Mit Sarajevo verbinden sich vielfältige Assoziationen: Stadt des Attentats von 1914, Stadt der Winterolympiade von 1984, belagerte Stadt 1992-1996, Stadt der Toleranz und Stadt des Hasses, "Damaskus des Nordens", "Jerusalem Europas" und "Klein-Jerusalem". Die Geschichte Sarajevos ist zu großen Teilen eine Geschichte von Zerstörung und Wiederaufbau, erneuter Zerstörung und erneutem Wiederaufbau. Es ist eine Geschichte von Multikulturalität und Interkulturalität. Das jahrhundertelange Nebeneinander, Miteinander und Gegeneinander von Muslimen, Orthodoxen, Katholiken und Juden kennzeichnet Sarajevo wie kaum eine andere Stadt in Europa. Holm Sundhaussens umfangreiche Stadtgeschichte reiht sich in seine bereits zu Standardwerken avancierten Bücher über Jugoslawien und Serbien ein.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.03.2014Krieg und
Kultur
Holm Sundhaussens großartige Biografie der
einst kosmopolitischen Stadt Sarajewo
VON FLORIAN HASSEL
Evliya Çelebi war kein leicht zu beeindruckender Beobachter. Konstantinopel und Damaskus, Tiflis und Baku, Rotterdam und Wien – kaum jemand hatte so viel gesehen wie Çelibi. Doch als der berühmte Reiseschriftsteller 1658 nach Sarajewo kam, damals die wichtigste Stadt im Westen des Osmanischen Reiches, war er tief beeindruckt: von mehr als 1000 Geschäften mit Waren aus Indien und Arabien, Polen und Venedig; von Schulen und Armenküchen, Karawansereien und Moscheen, Brunnen, Bädern und Tausenden Gärten – alle mit eigener Wasserleitung. Es gebe viele eindrucksvolle Städte, aber Sarajewo sei fortschrittlicher, schöner und lebendiger als alle anderen, schloss der Weitgereiste.
Die moderne Erinnerung der Hauptstadt von Bosnien und Herzegowina bestimmen vor allem einschneidende Gewaltakte: Das Attentat auf den österreichischen Erzherzog und Thronfolger Franz Ferdinand am 28. Juni 1914, der Auslöser des Ersten Weltkriegs. Und die Belagerung Sarajewos durch die bosnischen Serben von 1992 bis 1995. Heute sind die meisten Zerstörungen, die rund zwei Millionen Granaten anrichteten, zumindest optisch beseitigt.
Sarajewo begeistert wieder, nicht nur mit seiner Lage inmitten von Bergen und Hügeln, sondern auch mit der einzigartigen Altstadt zu beiden Seiten des Miljacka. Während andere Balkanstädte wie Belgrad ihr architektonisches Erbe der osmanischen Zeit weitgehend beseitigten, ist es in Sarajewo erhalten, samt Moscheen, orthodoxen Kirchen und katholischen Kathedralen. Denn Sarajewo stand über Jahrhunderte nicht für ausgrenzenden Nationalismus, sondern für das Gegenteil: ein friedliches Zusammenleben von Muslimen und Katholiken, Orthodoxen und Juden. „Nur wenige Städte in Europa können Vergleichbares vorweisen. Jedenfalls nicht über einen so langen Zeitraum“, stellt der Berliner Historiker Holm Sundhaussen fest.
Sundhaussen, emeritierter Professor für südosteuropäische Geschichte an der Freien Universität Berlin, ist der Doyen der deutschen Balkanforschung. 2012 legte er das – Politik und Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur souverän zusammenführende – Buch „Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten 1943–2011“ vor, sein Meisterwerk. Jetzt erscheint, rechtzeitig zum
100. Jahrestag von Attentat und Kriegsausbruch, seine Geschichte Sarajewos. Sie steht nun als neuer Leuchtturm in der Leselandschaft. Daran reicht allein die nur auf Englisch erhältliche Sarajewo-Geschichte Robert Donias von 2006 heran. Der US-Historiker verbrachte einige Zeit als Doktorand in Sarajewo und kehrte seither oft zurück. Donias Buch lebt nicht nur von Archivrecherche, sondern auch von Zeitzeugenschaft: Seine detaillierte, packende Schilderung etwa der Belagerung Sarajewos ist der distanzierteren Sundhaussens überlegen. Die knapp viereinhalb Jahrhunderte unter osmanischer Herrschaft aber handelt Donia auf nur 28 Seiten ab.
