Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.05.2011Kein ethnischer Krieg
Tiefgreifende Erschütterungen im multikulturellen Milieu Sarajevos in den Jahren 1941 bis 1944
Am 15. April 1941, gut eine Woche nach dem deutschen Angriff auf Jugoslawien, marschierte die Wehrmacht in Sarajevo ein. Die bosnische Metropole hatte zu diesem Zeitpunkt etwa 80 000 Einwohner, davon 34 Prozent Muslime, 29 Prozent Kroaten, 25 Prozent Serben und 10 Prozent Juden sowie weitere Volksgruppen. Nach alter osmanischer Sitte war die soziale Ordnung primär durch Konfessionalität definiert: Wer zu wem gehörte, war durch Geburt, Religion, Alltagssitten und Etikette festgeschrieben. Gemeinsam war allen ein über Generationen historisch gewachsenes Heimatgefühl, das auf Toleranz und akzeptierte Regeln geordneten Miteinanders gründete.
"Sarajevo 1941-1945" beschreibt die tiefgreifenden Erschütterungen dieses multikulturellen Milieus durch die von der faschistischen Ustascha errichtete "Neue Ordnung" im sogenannten Unabhängigen Staat Kroatien. Angestiftet von den deutschen Besatzern, ging das marionettenhafte Regime von Hitlers Gnaden mit "ethnischen Säuberungen" gnadenlos gegen "Nichtarier" vor. Tausende Juden und Roma wurden deportiert und ermordet. Auch die orthodoxen Serben wurden systematisch verfolgt. Die katholische Kirche, die mit den Ustascha im Bunde stand, trieb die Assimilation durch Massentaufen voran, da - wie Erzbischof Ivan Saric im Juni 1941 schrieb - "es unser Wunsch ist, dass dieser kroatische Staat ein katholischer Staat ist". Nicht zuletzt gerieten die Muslime angesichts der Staatsideologie vom homogenen Großkroatien in eine prekäre Lage. Anfangs mit Autonomieversprechen vom neuen Regime hofiert, wurden sie bald zu Staatsbürgern zweiter Klasse degradiert.
Die Autorin zeichnet ein differenziertes Bild der städtischen Gesellschaft Sarajevos im Krieg und schildert anschaulich, wie sich kroatische und muslimische Eliten aus unterschiedlichen Motiven vom Ustascha-System korrumpieren ließen. Durch das Brennglas der Mikrohistorie zeigt sie, dass Serben, Kroaten und Muslime keinen ethnischen Krieg kämpften, sondern dass innerhalb jeder dieser Gemeinschaften ganz unterschiedliche Orientierungen vorherrschten, die zwischen Kollaboration, Apathie, Resistenz und Widerstand schwankten.
Emily Greble wendet sich ab von der immer noch vorherrschenden Geschichtserzählung des Zweiten Weltkriegs, die sich überwiegend auf den Bürgerkrieg zwischen Ustascha, Tschetniks und Partisanen konzentriert. Stattdessen beleuchtet sie die Rolle der Gemeinschaften und ihre wechselseitigen Beziehungen in der bosnischen Metropole, wo die Menschen nicht nach großen Ideologien, sondern nach Überlebensstrategien Ausschau hielten. Die Autorin argumentiert, dass alte Werte und Normen, die das multikulturelle Zusammenleben über Jahrhunderte prägten, selbst die schlimmsten Kriegsexzesse überlebten. Ein multiethnisch fundierter "Lokalpatriotismus" habe stets Priorität vor politischer Loyalität gehabt. An diesem Argument, das die Autorin immer wieder vorträgt, wird deutlich, wie stark ihr Buch von den Ereignissen der neunziger Jahre beeinflusst ist, als die "wohlwollende Stadt" jahrelang unter serbischer Belagerung stand und westliche Intellektuelle ein idealisiertes Bild des bosnischen Multikulturalismus priesen. Tatsächlich berichteten die Quellen schon während des Zweiten Weltkrieges von ganz widersprüchlichen Erfahrungen: sowohl vom menschlichen Erfindungsgeist, wenn es darum ging, ethnisch Verfolgte dem Zugriff der Staatsorgane zu entwinden, als auch von Opportunismus, Habsucht und Neid, der unter den Ausnahmebedingungen des Krieges aus ehemaligen Nachbarn Feinde machte.
Die Leistung des Buches ist es, zu zeigen, wie Besatzung und Bürgerkrieg in kurzer Zeit die alte, konfessionell geprägte Sozialordnung aufweichten. Religionsführer verspielten ihre moralische Autorität, indem sie sich zu Handlagern faschistischer Verfolgung und Vernichtung machten, und der Ustascha-Staat zerstörte mit seiner Rassepolitik das traditionelle Verständnis, dass religiöse Identität und Praxis eine Privatangelegenheit sei. Mit Fortschreiten des Krieges bemächtigte sich zudem der Nationalismus immer stärker der alten Religionen, Glaubensidentität wurde in Volkszugehörigkeit umgedeutet. Nicht zuletzt übernahmen neue säkulare Institutionen Aufgaben in Sozialfürsorge und Bildung, die vordem den Glaubensgemeinschaften oblagen, wodurch diese an gesellschaftlicher Bedeutung und Legitimität einbüßten. Aus all diesen Gründen wurde die konfessionelle Sozialordnung bereits während der Kriegsjahre durch moderne Staatlichkeit verdrängt.
