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Produktdetails
  • Verlag: Aufbau-Verlag
  • Originaltitel: Tobie des marais
  • Seitenzahl: 223
  • Abmessung: 220mm
  • Gewicht: 383g
  • ISBN-13: 9783351029128
  • ISBN-10: 3351029128
  • Artikelnr.: 24361728
  • Herstellerkennzeichnung
  • Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.07.2001

Der späte Erlöser
Geträumtes Glück: Sylvie Germain schickt Tobias einen Engel

Der Roman kommt aus Frankreich, und seine deutsche Übersetzung trägt einen nichtssagenden Titel: "Sara in der Nacht". Was immer das signalisieren soll, mit dem Buchinhalt hat es wenig zu tun. Sylvie Germain erzählt uns nämlich eine Geschichte der besonderen Art, gefügt aus Gedanken, die unseren Alltag übersteigen, befördert von einer Sprache, die zum Träumen verlockt. Sie selbst hat in ihrem Text formuliert, was man über ihre Ausdruckskunst sagen könnte: "Wie oft ist es Tobias geschehen, daß ihn der ungeheure Atem der Sprache ins Herz traf, ihn fast umwarf oder doch in ein Außersichsein zwischen Unheil und Ekstase versetzte. Manchmal genügen ein paar Gedichtzeilen, ein Satz Prosa, und die Zeit steht still, entläßt ein Moment aus ihrem andauernden Fluß, und in die trübsinnige Partitur der Zeit tritt ein morgendlich schwingendes Schweigen."

Tobias ist der Held dieses Romans und der Namengeber des Originaltitels. "Tobie des marais" heißt das Buch im Ursprungsland, Tobias der Sümpfe also oder auch der Moore. Die Bezeichnung meint einmal den wäßrigen Heimatboden, dem Tobias entstammt, ein Marschgebiet in Westfrankreich nahe der Atlantikküste. Zum anderen deuten sich darin die existentiellen Niederungen an, in denen der Held seinen Weg beginnen muß, denn er ist Kind und Erbe einer Menschengruppe, die von Europas Geschichte schlimm gebeutelt wurde. Der Roman träumt uns das Verhängnis vor, das über Tobias' Familie kam, lange bevor es ihn gab. Und geleitet uns träumend weiter zur Sphäre der Verheißungen, die des Helden warten, wenn er nur den rechten Weg findet.

Es ist eine Geschichte auf zwei Ebenen, einer realen und einer phantastischen, die sich nicht trennen lassen, denn sie bedingen einander. Den realen Part liefern die Schicksale einer jüdischen Familie, deren Urahne Deborah ihre galizische Heimat verließ, nachdem sie ihre Verwandtschaft in Pogromen verlor. Ihr Wunschland Amerika jedoch weist sie zurück. Mit ihrem Ehemann irrt sie lange durch Europa, bevor beide schließlich im westlichen Frankreich Zuflucht finden.

Doch Deborahs armseliges Glück dauert nicht lange. Im Ersten Weltkrieg verliert sie ihren Mann. Im Zweiten Weltkrieg sterben Tochter Wioletta und deren Verlobter den Partisanentod, wird das heimatliche "jiddische Land" im Osten endgültig zerstört. Die Tochter Rosa, vom mütterlichen wie vom eigenen Leid überwältigt, verliert den Verstand und verschwindet ins Nirgendwo. Für keinen der Toten und Verschollenen gibt es ein Grab, an dem Deborah, ihr Enkel Théodore und ihr Urenkel Tobias klagen könnten.

Es scheint, als seien die Erben ewiger Verfolgung zur ewigen Katastrophe verdammt, im Frieden nicht minder als im Krieg. Théodores Frau erliegt einem gräßlichen Unfall, ihr Reitpferd trägt einen kopflosen Körper heim. Der Knabe Tobias erstickt fast unter dem Leidensdruck, der von seinem Vater ausgeht. Spätestens hier hätten wir alle Voraussetzungen für ein trostloses Finale beisammen, wäre nicht von Anfang an die jüdische Familientragödie in einen weit größeren Zusammenhang geordnet worden.

Die Autorin folgt nämlich uralten literarischen Mustern, wie sie die biblischen Schriften bieten. Dort gibt es Geschichten genug, in denen das menschliche Leid unerträglich scheint, am Ende aber göttliche Gnade und zuverlässige Erlösung triumphieren. Sylvie Germain hat sich das Buch Tobias ausgesucht, ein deuterokanonisches Werk, das unter Katholiken viel, unter Protestanten wenig gilt, obwohl Martin Luther es hoch gepriesen hat.