Sundhaussen dagegen gibt der osmanischen Zeit breiten Raum. Glanzvoll scheint das Sarajewo auf, das unter der Herrschaft des Sultans gewiss kein Schmelztiegel gleichberechtigter Bürger war, wohl aber eine polyglotte Stadt, in der Muslime dominierten, doch Katholiken, Orthodoxe und Juden ebenfalls anerkannt wurden. Eine Stadt, deren Händler und Handwerker vor allem im Dienst der osmanischen Armee beste Geschäfte machten. Eine Stadt, in der Gouverneure, Feldherren oder Händler ihren Reichtum oft in Stiftungen steckten, die bis zum 20. Jahrhundert überdauerten und deren Schulen, Häuser und mehr als 100 Moscheen Sarajewo zu der vom Großreisenden Çelebi beschriebenen Architekturperle machten. Bei aller Koexistenz war das Leben in Sarajewo ein Neben-, kein Miteinander: Während etwa die islamischen Gelehrten aus Sarajewo problemlos mit anderen Wissenden der islamischen Welt korrespondierten, hatten sie in der eigenen Stadt kaum Kontakt zu katholischen oder jüdischen Gelehrten.
So wie das Osmanische Reich vom
17. Jahrhundert an gegenüber dem nun dynamischeren Westeuropa zurückfiel und osmanische Verwaltung schließlich gleichbedeutend mit Rückständigkeit, Ineffizienz und Korruption wurde, erging es schließlich auch Sarajewo. Die Stadt – und erst recht ihr jahrhundertelang vernachlässigtes Hinterland – war heruntergekommen und zurückgeblieben, als das Kaiserreich Österreich-Ungarn sie nach dem Berliner Kongress 1878 besetzte. Das änderte sich gründlich. Benjamin von Kállay, als k.u.k-Finanzminister auch für Bosnien zuständig, ließ die erste Eisenbahn bauen, überzog Sarajewo mit neuen Fabriken und imposanten Bürgerhäusern nach Wiener Vorbild. In vier Jahrzehnten österreichisch-ungarischer Herrschaft wurde Sarajewo mehr modernisiert als binnen der zwei vorhergehenden Jahrhunderte.
Bei einem anderen Aufbauprojekt aber scheiterte der autokratisch regierende Kállay ebenso wie seine Vorgänger und Nachfolger: bei der Schaffung eines übergreifenden bosnischen Nationalbewusstseins. Stattdessen unterhielten Serben und Kroaten – wie andere Europäer zur gleichen Zeit – in Gesangsvereinen, Sportgruppen oder Studentenclubs nationalistisch-ausgrenzende Visionen. Und wie die Osmanen vernachlässigten auch die Österreicher den großen, bäuerlich geprägten Rest Bosniens. So war es kein historischer Betriebsunfall, dass Gavrilo Princip, der Attentäter des 28. Juni 1914, aus einer bettelarmen Bauernfamilie bosnischer Serben stammte. Serbische Nationalisten wollten seit dem 19. Jahrhundert alle Gebiete, wo Serben lebten, in einem Großserbien vereinigen.
Am Ende des Ersten Weltkriegs gehörten die Serben als Herren des neuen Königreichs Jugoslawien zu den Gewinnern und schluckten Bosnien. Sarajewo stagnierte. Einige Jahrzehnte später kamen neue Herren, es wurde Teil des faschistischen Ustascha-Kroatiens von Hitlers Gnaden.
7000 Juden aus Sarajewo wurden ermordet. Auch an den Serben beging die Ustascha nicht nur in Sarajewo Völkermord, assistiert von bosnischen Muslimen, die
SS-Chef Himmler als „Muselgermanen“ zum Dienst in der SS-Division „Handschar“ presste. Bei solchem Ballast war es fast ein Wunder, dass Sarajewo im kommunistischen Jugoslawien trotz mancher politischen Repression nicht nur mit neuen Fabriken und Instituten, Museen, Bibliotheken und einer Universität seinen dritten Aufschwung erlebte, sondern auch wieder zu einer gemischten Stadt aus Muslimen, Serben und Kroaten wurde.
