ein paar Bewaffnete hocken im Kirchturm, und im KGB-Knast gegenüber wartet Dschaba Iosseliani, Ex-Krimineller, Schriftsteller und Putschist, auf seine Stunde. Irgendwann eröffnet einer das Feuer, und der Bürgerkrieg bekommt neuen, entsetzlichen Schwung.
Fünfzehn Jahre ist das her, aber Aka Morchiladze findet die Einschusslöcher in der Kirchenmauer blind. „Der Rustaweli-Bouleverad war mit Seilen abgetrennt, eins am oberen Ende, eines unten. Und dazwischen brachten sie sich um: Literaten, Künstler, Krieger”, sagt er: „Kurz zuvor waren die Filme von Sergio Leone zu uns gekommen: ,Es war einmal in Amerika‘. Ein Politiker hat später gesagt: Schade, dass Leone nie erfahren hat, welchen Einfluss er auf ein kleines Land im Kaukasus hatte. Verrückt nicht? Aber das ist Georgien.”
Die Irren der Hoffnungsinsel
Das ist Georgien. Für Aka Morchiladze liegt in diesem Satz alle Wahrheit, alle Tragik seines Landes. Für die meisten Menschen außerhalb Georgiens liegt darin erst mal nichts. In seiner Heimat ist Morchiladze Starautor, TV-Moderator, Soap-Schreiber, Sportkolumnist, und so bekannt, dass er sich ein Pseudonym zulegte: In Wahrheit heißt er Gio Akhvlediani. Jenseits des Kaukasus ist er ein Mensch mit zwei unaussprechlichen Namen, dessen Werke in einer Schrift verfasst sind, die aussieht wie der Geheimcode einer Kinderbande. 25 Bücher hat Aka Morchiladze geschrieben. Sie haben für Georgien phantastische Auflagen erreicht. Nicht eines wurde übersetzt. Bis jetzt. Nun hat der Münchner Pendo-Verlag Morchiladzes Werk „Santa Esperanza” herausgebracht (übersetzt von Natia Mikeladse-Bachsoliani, München und Zürich 2006, 850 Seiten, 27,50 Euro), und es ist, vorsichtig formuliert, die wohl verrückteste und verwegenste verlegerische Leistung der Saison.
Denn „Santa Esperanza” ist kein Buch, sondern eine Sammlung von kleinen regenbogenbunten Heften in einem karamelbraunen Filzschuber. „Diese ewigen Deckel, diese Bindung, ich wollte mal etwas anderes!”, sagt Mordchiladze. Man müsse die ruhmreiche Saga der „Inseln der Hoffnung” auch gar nicht von vorn nach hinten lesen und vielleicht nicht mal vollständig. Fast hätte er den Schluss von „Santa Esperanza” als Kreuzworträtsel angelegt. So gesehen wirken die Hefte direkt zurückhaltend.
„Santa Esperanza” ist die fiktive Chronik eines fiktiven Archipels im Schwarzen Meer. Aber eigentlich, sagt Morchiladze, geht es nur um Georgien. Genauer: um ein utopisches Georgien, das nie von den Russen annektiert, nie von der Sowjetunion unterjocht wurde. Auf den drei Inseln leben Georgier, Türken, Italiener, Juden und Briten, jawohl Briten. Im Jahr 1919 hat nämlich der osmanische Pascha Sari Beg die Inselgruppe an den britischen Colonel Rollston verpachtet. 145 Jahre später geben die Briten den Archipel zurück, und um diesen heiklen Moment im Jahr 2002 kreist Morchiladzes Geschichte. „Es ist eine Hongkong-Story”, sagt er. Aber eine ohne Happy End.