Das Buch ist sorgfältig und auf breiter Quellenbasis verfasst, jedoch ganz aus der Binnenperspektive der besetzten Stadt geschrieben, wodurch manche größere Zusammenhänge auf der Strecke bleiben. Der Eigensinn Sarajevos war keineswegs typisch, da die hohe deutsche und kroatische Truppenpräsenz die Partisanen fernhielt und der Bürgerkrieg erst in den letzten Kriegsmonaten auf die Stadt übergriff. Etwas zu blauäugig interpretiert Frau Greble die Motive lokaler Akteure, etwa wenn sie den persönlichen Brief an Hitler, mit dem sich Bürgermeister Mustafa Softic im November 1942 den Nationalsozialisten andiente, um einen ethnisch homogenen muslimischen Staat auf bosnischem Boden zu erbitten, als Akt der Selbstbehauptung kommentiert. Die Gründung der muslimischen Waffen-SS-Division Handschar im März 1943 hätte man in den größeren Kontext nationalsozialistischer Okkupationspraxis einordnen müssen, um zu verstehen, dass es sich nicht primär um eine von den Muslimen erwünschte Sicherheitsmaßnahme, sondern um eine konzertierte Aktion Himmlers handelte, durch die Rekrutierung von "Hilfsvölkern" die militärische Niederlage in den besetzten Gebieten doch noch abzuwenden. Aber vergeblich bäumte sich das untergehende Ustascha-Regime mit massiven Terrormaßnahmen gegen die Zivilbevölkerung im letzten Kriegsjahr noch einmal auf. Am Jahrestag des deutschen Angriffs, am 6. April 1945, marschierten Titos Partisanen in Sarajevo ein.
MARIE-JANINE CALIC
Emily Greble: Sarajevo, 1941-1945. Muslims, Christians, and Jews in Hitler's Europe. Cornell University Press, Ithaca 2011. 304 S., 27,99 [Euro].
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Tiefgreifende Erschütterungen im multikulturellen Milieu Sarajevos in den Jahren 1941 bis 1944
Am 15. April 1941, gut eine Woche nach dem deutschen Angriff auf Jugoslawien, marschierte die Wehrmacht in Sarajevo ein. Die bosnische Metropole hatte zu diesem Zeitpunkt etwa 80 000 Einwohner, davon 34 Prozent Muslime, 29 Prozent Kroaten, 25 Prozent Serben und 10 Prozent Juden sowie weitere Volksgruppen. Nach alter osmanischer Sitte war die soziale Ordnung primär durch Konfessionalität definiert: Wer zu wem gehörte, war durch Geburt, Religion, Alltagssitten und Etikette festgeschrieben. Gemeinsam war allen ein über Generationen historisch gewachsenes Heimatgefühl, das auf Toleranz und akzeptierte Regeln geordneten Miteinanders gründete.
"Sarajevo 1941-1945" beschreibt die tiefgreifenden Erschütterungen dieses multikulturellen Milieus durch die von der faschistischen Ustascha errichtete "Neue Ordnung" im sogenannten Unabhängigen Staat Kroatien. Angestiftet von den deutschen Besatzern, ging das marionettenhafte Regime von Hitlers Gnaden mit "ethnischen Säuberungen" gnadenlos gegen "Nichtarier" vor. Tausende Juden und Roma wurden deportiert und ermordet. Auch die orthodoxen Serben wurden systematisch verfolgt. Die katholische Kirche, die mit den Ustascha im Bunde stand, trieb die Assimilation durch Massentaufen voran, da - wie Erzbischof Ivan Saric im Juni 1941 schrieb - "es unser Wunsch ist, dass dieser kroatische Staat ein katholischer Staat ist". Nicht zuletzt gerieten die Muslime angesichts der Staatsideologie vom homogenen Großkroatien in eine prekäre Lage. Anfangs mit Autonomieversprechen vom neuen Regime hofiert, wurden sie bald zu Staatsbürgern zweiter Klasse degradiert.
Die Autorin zeichnet ein differenziertes Bild der städtischen Gesellschaft Sarajevos im Krieg und schildert anschaulich, wie sich kroatische und muslimische Eliten aus unterschiedlichen Motiven vom Ustascha-System korrumpieren ließen. Durch das Brennglas der Mikrohistorie zeigt sie, dass Serben, Kroaten und Muslime keinen ethnischen Krieg kämpften, sondern dass innerhalb jeder dieser Gemeinschaften ganz unterschiedliche Orientierungen vorherrschten, die zwischen Kollaboration, Apathie, Resistenz und Widerstand schwankten.