Doch nicht alle lebten tatsächlich miteinander: Dem Psychiater Radovan Karadžić blieb das multikulturelle Leben trotz vieler Jahre in Sarajewo so fremd, dass er 1991 problemlos wieder in die übelste Traditionslinie des serbischen Nationalismus zurückfand und den Vertreibungs- und Mordfeldzug in Bosnien und die Belagerung Sarajewos anführte.
Und wo steht Sarajewo heute? Der Wiederaufbau hat die Altstadt wieder zum Städtebaujuwel gemacht, das mit Theater, Film- oder Jazzfestivals die Touristen anzieht. So wird es wohl auch sein, wenn im Juni die Wiener Philharmoniker aufspielen und das im Krieg von den Serben in Brand geschossene, in jahrelanger Arbeit restaurierte Rathaus wiedereröffnet wird. Eine vereinende Stadt aber ist Sarajewo kaum noch. Serben stellen nicht mehr ein Viertel, sondern nur noch sieben Prozent der Einwohner, Kroaten zwölf Prozent, doch vier Fünftel sind bosnische Muslime (Bosniaken). Wie das zwischen der Serbischen Republik und der bosniakisch-kroatischen Föderation geteilte Bosnien insgesamt ist auch Sarajewo „auf dem Weg zu einer ethnisch homogenen Bevölkerung und droht, seine ,Seele‘ zu verlieren“, befürchtet Sundhaussen. So dürften nur große Optimisten glauben, dass die Stadt bald wieder nicht bloß mit Architektur prunkt, sondern auch mit dem multiethnischen Geist seiner großen Vergangenheit glänzt.
Holm Sundhaussen : Sarajevo. Die Geschichte ei-ner Stadt. Böhlau Verlag, Köln 2014. 410 Seiten, 34,90 Euro.
Sundhaussen befürchtet,
heute drohe Sarajewo, seine
„Seele“ zu verlieren
Sarajewo im 19. Jahrhundert. Die k.u.k.-Monarchie prägte das herrliche Bild der Stadt.
An der Lateinerbrücke, die sich über den Fluss Miljacka spannt, wurde 1914 der österreichische Thronfolger erschossen.
Damit begann der Erste Weltkrieg. Danach erlebte Sarajewo eine neue Blüte und neue Gewalt. Foto: laif
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Kultur
Holm Sundhaussens großartige Biografie der
einst kosmopolitischen Stadt Sarajewo
VON FLORIAN HASSEL
Evliya Çelebi war kein leicht zu beeindruckender Beobachter. Konstantinopel und Damaskus, Tiflis und Baku, Rotterdam und Wien – kaum jemand hatte so viel gesehen wie Çelibi. Doch als der berühmte Reiseschriftsteller 1658 nach Sarajewo kam, damals die wichtigste Stadt im Westen des Osmanischen Reiches, war er tief beeindruckt: von mehr als 1000 Geschäften mit Waren aus Indien und Arabien, Polen und Venedig; von Schulen und Armenküchen, Karawansereien und Moscheen, Brunnen, Bädern und Tausenden Gärten – alle mit eigener Wasserleitung. Es gebe viele eindrucksvolle Städte, aber Sarajewo sei fortschrittlicher, schöner und lebendiger als alle anderen, schloss der Weitgereiste.
Die moderne Erinnerung der Hauptstadt von Bosnien und Herzegowina bestimmen vor allem einschneidende Gewaltakte: Das Attentat auf den österreichischen Erzherzog und Thronfolger Franz Ferdinand am 28. Juni 1914, der Auslöser des Ersten Weltkriegs. Und die Belagerung Sarajewos durch die bosnischen Serben von 1992 bis 1995. Heute sind die meisten Zerstörungen, die rund zwei Millionen Granaten anrichteten, zumindest optisch beseitigt.