Denn so wie Georgien nach der Unabhängigkeit in Elend und Bürgerkrieg versank – „Wir waren das reichste Land der Sowjetunion und wurden das ärmste Land der GUS, an einem Tag” – , so liefern sich auch auf den Hoffnungsinseln Clans und Cliquen wüste Gefechte: die verhasste Bürgerfamilie der Wisramianis, die tapferen, aber barbarischen Sungalen und das genuesische Händlergeschlecht der Da Costas. Britische Spione wollen Agatia, die greise Urenkelin Sari Begs, als Königin installieren. Und die grausame Wisramiani-Tochter Salomea besetzt mit ihrer Armee ganze Inselteile – ganz so, wie einst Abchasien und Südossetien Georgiens Schwäche ausnutzten und ihre Unabhängigkeit erklärten.
Manche Geschichten klingen zu ungeheuerlich, um wahr zu sein und sind es doch: Wenn die Feinde die Irrenanstalten und Gefängnisse öffnen und die Kranken und Verbrecher die Sungaleninsel verwüsten, schwingt Morchiladzes eigenes Entsetzen mit. Ganz ähnlich, sagt er, wurde es auch in Georgien gemacht. Dann wieder findet er neue, unvergessliche Bilder für einen tausendfach beschriebenen Schrecken: Das große Morden hat den Sungalen buchstäblich das Blut in den Adern gefrieren lassen. Nun stechen sie sich in Hände und Bäuche, um zu prüfen, ob es nicht doch noch fließt, ob sie doch noch leben.
Ein Staatszwerg als Spielball großer Mächte, eine Kollision von vormodernem Ehrbegriff und bourgeoiser Cleverness – ja, man kann „Santa Esperanza” als große Georgien-Metapher lesen. Aber man muss es nicht. Denn Morchiladze, der sich inzwischen im putzigen Café eines befreundeten Puppenspielers niedergelassen hat und eine Art selbstgebrauten Glühwein eingießt, Morchiladze hat eine so verspielte, wahnsinninge, quicklebendige Welt geschafen, dass der winzige Vielvölkerstaat unbedingt einen Platz in den Vereinten Nationen verdient.
Es ist ein eigener Kulturraum, der im Wesentlichen von einem bridgeähnlichen Kartenspiel namens Inti geprägt wird, das sechs Spieler braucht: Vier greifen an, zwei verteidigen sich. „Aus der Verteidigung heraus gewinnen, das ist die georgische Ur-Situation”, sagt Morchiladze. Eher zu Hochkultur gehören die Klagefrauen, deren Lieder wortlos wie das Meer sind und Männern den Verstand rauben, weshalb sie nur in streng lizensierten Clubs auftreten dürfen.
Hollywood, nicht Eisenstein
Morchiladze erzählt dieses knallbunte Epos nicht als schnöden Roman. Sondern in Briefen und Kirchenchroniken, Tagebüchern und Dramoletten. Er verwebt Auszüge aus der Verfassung, Internetseiten, ein Testament. Meist fügen sich die Fragmente fugenlos ineinander, manchmal blühen die schönsten Blumen auf toten Gleisen. Er liebe es, Texte zu imitieren, sagt Morchiladze. Aber natürlich müsse die Simulation jederzeit erkennbar sein. So wie Ingo Schulzes „33 Augenblicke des Glücks” eine postmoderne Verneigung vor den russischen Klassikern waren, so verbeugt sich der Georgier vor der Literatur des Westens, was dazu führt, dass sein Ton dem Leser wunderbar vertraut ist.
Wenn die Frauen der Wisramianis um Macht und Einfluss ringen – liegt darin nicht eine weibliche Spielart von Puzos „Pate”? Wenn Salomea ihren Geliebten nicht heiraten darf, weil Sandro da Costa aus einem verfeindeten Geschlecht stammt („Für ihn würde ich sterben, für dich aber nicht mal einen Faden durch ein Nadelöhr ziehen!”), wer dächte nicht an Shakespeare? Man findet Steinbeck-Spuren und Melville-Sedimente, die Figuren tragen Namen wie Theveneau de Morande nach dem Verräter des Rokoko-Hochstaplers Cagliostro oder Gines des Passamonte nach Cervantes’ „Don Quijote”. Morchiladze hat eine englische Schule besucht, Hollywood hat ihn mehr geprägt als Eisenstein. Irgendwann findet man Niko, Salomeas kriminellen Gatten, am Fenster der Klosterbibliothek mit einem Pfeil im Herzen – eine Erinnerung an die Leone-Sequenz auf dem Rustaweli-Boulevard: Es war einmal in Georgien.