Die Legende von Tobias, dem israelitischen Zwangsemigranten in Ninive, dem unbeirrbaren Gottesdiener und Menschenfreund, bildet das Rückgrat des Romans. Was nicht heißt, daß dessen Autorin sich aus der menschlichen Misere ihrer - und unserer - Zeit in die religiösen Verheißungen der Urvergangenheit flüchtet. Ihr Buch hat nichts mit Glaubenseifer irgendeiner Art zu tun. Sie geht mit ihrer Legende um wie mit einem Märchen, dessen Fabel ja auch keine Wirklichkeit bietet und dennoch Wahrheit enthält. Die Wahrheit nämlich, daß Tapferkeit und Güte, Unternehmungslust und Zuverlässigkeit nicht zwangsläufig scheitern müssen, daß sie auch zum Erfolg führen können - daß man also der Hoffnung niemals entsagen sollte.

Zu diesem Schluß gelangt nach vielen Anfechtungen auch der Tobias des Romans. Dabei hilft, schon früh dem Kind und erst recht später dem jungen Mann, das Wesen, das einst auch dem biblischen Tobias beistand: Raphael, der Erzengel, dessen Name bedeutet "Gott heilt". Raphael tritt an Tobias' Seite wenig engelhaft, eher als guter Kumpel auf, doch schimmert, was immer er tut, stets ein bißchen transirdische Besonderheit durch - der Märchenglanz eben über dem irdischen Alltag.

Und was vermittelt Raphael seinem Schützling? Er hilft ihm, die eigene Persönlichkeit zu entwickeln und sich zu ihr zu bekennen. Der mutig gewordene Tobias bekommt sein Dasein in den Griff, schließlich auch das seiner Lieben. Er erlöst, wie sein biblischer Vorgänger, das Mädchen Sara von einem angeblichen Fluch und gewinnt in ihr seine Eheliebste. Er sorgt dafür, daß der verarmte Théodore eine vor langem ausgeliehene Geldsumme zurückerhält, und heilt den siechen Vater, indem er ihn mit neuem Familienglück beschenkt. Aus den jämmerlichen Ersatzgräberchen, die Urahne Deborah einst für die verschollenen Toten grub, sprießen Blumen. In den Herzen wohnt endlich wieder Hoffnung.

Gewißheit freilich nicht. Der Roman stellt uns letzten Endes nicht auf festen Grund, er läßt vieles offen. So verlockend die Botschaft ist, die uns aus dem Märchen entgegentritt, sie tilgt die menschlichen Irrungen und Wirrungen nicht daraus und nicht die daraus resultierende Trauer. Die Geschichte des Tobias entläßt uns so: "Er legt seine Wange an die Schulter seines Vaters und lacht. Er lacht, weil er sonst vielleicht schreien und weinen müßte. Und sein Lachen fliegt mit der sprühenden Walzermelodie in die Nacht und wirbelt zum Himmel auf mit der Frage, ob so etwas sein darf. Und die Sonnenblumen auf Deborahs Grab recken ihre Köpfe in den Wind wie Fragezeichen."

SABINE BRANDT

Sylvie Germain: "Sara in der Nacht". Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Christel Gersch. Aufbau-Verlag, Berlin 2001. 223 S., geb., 36,90 DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Sabine Brandt ist recht begeistert von diesem fast biblisch wirkenden Roman - sie nennt ihn eine "Geschichte der besonderen Art, gefügt aus Gedanken, die unseren Alltag übersteigen, befördert von einer Sprache, die zum Träumen verlockt". Es geht um die schicksalsreiche Familiengeschichte einer jüdischen Familie, die auf einer sehr realen ebenso wie einer phantastischen Ebene erzählt wird und bei der der Enkel Tobias, auf dessen Schultern das ganze geballte Leid lastet, alles zum Guten kehrt. Natürlich nicht mit einem einfachen Happy End, sondern mit einem Ende, das vieles offen lässt, aber trotzdem Hoffnung spendet, wie der Leser erfährt. Das "Rückgrat des Romans" bilde dann auch die Geschichte vom biblischen Tobias, und die Art und Weise, wie die Autorin diese beiden Erzählebenen, die reale und die märchenhaft inspirierte, verbindet, gefällt der Rezensentin ausgesprochen gut.

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