Sarajewo begeistert wieder, nicht nur mit seiner Lage inmitten von Bergen und Hügeln, sondern auch mit der einzigartigen Altstadt zu beiden Seiten des Miljacka. Während andere Balkanstädte wie Belgrad ihr architektonisches Erbe der osmanischen Zeit weitgehend beseitigten, ist es in Sarajewo erhalten, samt Moscheen, orthodoxen Kirchen und katholischen Kathedralen. Denn Sarajewo stand über Jahrhunderte nicht für ausgrenzenden Nationalismus, sondern für das Gegenteil: ein friedliches Zusammenleben von Muslimen und Katholiken, Orthodoxen und Juden. „Nur wenige Städte in Europa können Vergleichbares vorweisen. Jedenfalls nicht über einen so langen Zeitraum“, stellt der Berliner Historiker Holm Sundhaussen fest.
Sundhaussen, emeritierter Professor für südosteuropäische Geschichte an der Freien Universität Berlin, ist der Doyen der deutschen Balkanforschung. 2012 legte er das – Politik und Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur souverän zusammenführende – Buch „Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten 1943–2011“ vor, sein Meisterwerk. Jetzt erscheint, rechtzeitig zum
100. Jahrestag von Attentat und Kriegsausbruch, seine Geschichte Sarajewos. Sie steht nun als neuer Leuchtturm in der Leselandschaft. Daran reicht allein die nur auf Englisch erhältliche Sarajewo-Geschichte Robert Donias von 2006 heran. Der US-Historiker verbrachte einige Zeit als Doktorand in Sarajewo und kehrte seither oft zurück. Donias Buch lebt nicht nur von Archivrecherche, sondern auch von Zeitzeugenschaft: Seine detaillierte, packende Schilderung etwa der Belagerung Sarajewos ist der distanzierteren Sundhaussens überlegen. Die knapp viereinhalb Jahrhunderte unter osmanischer Herrschaft aber handelt Donia auf nur 28 Seiten ab.
Sundhaussen dagegen gibt der osmanischen Zeit breiten Raum. Glanzvoll scheint das Sarajewo auf, das unter der Herrschaft des Sultans gewiss kein Schmelztiegel gleichberechtigter Bürger war, wohl aber eine polyglotte Stadt, in der Muslime dominierten, doch Katholiken, Orthodoxe und Juden ebenfalls anerkannt wurden. Eine Stadt, deren Händler und Handwerker vor allem im Dienst der osmanischen Armee beste Geschäfte machten. Eine Stadt, in der Gouverneure, Feldherren oder Händler ihren Reichtum oft in Stiftungen steckten, die bis zum 20. Jahrhundert überdauerten und deren Schulen, Häuser und mehr als 100 Moscheen Sarajewo zu der vom Großreisenden Çelebi beschriebenen Architekturperle machten. Bei aller Koexistenz war das Leben in Sarajewo ein Neben-, kein Miteinander: Während etwa die islamischen Gelehrten aus Sarajewo problemlos mit anderen Wissenden der islamischen Welt korrespondierten, hatten sie in der eigenen Stadt kaum Kontakt zu katholischen oder jüdischen Gelehrten.
So wie das Osmanische Reich vom
17. Jahrhundert an gegenüber dem nun dynamischeren Westeuropa zurückfiel und osmanische Verwaltung schließlich gleichbedeutend mit Rückständigkeit, Ineffizienz und Korruption wurde, erging es schließlich auch Sarajewo. Die Stadt – und erst recht ihr jahrhundertelang vernachlässigtes Hinterland – war heruntergekommen und zurückgeblieben, als das Kaiserreich Österreich-Ungarn sie nach dem Berliner Kongress 1878 besetzte. Das änderte sich gründlich. Benjamin von Kállay, als k.u.k-Finanzminister auch für Bosnien zuständig, ließ die erste Eisenbahn bauen, überzog Sarajewo mit neuen Fabriken und imposanten Bürgerhäusern nach Wiener Vorbild. In vier Jahrzehnten österreichisch-ungarischer Herrschaft wurde Sarajewo mehr modernisiert als binnen der zwei vorhergehenden Jahrhunderte.