Überhaupt, Amerika. Während Morchiladze in London in zweieinhalb Monaten seine Inselsaga runterriss, brach in Georgien die Rosenrevolution los. Seitdem ist die Westorientierung Staatsdoktrin in Georgien. Das Verhältnis zu Russland ist zerrüttet. Es geht um Abchasien und Südossetien, die als russische Protektorate für die Stabilität im Kaukasus so hilfreich sind wie ein paar Tonnen TNT. Es ging vor kurzem um eine einsame Felsspalte, deren irrer Herrscher sungalen-hafte Züge trug, und um ein russisches Importverbot für georgischen Wein und georgisches Mineralwasser. Aber im Grunde geht es einzig darum, dass der Kreml das Übergreifen des revolutionären atlantischen Bazillus verhindern möchte. „1989 haben die Russen Demonstranten in Tiflis mit geschliffenen Spaten erschlagen”, sagt Morchiladze: „Seitdem ist ihre Zeit hier vorbei. Sie haben es nur noch nicht begriffen.”
Im Herbst hatte Präsident Michail Saakaschwili russische Offiziere unter dem Vorwurf der Spionage festnehmen lassen und von weiblichen Polizisten (!) aus dem Land werfen lassen. Es war eine kindische, gefährliche, überflüssige Demütigung. Aber was für eine Szene! „Schreiben Sie das nicht”, sagt Morchiladze kichernd: „Aber mir hat das gefallen. Mischa ist so. Symbole, Gesten – das kann er. Was er inszeniert, vergisst man nie.” Die Russen vergaßen es auch nicht und warfen Hunderte Georgier aus dem Land, hetzten VIPs wie dem Krimi-Autor Boris Akunin und dem Monumental-Bildhauer Surab Zereteli die Steuerbehörden auf den Hals – woraufhin Letzterer sich gerührt seiner Herkunft entsann und Tiflis eine Figur des Heiligen Georg schenkte, die seit ein paar Tagen – riesig, golden und präpotent wie alle Zereteli-Helden – von einer Säule auf den Kreisverkehr vor dem Rathaus hinabschaut, wo die Rosenrevolution begann.
„Seit der Revolution haben wir wenigstens Gas und Strom”, sagt Morchiladze: „Jedenfalls mehr als früher.” Dass dies nicht für alle gilt, vor allem nicht, seit Russland die Gaspreise verdoppelt hat, ahnt man, wenn ein alter Mann an einem Baum auf der Metekhis-Brücke Brennholz absägt. Oder wenn drei junge Kerle Flaschen mit einer goldenen Flüssigkeit in die Kneipen tragen. „Nein, das ist etwas anderes”, beschwichtigt Morchiladze: „Die verkaufen Brandy. Ich schätze, sie haben Spielschulden.” Vielleicht ist Santa Esperanza doch ein Vorort von Tiflis. Vielleicht gibt es sie wirklich, diese unentdeckten Orte mit den nie geschriebenen Dramen: „Wissen Sie”, sagt er fröhlich: „Ich glaube sowieso nicht, dass die Erde rund ist.”
SONJA ZEKRI
Tiflis im Januar 1992: Artillerie vor dem Gebäude der beim Putsch gegen Präsident Gamsachrudia beschädigten Nationalgalerie
Foto: Patrick Robert/Corbis
„Santa Esperanza”: Der Autor Aka Morchiladze in Tiflis.