Emily Greble wendet sich ab von der immer noch vorherrschenden Geschichtserzählung des Zweiten Weltkriegs, die sich überwiegend auf den Bürgerkrieg zwischen Ustascha, Tschetniks und Partisanen konzentriert. Stattdessen beleuchtet sie die Rolle der Gemeinschaften und ihre wechselseitigen Beziehungen in der bosnischen Metropole, wo die Menschen nicht nach großen Ideologien, sondern nach Überlebensstrategien Ausschau hielten. Die Autorin argumentiert, dass alte Werte und Normen, die das multikulturelle Zusammenleben über Jahrhunderte prägten, selbst die schlimmsten Kriegsexzesse überlebten. Ein multiethnisch fundierter "Lokalpatriotismus" habe stets Priorität vor politischer Loyalität gehabt. An diesem Argument, das die Autorin immer wieder vorträgt, wird deutlich, wie stark ihr Buch von den Ereignissen der neunziger Jahre beeinflusst ist, als die "wohlwollende Stadt" jahrelang unter serbischer Belagerung stand und westliche Intellektuelle ein idealisiertes Bild des bosnischen Multikulturalismus priesen. Tatsächlich berichteten die Quellen schon während des Zweiten Weltkrieges von ganz widersprüchlichen Erfahrungen: sowohl vom menschlichen Erfindungsgeist, wenn es darum ging, ethnisch Verfolgte dem Zugriff der Staatsorgane zu entwinden, als auch von Opportunismus, Habsucht und Neid, der unter den Ausnahmebedingungen des Krieges aus ehemaligen Nachbarn Feinde machte.
Die Leistung des Buches ist es, zu zeigen, wie Besatzung und Bürgerkrieg in kurzer Zeit die alte, konfessionell geprägte Sozialordnung aufweichten. Religionsführer verspielten ihre moralische Autorität, indem sie sich zu Handlagern faschistischer Verfolgung und Vernichtung machten, und der Ustascha-Staat zerstörte mit seiner Rassepolitik das traditionelle Verständnis, dass religiöse Identität und Praxis eine Privatangelegenheit sei. Mit Fortschreiten des Krieges bemächtigte sich zudem der Nationalismus immer stärker der alten Religionen, Glaubensidentität wurde in Volkszugehörigkeit umgedeutet. Nicht zuletzt übernahmen neue säkulare Institutionen Aufgaben in Sozialfürsorge und Bildung, die vordem den Glaubensgemeinschaften oblagen, wodurch diese an gesellschaftlicher Bedeutung und Legitimität einbüßten. Aus all diesen Gründen wurde die konfessionelle Sozialordnung bereits während der Kriegsjahre durch moderne Staatlichkeit verdrängt.
Das Buch ist sorgfältig und auf breiter Quellenbasis verfasst, jedoch ganz aus der Binnenperspektive der besetzten Stadt geschrieben, wodurch manche größere Zusammenhänge auf der Strecke bleiben. Der Eigensinn Sarajevos war keineswegs typisch, da die hohe deutsche und kroatische Truppenpräsenz die Partisanen fernhielt und der Bürgerkrieg erst in den letzten Kriegsmonaten auf die Stadt übergriff. Etwas zu blauäugig interpretiert Frau Greble die Motive lokaler Akteure, etwa wenn sie den persönlichen Brief an Hitler, mit dem sich Bürgermeister Mustafa Softic im November 1942 den Nationalsozialisten andiente, um einen ethnisch homogenen muslimischen Staat auf bosnischem Boden zu erbitten, als Akt der Selbstbehauptung kommentiert. Die Gründung der muslimischen Waffen-SS-Division Handschar im März 1943 hätte man in den größeren Kontext nationalsozialistischer Okkupationspraxis einordnen müssen, um zu verstehen, dass es sich nicht primär um eine von den Muslimen erwünschte Sicherheitsmaßnahme, sondern um eine konzertierte Aktion Himmlers handelte, durch die Rekrutierung von "Hilfsvölkern" die militärische Niederlage in den besetzten Gebieten doch noch abzuwenden. Aber vergeblich bäumte sich das untergehende Ustascha-Regime mit massiven Terrormaßnahmen gegen die Zivilbevölkerung im letzten Kriegsjahr noch einmal auf. Am Jahrestag des deutschen Angriffs, am 6. April 1945, marschierten Titos Partisanen in Sarajevo ein.
MARIE-JANINE CALIC
Emily Greble: Sarajevo, 1941-1945. Muslims, Christians, and Jews in Hitler's Europe. Cornell University Press, Ithaca 2011. 304 S., 27,99 [Euro].
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