Bei einem anderen Aufbauprojekt aber scheiterte der autokratisch regierende Kállay ebenso wie seine Vorgänger und Nachfolger: bei der Schaffung eines übergreifenden bosnischen Nationalbewusstseins. Stattdessen unterhielten Serben und Kroaten – wie andere Europäer zur gleichen Zeit – in Gesangsvereinen, Sportgruppen oder Studentenclubs nationalistisch-ausgrenzende Visionen. Und wie die Osmanen vernachlässigten auch die Österreicher den großen, bäuerlich geprägten Rest Bosniens. So war es kein historischer Betriebsunfall, dass Gavrilo Princip, der Attentäter des 28. Juni 1914, aus einer bettelarmen Bauernfamilie bosnischer Serben stammte. Serbische Nationalisten wollten seit dem 19. Jahrhundert alle Gebiete, wo Serben lebten, in einem Großserbien vereinigen.
Am Ende des Ersten Weltkriegs gehörten die Serben als Herren des neuen Königreichs Jugoslawien zu den Gewinnern und schluckten Bosnien. Sarajewo stagnierte. Einige Jahrzehnte später kamen neue Herren, es wurde Teil des faschistischen Ustascha-Kroatiens von Hitlers Gnaden.
7000 Juden aus Sarajewo wurden ermordet. Auch an den Serben beging die Ustascha nicht nur in Sarajewo Völkermord, assistiert von bosnischen Muslimen, die
SS-Chef Himmler als „Muselgermanen“ zum Dienst in der SS-Division „Handschar“ presste. Bei solchem Ballast war es fast ein Wunder, dass Sarajewo im kommunistischen Jugoslawien trotz mancher politischen Repression nicht nur mit neuen Fabriken und Instituten, Museen, Bibliotheken und einer Universität seinen dritten Aufschwung erlebte, sondern auch wieder zu einer gemischten Stadt aus Muslimen, Serben und Kroaten wurde.
Doch nicht alle lebten tatsächlich miteinander: Dem Psychiater Radovan Karadžić blieb das multikulturelle Leben trotz vieler Jahre in Sarajewo so fremd, dass er 1991 problemlos wieder in die übelste Traditionslinie des serbischen Nationalismus zurückfand und den Vertreibungs- und Mordfeldzug in Bosnien und die Belagerung Sarajewos anführte.
Und wo steht Sarajewo heute? Der Wiederaufbau hat die Altstadt wieder zum Städtebaujuwel gemacht, das mit Theater, Film- oder Jazzfestivals die Touristen anzieht. So wird es wohl auch sein, wenn im Juni die Wiener Philharmoniker aufspielen und das im Krieg von den Serben in Brand geschossene, in jahrelanger Arbeit restaurierte Rathaus wiedereröffnet wird. Eine vereinende Stadt aber ist Sarajewo kaum noch. Serben stellen nicht mehr ein Viertel, sondern nur noch sieben Prozent der Einwohner, Kroaten zwölf Prozent, doch vier Fünftel sind bosnische Muslime (Bosniaken). Wie das zwischen der Serbischen Republik und der bosniakisch-kroatischen Föderation geteilte Bosnien insgesamt ist auch Sarajewo „auf dem Weg zu einer ethnisch homogenen Bevölkerung und droht, seine ,Seele‘ zu verlieren“, befürchtet Sundhaussen. So dürften nur große Optimisten glauben, dass die Stadt bald wieder nicht bloß mit Architektur prunkt, sondern auch mit dem multiethnischen Geist seiner großen Vergangenheit glänzt.
Holm Sundhaussen : Sarajevo. Die Geschichte ei-ner Stadt. Böhlau Verlag, Köln 2014. 410 Seiten, 34,90 Euro.
Sundhaussen befürchtet,
heute drohe Sarajewo, seine
„Seele“ zu verlieren
Sarajewo im 19. Jahrhundert. Die k.u.k.-Monarchie prägte das herrliche Bild der Stadt.
An der Lateinerbrücke, die sich über den Fluss Miljacka spannt, wurde 1914 der österreichische Thronfolger erschossen.