Foto: Zekri
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Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Die "wohl verrückteste und verwegenste verlegerische Leistung der Saison" bejubelt Sonja Zekri. Denn Aka Morchiladze, obschon in Georgien ein Bestsellerautor, TV-Moderator und Soap-Verfasser, ist nicht nur hierzulande leidlich unbekannt, sondern hat seine Chronik eines Fantasie-Georgiens mitten im Schwarzen Meer auch noch in mehreren "regenbogenbunten" Heften veröffentlicht, die in einem "karamelbraunen Filzschuber" stecken. Flippig sei das, meint Zekri, die aber in den geschilderten Ungeheuerlichkeiten auch einen ernsthaften Zug und "neue, unvergessliche" Bilder entdeckt. "Santa Esperanza" sei dabei nicht nur ein Zerrbild von Georgien, sondern so "quicklebendig" und eigenständig, dass Zekri den Staat am liebsten in die UNO aufnehmen möchte. Gut konsumierbar sei das Konvolut aus fiktiven Kirchenchroniken, Dramoletten, Briefen und Tagebüchern außerdem, nicht zuletzt deshalb, weil Morchiladze mit westlichen Filmen und Literatur aufgewachsen ist und seine zahlreichen Anspielungen und Verweise deshalb "wunderbar vertraut" wirken.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.06.2018Wer dieses Lied hört, ist in Lebensgefahr
Ach so, und außerdem war Krieg: Mit Aka Mortschiladse ist ein Autor aus Georgien zu entdecken, der sehr welthaltig, aber auch literarisch avanciert von den kaukasischen Wirren erzählt.
Wie soll das sein, wenn man ans Himmelstor kommt und eine Knarre in der Hand hält? Solches fragen sich die Figuren aus den Erzählungen Aka Mortschiladses, und dies mag einen ersten Hinweis geben auf die Mischung aus Komik und Kriegswirklichkeit, die seine Literatur durchzieht.
Denn ja, will es auch auf den ersten Blick nicht so scheinen oder zugespitzt klingen: Aka Mortschiladse ist ein Kriegsschriftsteller. Nur nicht so einer, der dieses Thema ständig in den Mittelpunkt stellt; er streift es eher beiläufig.
In dem Buch, das den 1966 in Tiflis geborenen Mortschiladse (nach anderer Schreibweise: Morchiladze) in Georgien berühmt gemacht hat, geraten die beiden Hauptfiguren aus Versehen in ein Kriegsgebiet: Die georgischen Schmalspurganoven Gio und Gogliko wollen eigentlich nur im Nachbarland Aserbaidschan Drogen kaufen, fahren aber, ohne es zu wissen, über die Grenze nach Bergkarabach und finden sich plötzlich mitten im blutigen Konflikt zwischen Tataren und Armeniern. Die Geschichte spielt im Jahr 1992, als in Georgien nach dem Zerfall der Sowjetunion selbst bürgerkriegsähnliche Zustände herrschen, von denen die jungen Männer allerdings vor ihrer Fahrt nicht allzu viel mitbekommen haben. Nun plötzlich wird mit einem Maschinengewehr auf ihren Wagen geschossen, dann werden sie von Tataren gefangengenommen: "Wir waren im Arsch. Ich hatte keine Ahnung, was abging, wohin sie uns brachten, was sie mit uns vorhatten."
Die Erzählung in der Ich-Form durch den prahlerisch und derb redenden Gio gibt dem Roman den Anstrich einer klassischen Road Novel, aber durch die unberechenbare Kriegssituation kippt die Stimmung bald ins Unheimliche. Als Gio bei einer Befreiungsaktion aus den Händen der Tataren in jene der Armenier gerät, sprechen die ihn zunächst jovial mit "Bruder" an, doch plötzlich ist er nicht mehr sicher, ob sie ihn nicht in Wahrheit als Gefangenen, als Verhandlungsmasse betrachten. Und das bringt ihn schließlich selbst in Versuchung, gewalttätig zu werden.
"Reise nach Karabach" ist ein Kurzroman, aber er hat dennoch Tiefe. Er endet mit der bitteren Erkenntnis, dass für den Protagonisten das Banditentum und die Todesgefahr mehr Reiz haben als sein Leben in Tiflis. Und die im Grunde melancholische Konstitution des Helden - er leidet am meisten an einer unglücklichen Liebe zu einer Prostituierten, die seine Familie nicht duldet, und droht zuletzt verrückt zu werden - wirft auch ein Licht auf die für Mortschiladse wesentliche Einsicht, dass die Geschichte ein nicht endendes Klagelied ist.
Diese Einsicht steht im Herzen von seinem literarischen Opus magnum "Santa Esperanza". Das sonderbare traditionelle Klagelied der fiktiven Inselgruppe im Schwarzen Meer, auf der das Buch spielt, scheint vom Gesang der Sirenen in der Odyssee abzustammen: Jedenfalls führt es für manche seiner Hörer zum Tod, in diesem Fall allerdings, weil sie sich unsterblich in die Sängerin verlieben und aus Verzweiflung umbringen.
Die phantasievoll ausgeschmückte Anekdote, die einen Bogen von der Antike zur heutigen Tourismusindustrie schlägt, zeigt, wie Mortschiladse die Welt der Märchen und Sagen augenzwinkernd mit jener der Moderne zu verknüpfen weiß: So gibt es neben Tonkonserven auf Santa Esperanza bald auch "Klageliederclubs", die allerdings von englischen Kolonialisten reglementiert werden.
Die Spannung zwischen autochthoner Kultur und Kontrolle von außen führt zum ernsten Kern des Buches. Auch hier kommt er beiläufig in die Erzählung, aber er kommt: der Krieg. Der erfundene Vielvölkerstaat mit der verheißungsvoll klingenden Hauptstadt Santa City, dessen Geschichte Mortschiladse unter vielfältigen Anspielungen auf georgische Geschichte und Kultur weit zurückspinnt und in dem sich außer Georgiern auch Osmanen, Genovesen und "Anglesen" tummeln, nicht gerechnet das fiktive Volk der "Sungalen": dieser Staat funktioniert leider nicht ohne gewalttätige Auseinandersetzungen, und am Ende (jedenfalls wenn man das Buch chronologisch liest), steht der Einmarsch einer britisch-türkisch-russischen Friedenstruppe.
Die konkrete historische Erzählsituation der "Reise nach Karabach" weicht in "Santa Esperanza" einer munter durch die Zeiten springenden. Der Erzähler in diesem "Kosmos aus Romanen", so der Untertitel, pflegt bisweilen einen distanzierten Ton wie im alten Epos, da können schon mal in drei Sätzen ganze Biographien oder sogar ganze Epochen abgehandelt werden. "Einige beginnen und andere beenden hier ihr Leben", heißt es etwa lakonisch in der Zusammenfassung eines der Unter-Bücher des Buches.
Ob man diese in linearer Reihenfolge lesen sollte, ist allerdings fraglich - und hier kommt der künstlerisch-experimentelle Zug von Mortschiladses Schreiben ins Spiel. Die Erzählung setzt sich zusammen aus vier mal neun einzelnen Heften, die nach den Symbolen Weinrebe, Brombeere, Distel und Säbel geordnet sind und die Struktur eines Kartenspiels haben.
Im Vorwort eines Erzählers, der als Exilgeorgier in London lebt und offenbar einiges mit dem Autor gemeinsam hat, wird die prinzipielle Eigenständigkeit jedes Erzählhefts betont und auch die Möglichkeit, die Hefte in verschiedener Reihenfolge oder ganz durcheinander zu lesen. Das erinnert an Romanexperimente wie die des magischen Realisten Julio Cortázar ("Rayuela") oder Italo Calvinos Tarotkarten-Roman "Das Schloss, darin sich Schicksale kreuzen". Die Aufhebung der Linearität hat aber wohl nicht nur spielerischen Selbstzweck, sondern erzielt im Hinblick auf das Kriegsthema einen bedrückenden Effekt: nämlich das Gefühl, dass nach dem Krieg immer schon wieder vor dem Krieg ist. Wenn also am Ende die viertausend Kampfstiefel der UN-Mission auf einer der Inseln landen und dort den Frieden garantieren sollen, weiß man schon aus früheren Heften, wie das misslingt.