Damit begann der Erste Weltkrieg. Danach erlebte Sarajewo eine neue Blüte und neue Gewalt. Foto: laif
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Rezensentin Judith Leister liest das Buch des Südosteuropa-Historikers Holms Sundhaussen über Sarajewo mit Begeisterung und großem Gewinn. Farbig und leicht verständlich, so Leister, breitet der Autor die Biografie der Stadt Sarajewo vor dem Leser aus. Deutlich wird für Leister die Lage der Stadt zwischen Orient und Okzident, aber auch die gesamte Geschichte Bosniens. Sie begreift, wie politisch die Geschichte im Fall Bosniens und Sarajevos ist, wie sehr geprägt durch die verschiedenen ethnoreligiösen Gruppen und Narrative. Der Autor bedeutet ihr, wie wenig hilfreich da ein Denken in Dichotomien ist, und dass es Multikulti in Sarajewo kaum gegeben hat.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.06.2014Viele Fragen
Sarajevo: Tatort als Stadt
Zum Erinnerungsjahr 2014 hat Holm Sundhaussen, Doyen der deutschen Südosteuropahistoriker, ein Buch zur Geschichte Sarajevos - dieser über Jahrhunderte von Muslimen, Juden und Christen (orthodoxen wie katholischen) bevölkerten Stadt - vorgelegt. Der Autor kennt sein Fach, kann schreiben. Das weckt hohe Erwartungen, doch seine Darstellung enttäuscht nicht zuletzt deshalb, weil schon ihr Titel in die Irre führt. Er hat nur eine Geschichte Bosniens unter gelegentlicher Berücksichtigung Sarajevos vorgelegt.
Wer die Biographie einer Stadt schreibe, setze sich der Gefahr aus, "seinen Helden zu idealisieren", stellt Sundhaussen einleitend fest. Dieser Gefahr widersteht er. Sundhaussen verkitscht und mythologisiert die Stadt nicht, schreibt ihr nicht einen poetischen Genius Loci zu, den nur sehen kann, wer ihn sehen will und der deshalb beliebig ist. Stattdessen stellt er Fragen, die jeder stellen muss, der eine gute Stadtgeschichte schreiben will: "Dass Menschen eine Stadt prägen, versteht sich von selbst, aber geht es auch umgekehrt?" Seine Antwort lautet, dass sich das Bild mit dem Blick ändere: "Wer den Hass sucht, findet ihn, und wer das Miteinander sucht, findet es auch."
Solche Überlegungen zum Schreiben über Städte bilden den vielversprechenden Auftakt des Buches, doch dann kommt der Autor vom Wege ab und verirrt sich. Die Stadt gerät ihm aus dem Blick, er bekommt sie nicht zu fassen. Er schreibt klug und kenntnisreich über die sozioökonomische Bedeutung der Knabenlese im Osmanischen Reich, Konzeptionen des bosnischen Islam, die Identität bosnischer Muslime, christliche Bauernaufstände, Eigentumsverhältnisse in Bosniens Landwirtschaft, den österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867 oder die Parteienlandschaft im frühen Jugoslawien - aber wo bleibt Sarajevo?
Gewiss, die Geschichte einer Stadt spielt sich nicht im luftleeren Raum ab. Aber in einer Stadtgeschichte müssen allgemeine historische Entwicklungen stark verdichtet werden, um ausführlicher auf ihre Folgen für den Ort einzugehen, der beschrieben werden soll. Dieser Übergang von europäischer Geschichte und balkanischer Regionalhistorie zu den Spezifika Sarajevos gelingt Sundhaussen nur selten. Wo Details nötig wären, fehlen sie, und wo sie verzichtbar sind, sprießen sie - oder sie schweben ziellos im Text wie in einem Kapitel über das osmanische Sarajevo: "Der Preis für einen Sklaven bewegte sich Anfang des 16. Jahrhunderts in Sarajevo zwischen 1200 und 6600 Akce." Ja und? Was waren 6600 Akce wert, was konnte man sonst davon kaufen, wer hatte überhaupt so viel Geld? Wo befand sich der Sklavenmarkt von Sarajevo, wie ging es dort zu, woher kamen die Opfer, mit denen dort gehandelt wurde? Fragen, die im Buch nicht oder unzureichend beantwortet werden. Andere Passagen sind äußerst ausführlich, aber Sarajevo kommt dabei unter die Räder: Viel Regionalgeschichte, wenig Stadt.