Trotzdem ist auch Mortschiladses Großroman von Humor geprägt. Er entsteht etwa bei der karikierenden Darstellung eines britischen Reiseschriftstellers namens Edmond Clever und einer italienische Klatschspaltenjournalistin namens Monica Uso di Mare, die sich einen Reim auf das Leben der Esperanza-Inseln zu machen versuchen. Oder auch bei der bisweilen shandyhaft umständlichen Schilderung der dortigen Kaffeehaus- und Tabakpfeifenkultur zwischen morgen- und abendländischer Tradition. Auch der überraschende Wechsel der Textsorte vom Epos zum Theaterstück zum Wikipedia-Eintrag hat komische Effekte.
Der Märchenton und viele Anklänge an Schelmenromane verschiedener Literaturen und Epochen allerdings lassen - das war schon bei Cervantes oder Grimmelshausen früher nicht anders - leicht die bittere, manchmal katastrophale Realität dahinter vergessen. Dann plötzlich scheint sie grausam auf, wenn man begreift, dass man gerade die Schilderung eines Auftragsmordes in einem nicht enden wollenden Streit zwischen zwei seit Jahrhunderten verfeindeten Familien gelesen hat.
Vielleicht könnte man diese Erzählweise in einer etwas prekären Metapher mit dem vergleichen, was in Amerika "drive-by-shooting" heißt: ein Kugelhagel im Vorbeifahren mit potentiell verheerender Wirkung. Aber es bleibt nicht immer nur beim teilnahmslosen Bericht von solchen Katastrophen, man hört manchmal auch plötzlich bittere Philosophie durchsickern, etwa aus dem Mund einer weiteren Spiegelfigur des Autors, eines desillusionierten Schriftstellers names Luka: "Jeder Habenichts kann ein Gewehr halten. Zeigt mir aber einen Habenichts, der freiwillig darauf verzichtet."
JAN WIELE
Aka Morchiladze: "Reise nach Karabach". Roman.
Aus dem Georgischen von Iunona Guruli. Weidle Verlag, Bonn 2018. 174 S., br., 20,- [Euro].
Aka Mortschiladse: "Santa Esperanza". Ein Kosmos aus vielen Romanen.
Aus dem Georgischen von Natia Mikeladse-Bachsoliani. Mitteldeutscher Verlag,
Halle 2018. 760 S., geb., 36,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ach so, und außerdem war Krieg: Mit Aka Mortschiladse ist ein Autor aus Georgien zu entdecken, der sehr welthaltig, aber auch literarisch avanciert von den kaukasischen Wirren erzählt.
Wie soll das sein, wenn man ans Himmelstor kommt und eine Knarre in der Hand hält? Solches fragen sich die Figuren aus den Erzählungen Aka Mortschiladses, und dies mag einen ersten Hinweis geben auf die Mischung aus Komik und Kriegswirklichkeit, die seine Literatur durchzieht.
Denn ja, will es auch auf den ersten Blick nicht so scheinen oder zugespitzt klingen: Aka Mortschiladse ist ein Kriegsschriftsteller. Nur nicht so einer, der dieses Thema ständig in den Mittelpunkt stellt; er streift es eher beiläufig.
In dem Buch, das den 1966 in Tiflis geborenen Mortschiladse (nach anderer Schreibweise: Morchiladze) in Georgien berühmt gemacht hat, geraten die beiden Hauptfiguren aus Versehen in ein Kriegsgebiet: Die georgischen Schmalspurganoven Gio und Gogliko wollen eigentlich nur im Nachbarland Aserbaidschan Drogen kaufen, fahren aber, ohne es zu wissen, über die Grenze nach Bergkarabach und finden sich plötzlich mitten im blutigen Konflikt zwischen Tataren und Armeniern. Die Geschichte spielt im Jahr 1992, als in Georgien nach dem Zerfall der Sowjetunion selbst bürgerkriegsähnliche Zustände herrschen, von denen die jungen Männer allerdings vor ihrer Fahrt nicht allzu viel mitbekommen haben. Nun plötzlich wird mit einem Maschinengewehr auf ihren Wagen geschossen, dann werden sie von Tataren gefangengenommen: "Wir waren im Arsch. Ich hatte keine Ahnung, was abging, wohin sie uns brachten, was sie mit uns vorhatten."
Die Erzählung in der Ich-Form durch den prahlerisch und derb redenden Gio gibt dem Roman den Anstrich einer klassischen Road Novel, aber durch die unberechenbare Kriegssituation kippt die Stimmung bald ins Unheimliche. Als Gio bei einer Befreiungsaktion aus den Händen der Tataren in jene der Armenier gerät, sprechen die ihn zunächst jovial mit "Bruder" an, doch plötzlich ist er nicht mehr sicher, ob sie ihn nicht in Wahrheit als Gefangenen, als Verhandlungsmasse betrachten. Und das bringt ihn schließlich selbst in Versuchung, gewalttätig zu werden.
"Reise nach Karabach" ist ein Kurzroman, aber er hat dennoch Tiefe. Er endet mit der bitteren Erkenntnis, dass für den Protagonisten das Banditentum und die Todesgefahr mehr Reiz haben als sein Leben in Tiflis. Und die im Grunde melancholische Konstitution des Helden - er leidet am meisten an einer unglücklichen Liebe zu einer Prostituierten, die seine Familie nicht duldet, und droht zuletzt verrückt zu werden - wirft auch ein Licht auf die für Mortschiladse wesentliche Einsicht, dass die Geschichte ein nicht endendes Klagelied ist.
Diese Einsicht steht im Herzen von seinem literarischen Opus magnum "Santa Esperanza". Das sonderbare traditionelle Klagelied der fiktiven Inselgruppe im Schwarzen Meer, auf der das Buch spielt, scheint vom Gesang der Sirenen in der Odyssee abzustammen: Jedenfalls führt es für manche seiner Hörer zum Tod, in diesem Fall allerdings, weil sie sich unsterblich in die Sängerin verlieben und aus Verzweiflung umbringen.
Die phantasievoll ausgeschmückte Anekdote, die einen Bogen von der Antike zur heutigen Tourismusindustrie schlägt, zeigt, wie Mortschiladse die Welt der Märchen und Sagen augenzwinkernd mit jener der Moderne zu verknüpfen weiß: So gibt es neben Tonkonserven auf Santa Esperanza bald auch "Klageliederclubs", die allerdings von englischen Kolonialisten reglementiert werden.
Die Spannung zwischen autochthoner Kultur und Kontrolle von außen führt zum ernsten Kern des Buches. Auch hier kommt er beiläufig in die Erzählung, aber er kommt: der Krieg. Der erfundene Vielvölkerstaat mit der verheißungsvoll klingenden Hauptstadt Santa City, dessen Geschichte Mortschiladse unter vielfältigen Anspielungen auf georgische Geschichte und Kultur weit zurückspinnt und in dem sich außer Georgiern auch Osmanen, Genovesen und "Anglesen" tummeln, nicht gerechnet das fiktive Volk der "Sungalen": dieser Staat funktioniert leider nicht ohne gewalttätige Auseinandersetzungen, und am Ende (jedenfalls wenn man das Buch chronologisch liest), steht der Einmarsch einer britisch-türkisch-russischen Friedenstruppe.
Die konkrete historische Erzählsituation der "Reise nach Karabach" weicht in "Santa Esperanza" einer munter durch die Zeiten springenden. Der Erzähler in diesem "Kosmos aus Romanen", so der Untertitel, pflegt bisweilen einen distanzierten Ton wie im alten Epos, da können schon mal in drei Sätzen ganze Biographien oder sogar ganze Epochen abgehandelt werden. "Einige beginnen und andere beenden hier ihr Leben", heißt es etwa lakonisch in der Zusammenfassung eines der Unter-Bücher des Buches.