Dabei ist es nicht so, dass der Leser nichts über Sarajevo erführe. Sundhaussen beschreibt ihre "Männergeschichte" (Frauen spielen bis heute nur eine Nebenrolle im öffentlichen Leben der Stadt) von ihren osmanischen Anfängen bis in die jüngste Vergangenheit. Er schildert, wie Sarajevo im Osmanischen Reich, gefördert durch "fromme Stiftungen", nach 1463 aufblühte bis zur Katastrophe von 1697, als die Truppen des Prinzen Eugen von Savoyen die Stadt plünderten und zerstörten. Einige Passagen lassen ahnen, was aus dem Buch hätte werden können, hätte Sundhaussen sich mehr auf die Stadt eingelassen. Die von Glockengeläut begleitete Einweihung einer orthodoxen Kirche im Jahr 1872, in der Abenddämmerung der osmanischen Herrschaft also, beschreibt er so: "An der Zeremonie sollen mehr als 10 000 Menschen teilgenommen haben . . . Zum ersten Mal konnte man das Christentum nun auch hören, und die Muslime trauten ihren Ohren nicht. Ein Geräusch wurde zur Machtfrage." Hier schließen sich Zeitzeugenberichte an, die Sarajevo für einen kurzen Moment vorstellbar und sichtbar werden lassen, als ziehe jemand einen Vorhang zur Seite. Doch solche Passagen sind zu selten.
Wer über eine Stadt schreibt, muss sie sich erwandern, ihre Topographie unter den Füßen spüren, muss morgens um sechs und nachts um eins auf ihre Geräusche achten, historische Telefonbücher, die vermischten Meldungen vergessener Lokalzeitungen oder zerbröselnde Gerichtsakten studieren. Das ist nicht poetische Quacksalberei, sondern das kleine Einmaleins des Historikers. Ohne solche Tauchgänge bleibt eine Stadtgeschichte tot wie der Paragraph eines gebrochenen Friedensvertrages. Beim Schreiben muss der Kopf kühl sein, nicht bei der Recherche. Der britische Historiker Mark Mazower hat in seinem meisterhaften Thessaloniki-Porträt "Stadt der Geister" vorgemacht, wie es geht. Sarajevo, der weltberühmte Tatort des Attentats vom 28. Juni 1914, wartet einstweilen weiter auf einen Porträtisten.
MICHAEL MARTENS
Holm Sundhaussen: Sarajevo. Die Geschichte einer Stadt. Böhlau Verlag, Wien 2014. 409 S., 34,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sarajevo: Tatort als Stadt
Zum Erinnerungsjahr 2014 hat Holm Sundhaussen, Doyen der deutschen Südosteuropahistoriker, ein Buch zur Geschichte Sarajevos - dieser über Jahrhunderte von Muslimen, Juden und Christen (orthodoxen wie katholischen) bevölkerten Stadt - vorgelegt. Der Autor kennt sein Fach, kann schreiben. Das weckt hohe Erwartungen, doch seine Darstellung enttäuscht nicht zuletzt deshalb, weil schon ihr Titel in die Irre führt. Er hat nur eine Geschichte Bosniens unter gelegentlicher Berücksichtigung Sarajevos vorgelegt.
Wer die Biographie einer Stadt schreibe, setze sich der Gefahr aus, "seinen Helden zu idealisieren", stellt Sundhaussen einleitend fest. Dieser Gefahr widersteht er. Sundhaussen verkitscht und mythologisiert die Stadt nicht, schreibt ihr nicht einen poetischen Genius Loci zu, den nur sehen kann, wer ihn sehen will und der deshalb beliebig ist. Stattdessen stellt er Fragen, die jeder stellen muss, der eine gute Stadtgeschichte schreiben will: "Dass Menschen eine Stadt prägen, versteht sich von selbst, aber geht es auch umgekehrt?" Seine Antwort lautet, dass sich das Bild mit dem Blick ändere: "Wer den Hass sucht, findet ihn, und wer das Miteinander sucht, findet es auch."
Solche Überlegungen zum Schreiben über Städte bilden den vielversprechenden Auftakt des Buches, doch dann kommt der Autor vom Wege ab und verirrt sich. Die Stadt gerät ihm aus dem Blick, er bekommt sie nicht zu fassen. Er schreibt klug und kenntnisreich über die sozioökonomische Bedeutung der Knabenlese im Osmanischen Reich, Konzeptionen des bosnischen Islam, die Identität bosnischer Muslime, christliche Bauernaufstände, Eigentumsverhältnisse in Bosniens Landwirtschaft, den österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867 oder die Parteienlandschaft im frühen Jugoslawien - aber wo bleibt Sarajevo?
Gewiss, die Geschichte einer Stadt spielt sich nicht im luftleeren Raum ab. Aber in einer Stadtgeschichte müssen allgemeine historische Entwicklungen stark verdichtet werden, um ausführlicher auf ihre Folgen für den Ort einzugehen, der beschrieben werden soll. Dieser Übergang von europäischer Geschichte und balkanischer Regionalhistorie zu den Spezifika Sarajevos gelingt Sundhaussen nur selten. Wo Details nötig wären, fehlen sie, und wo sie verzichtbar sind, sprießen sie - oder sie schweben ziellos im Text wie in einem Kapitel über das osmanische Sarajevo: "Der Preis für einen Sklaven bewegte sich Anfang des 16. Jahrhunderts in Sarajevo zwischen 1200 und 6600 Akce." Ja und? Was waren 6600 Akce wert, was konnte man sonst davon kaufen, wer hatte überhaupt so viel Geld? Wo befand sich der Sklavenmarkt von Sarajevo, wie ging es dort zu, woher kamen die Opfer, mit denen dort gehandelt wurde? Fragen, die im Buch nicht oder unzureichend beantwortet werden. Andere Passagen sind äußerst ausführlich, aber Sarajevo kommt dabei unter die Räder: Viel Regionalgeschichte, wenig Stadt.
Dabei ist es nicht so, dass der Leser nichts über Sarajevo erführe. Sundhaussen beschreibt ihre "Männergeschichte" (Frauen spielen bis heute nur eine Nebenrolle im öffentlichen Leben der Stadt) von ihren osmanischen Anfängen bis in die jüngste Vergangenheit. Er schildert, wie Sarajevo im Osmanischen Reich, gefördert durch "fromme Stiftungen", nach 1463 aufblühte bis zur Katastrophe von 1697, als die Truppen des Prinzen Eugen von Savoyen die Stadt plünderten und zerstörten. Einige Passagen lassen ahnen, was aus dem Buch hätte werden können, hätte Sundhaussen sich mehr auf die Stadt eingelassen. Die von Glockengeläut begleitete Einweihung einer orthodoxen Kirche im Jahr 1872, in der Abenddämmerung der osmanischen Herrschaft also, beschreibt er so: "An der Zeremonie sollen mehr als 10 000 Menschen teilgenommen haben . . . Zum ersten Mal konnte man das Christentum nun auch hören, und die Muslime trauten ihren Ohren nicht. Ein Geräusch wurde zur Machtfrage." Hier schließen sich Zeitzeugenberichte an, die Sarajevo für einen kurzen Moment vorstellbar und sichtbar werden lassen, als ziehe jemand einen Vorhang zur Seite. Doch solche Passagen sind zu selten.
Wer über eine Stadt schreibt, muss sie sich erwandern, ihre Topographie unter den Füßen spüren, muss morgens um sechs und nachts um eins auf ihre Geräusche achten, historische Telefonbücher, die vermischten Meldungen vergessener Lokalzeitungen oder zerbröselnde Gerichtsakten studieren. Das ist nicht poetische Quacksalberei, sondern das kleine Einmaleins des Historikers. Ohne solche Tauchgänge bleibt eine Stadtgeschichte tot wie der Paragraph eines gebrochenen Friedensvertrages. Beim Schreiben muss der Kopf kühl sein, nicht bei der Recherche. Der britische Historiker Mark Mazower hat in seinem meisterhaften Thessaloniki-Porträt "Stadt der Geister" vorgemacht, wie es geht. Sarajevo, der weltberühmte Tatort des Attentats vom 28. Juni 1914, wartet einstweilen weiter auf einen Porträtisten.
MICHAEL MARTENS
Holm Sundhaussen: Sarajevo. Die Geschichte einer Stadt. Böhlau Verlag, Wien 2014. 409 S., 34,90 [Euro].
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