Ob man diese in linearer Reihenfolge lesen sollte, ist allerdings fraglich - und hier kommt der künstlerisch-experimentelle Zug von Mortschiladses Schreiben ins Spiel. Die Erzählung setzt sich zusammen aus vier mal neun einzelnen Heften, die nach den Symbolen Weinrebe, Brombeere, Distel und Säbel geordnet sind und die Struktur eines Kartenspiels haben.
Im Vorwort eines Erzählers, der als Exilgeorgier in London lebt und offenbar einiges mit dem Autor gemeinsam hat, wird die prinzipielle Eigenständigkeit jedes Erzählhefts betont und auch die Möglichkeit, die Hefte in verschiedener Reihenfolge oder ganz durcheinander zu lesen. Das erinnert an Romanexperimente wie die des magischen Realisten Julio Cortázar ("Rayuela") oder Italo Calvinos Tarotkarten-Roman "Das Schloss, darin sich Schicksale kreuzen". Die Aufhebung der Linearität hat aber wohl nicht nur spielerischen Selbstzweck, sondern erzielt im Hinblick auf das Kriegsthema einen bedrückenden Effekt: nämlich das Gefühl, dass nach dem Krieg immer schon wieder vor dem Krieg ist. Wenn also am Ende die viertausend Kampfstiefel der UN-Mission auf einer der Inseln landen und dort den Frieden garantieren sollen, weiß man schon aus früheren Heften, wie das misslingt.
Trotzdem ist auch Mortschiladses Großroman von Humor geprägt. Er entsteht etwa bei der karikierenden Darstellung eines britischen Reiseschriftstellers namens Edmond Clever und einer italienische Klatschspaltenjournalistin namens Monica Uso di Mare, die sich einen Reim auf das Leben der Esperanza-Inseln zu machen versuchen. Oder auch bei der bisweilen shandyhaft umständlichen Schilderung der dortigen Kaffeehaus- und Tabakpfeifenkultur zwischen morgen- und abendländischer Tradition. Auch der überraschende Wechsel der Textsorte vom Epos zum Theaterstück zum Wikipedia-Eintrag hat komische Effekte.
Der Märchenton und viele Anklänge an Schelmenromane verschiedener Literaturen und Epochen allerdings lassen - das war schon bei Cervantes oder Grimmelshausen früher nicht anders - leicht die bittere, manchmal katastrophale Realität dahinter vergessen. Dann plötzlich scheint sie grausam auf, wenn man begreift, dass man gerade die Schilderung eines Auftragsmordes in einem nicht enden wollenden Streit zwischen zwei seit Jahrhunderten verfeindeten Familien gelesen hat.
Vielleicht könnte man diese Erzählweise in einer etwas prekären Metapher mit dem vergleichen, was in Amerika "drive-by-shooting" heißt: ein Kugelhagel im Vorbeifahren mit potentiell verheerender Wirkung. Aber es bleibt nicht immer nur beim teilnahmslosen Bericht von solchen Katastrophen, man hört manchmal auch plötzlich bittere Philosophie durchsickern, etwa aus dem Mund einer weiteren Spiegelfigur des Autors, eines desillusionierten Schriftstellers names Luka: "Jeder Habenichts kann ein Gewehr halten. Zeigt mir aber einen Habenichts, der freiwillig darauf verzichtet."
JAN WIELE
Aka Morchiladze: "Reise nach Karabach". Roman.
Aus dem Georgischen von Iunona Guruli. Weidle Verlag, Bonn 2018. 174 S., br., 20,- [Euro].
Aka Mortschiladse: "Santa Esperanza". Ein Kosmos aus vielen Romanen.
Aus dem Georgischen von Natia Mikeladse-Bachsoliani. Mitteldeutscher Verlag,
Halle 2018. 760 S., geb., 36,- [Euro].
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